Das Rätsel der Genitalien

Wo sind die Genitalien in unserem Gehirn verortet?

Das menschliche Gehirn ist mit Sicherheit das komplexeste Organ in unserem Körper. Allen, die diesen Blog hier lesen ist wahrscheinlich klar, dass rund um das Gehirn noch zahlreiche offene Fragen bestehen. Wie kommt das menschliche Bewusstsein zustande? Was genau sind die Funktionen des Schlafs? Wie speichern wir Erinnerungen ab? Was ist die Ursache für psychische Erkrankungen zustande? Für all diese Fragen gibt es Erklärungsansätze, oft solche, die miteinander konkurrieren, keinen, der abschließende Klarheit bringt.

Allerdings dachte Ich bis vor kurzem, dass wenigstens die grundlegendsten Funktionen unseres Gehirns mittlerweile vollständig erforscht seien. In allen Vorlesungen, die Ich jemals zu diesem Thema besuchte, bekam Ich den Eindruck, dass beispielsweise ziemlich klar sei, wie unser Tastsinn und unser Bewegungsapparat im Hirn verschaltet sind. Doch wie sich herausstellt, finden sich sogar bei einem so grundlegenden Thema wie der Repräsentation unseres Körpers im Gehirn noch wissenschaftliche Kontroversen!

Die Sinnessysteme

Wer schon einmal in ein neurowissenschaftliches Lehrbuch hineingeschaut hat, dem sind ganz ohne Zweifel die Begriffe visueller und auditorischer Kortex über den Weg gelaufen. Dies sind die Regionen der Hirnrinde, in denen visuelle oder klangliche Reize verarbeitet werden. Die Sinnesorgane, etwa die Augen oder Ohren, transformieren die Umweltreize zu elektrischen Signalen, die dann auf dem Weg ins Gehirn so bearbeitet werden, dass wir sie zu einem kohärenten Bild unserer Umgebung zusammensetzen können.

Eine weitere Hirnregion, die Umweltreize verarbeitet, ist der sogenannte primäre somatosensorische Kortex. Hier kommen die Signale der Tastzellen in unserer Haut an. Diese sind nämlich über unsere gesamte Körperoberfläche verteilt und senden ihre Signale an zentrale Nervenbahnen in der Wirbelsäule, von wo aus sie dann ins Gehirn gelangen.

Ein Prinzip, welches die beschriebenen sensorischen Hirnareale eint, ist, dass sie alle in ihrer Anordnung dem Sinnesorgan folgen, mit dem sie verbunden sind. Im visuellen Kortex etwa kommen die Signale aus Sehzellen, die im Auge nebeneinander liegen auch bei nebeneinanderliegenden Hirnzellen an. Man nennt dies nach unserer Netzhaut, der Retina, auch Retinotopie. Ein ähnliches Prinzip gibt es auch im Hörsystem, hier spricht man dann von Tonotopie.

Für unseren Tastsinn gilt dieses Prinzip ebenso; Tastsignale von Zellen in unserem Mittelfinger finden sich im Hirn gleich neben den Signalen aus dem Zeigefinger der gleichen Hand wieder. Die Signale aus dem Bereich der Kniescheiben werden zwischen denen aus den Füßen und denen aus dem Oberschenkel verarbeitet. Es entsteht also ein Abbild unseres Körpers auf der Hirnoberfläche. Dieses Prinzip nennt man Somatotopie. Eine Ausnahme bilden hier Eingeweide, Rachen und Gesicht, die ebenfalls Tastzellen haben, welche aber bei der Verarbeitung im Hirn aber eigene Abschnitte im somatosensorischen Kortex bekommen.

Der Homunculus

Wer nun in dem neurowissenschaftlichen Lehrbuch seiner Wahl weit genug geblättert hat, um das Kapitel zum Tastsinn zu erreichen, der wird mit Sicherheit diesem freundlichen Fabelwesen begegnet sein:

Der sensorische Homunculus. Abbildung von Mpj29

Darf ich vorstellen: der sensorische Homunculus! Dieser kuriose Zeitgenosse ist eine klassische Darstellung der Somatotopie. Zugegeben, er sieht etwas seltsam aus, aber das hat einen guten Grund. Sein Gesicht sowie seine Hände und Füße sind so groß, um darzustellen, dass der Anteil der Hirnrinde, der für ein bestimmtes Körperteil zuständig ist, nicht unbedingt proportional zu der Größe dieses Körperteiles ist. In Fingern, den Handflächen oder dem Gesicht haben wir natürlich viel mehr Tastzellen als etwa im Oberarm oder an den Waden. Wir fühlen und tasten mit den Händen ja sehr viel genauer als mit dem Knie. Dementsprechend ist natürlich auch die Menge an Hirnzellen, die zur Verarbeitung der Signale aus diesen Bereichen benötigt werden größer. Diese Bereiche nehmen also mehr Hirnoberfläche ein und verleihen deshalb dem Homunculus sein seltsames Erscheinungsbild.

Dennoch ist die Anordnung der Körperteile beim Homunculus so wie bei uns auch. Der Kopf sitzt auf dem Hals, dieser wiederum sitzt auf dem Torso, dem schließlich die Beine folgen. Das ist das Prinzip der Somatotopie! Dies wird dann klar, wenn man den Homunculus auf die Hirnrinde aufzeichnet. Diese direkte Darstellung der Neuroanatomie sieht dann ungefähr so aus:

Der sensorische Homunculus auf dem Kortex. Abbildung von Wikimedia.org

Dieses Bild ist mittlerweile fast 90 Jahre alt [1] und findet sich bis heute in quasi jedem Lehrbuch zum Thema. Schaut man jedoch genauer hin, dann wird einem etwas Seltsames auffallen. Von den zuvor erwähnten Ausnahmen einmal abgesehen, ist die Somatotopie ja einfach zu erkennen. Finger, Handinnenfläche, Unterarm, Oberarm bis wir schließlich bei den Zehen auf der Innenseite der beiden Hirnhälften angekommen sind. Allerdings sind wir noch nicht fertig, denn auf der Innenseite des Hirns, noch tiefer gelegen als die Zehen, finden wir ein bisher noch fehlendes Körperteil: den Penis.

Was macht der denn da unten?

Dass wir an dieser Stelle des Homunculus nur einen Penis sehen und keine Vulva, liegt wahrscheinlich daran, dass die Darstellung sehr alt ist. Die medizinische Forschung hat historisch und teilweise auch bis heute eine unverhältnismäßige Fokussierung auf Männer an den Tag gelegt. Der Penis steht hier aber grundsätzlich für menschliche Genitalien. Allerdings ist die Darstellung sonst mit voller Absicht so gezeichnet worden. Sexualorgane werden laut dieser Lehrmetapher im menschlichen Gehirn unter den Füßen repräsentiert.

Wem das etwas seltsam vorkommt, der ist damit nicht allein. Denn auch in den Neurowissenschaften wurde diese Darstellung in den letzten Jahrzehnten hinterfragt. Schaut man sich einmal an, wie die frühen Hirnforscher überhaupt auf diese Idee kamen, so wirft dies sofort einige Zweifel an der Darstellung auf. Der sensorische Homunculus geht auf die Forschung der Neurologen Wilder Penfield und Edwin Boldrey zurück [2]. In ihren pionierhaften Experimenten sammelten sie Daten von Patienten, die sich unter lokaler Anästhesie Hirnoperationen unterzogen. Im Zuge ihrer Behandlung stimulierten die Forscher verschiedene Regionen auf der Hirnoberfläche direkt mit Elektroden und dokumentierten, in welchen Körperteilen die Patienten daraufhin ein Kribbeln verspürten. Zudem inkorporierten Penfield und Kollegen auch frühere Ergebnisse und entwarfen so den Homunculus wie wir ihn heute kennen.

Aus einer dieser früheren Klassifikationen scheint auch die seltsame Position des Penis zu stammen. In einer bahnbrechenden Untersuchung im Jahre 1950 sammelten Penfield und sein Kollege Theodore Rasmussen Daten aus 400 Operationen und erschufen so die bis dato umfassendste Untersuchung des sensorischen Kortex [3]. Hier lagen die Genitalien nicht unter Füßen, sondern darüber. Allerdings berichteten nur drei der Befragten irgendeine Empfindung in den Genitalien. Die Datenlage für die Verortung des Homunculuspenis war also dünn. So dünn, dass Penfield und Kollegen beschlossen, die frühere Darstellung nicht zu korrigieren. Dennoch waren sie keineswegs überzeugt von diesem Aspekt der Darstellung und spekulierten, dass die Penisplatzierung eher über den Füßen liegen sollte [2]. Warum genau so wenige der Befragten von Empfindungen in den Genitalien berichteten ist unklar, allerdings spekulieren heute einige Forschende, dass dies mit dem Schamempfinden der Patienten zu tun haben könnte.

Sehen wir nochmal genauer hin!

 In den 90er Jahren wurde durch die Erfindung und gesteigerte Zugänglichkeit neuer Hirnscan-Technologien wie der Positron-Emissions-Tomografie (PET) und der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT) eine ganze Welle an neuer Forschung losgetreten. Erstmals war es möglich, sich in Echtzeit die Aktivität des menschlichen Gehirns anzusehen. Ein großer Teil dieser Forschung beschäftigte sich mit der funktionellen Anatomie des menschlichen Gehirns. Im Klartext versuchte man also herauszufinden, welche Hirnregion bei welchen Aufgaben mitwirkt.

Im Rahmen dieser Forschungswelle überprüften und verbesserten viele Forschende auch unsere Erkenntnisse über den sensorischen Kortex. Einige von Ihnen waren ebenfalls über den mysteriös platzierten Penis verwundert und beschlossen der Sache auf den Grund zu gehen.

Zahnbürsten in Hirnscanner

Einer dieser verwunderten Hirnforscher war der Frankfurter Neurologe Dr. Christian Kell. Auch er stieß auf die Darstellung des sensorischen Homunculus und sah dank moderner Hirnscan-Methoden die Zeit gekommen, um dem Homunculus den Penis unter den Füßen wegzuziehen (Credit für diesen Witz geht an die geniale Aaliyah L).

Zu diesem Zweck warfen Kell und Kollegen [4] den Tomografen der neurologischen Abteilung in der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main in Gang, platzierten die willigen Probanden in der Röhre und verfolgten die Blutströme im Gehirn der Teilnehmer, während sie sanft mit einer Zahnbürste über die linke Seite des Penisschafts und der Vorhaut strichen. Alle besorgten Lesenden kann Ich an dieser Stelle beruhigen: Es handelte sich um eine ultra-senstive Zahnbürste der Marke Dr. Best. Die weiche Textur der Borsten stellte die Gesundheit aller Teilnehmenden sicher und nur einer der acht Teilnehmer berichtete mildes Unbehagen bei der Stimulation.

Da es sich um eine Studie zur Somatotopie handelte, wurden natürlich auch Körperteile unterhalb (in diesem Falle der linke große Zeh) und oberhalb (der Bauch) mit der Zahnbürste stimuliert. So hofften die Forschenden, die Repräsentation der verschiedenen Areale im Gehirn der Teilnehmer in Bezug zueinander setzen zu können. Die Ergebnisse erschienen eindeutig. Wie erwartet variierte die genaue Position der Körperteile von Teilnehmer zu Teilnehmer leicht. Grundsätzlich zeigten sie aber, dass die Region auf der Hirnoberfläche, die durch die Stimulation des Penis aktiviert wurde, zwischen der Repräsentation des Bauchs und der der Zehen liegt. Die somatotopische Logik wurde also beibehalten! Zum Ende des Papers präsentieren Kell et.al sogar eine erneuerte Version des Homuculus, der seinen Penis stolz zwischen den Beinen trägt. Man findet diese Darstellung hier in Abbildung Nummer 3!

Ist das letzte Wort gesprochen?

Doch ganz so ohne Weiteres konnten Kell und Co. den verdrehten Homunculus doch nicht beerdigen. Schon in ihrer Publikation aus dem Jahre 2005 merken sie an, dass einige Studien aus den 90ern und frühen 2000er Jahren, in denen der Penisnerv direkt stimuliert wurde, zu gegensätzlichen Ergebnissen kamen. Hier wurde nämlich tatsächlich Hirnaktivität gemessen, die der ursprünglichen Darstellung des Homunculus nahekam und eine Repräsentation der Genitalien an der Hirninnenwand abzubilden schienen.

Kell et.al vermuteten, dass diese Ergebnisse durch die ungenaueren früheren Messmethoden und den starken Stimulus zustande kamen. Doch seitdem wurde das Experiment aus Frankfurt mehrfach wiederholt. Auch wurden in der Zwischenzeit weibliche Genitalien mit einbezogen. Mittlerweile sehen wir auf fast 20 Jahre Hirnscan-Forschung zur Genital-Repräsentation zurück, die überaschenderweise ein gespaltenes Bild aufweist. Wo und wie genau die Genitalien repräsentiert sind, ob an der mittleren Innenseite der beiden Hirnhälften oder außen ist bis heute strittig!

Die Genital-Kontroverse

Die aktuellste Zusammenfassung dieser Forschungsergebnisse findet sich in einer systematischen Review aus dem Jahre 2015 [5]. Hier wurden 23 Studien gesammelt, in welchen mit verschiedenen modernen Hirnscanmethoden die Repräsentation menschlicher Genitalien (sowohl der Penis, als auch Klitoris und Vagina) im Hirn untersucht wurden. Die Forschenden fanden dabei Studien, in denen die Genitalien auf sehr unterschiedliche Weise stimuliert wurden. Von leichter, nicht sexuell erregender Berührung, über Masturbation, bis hin zu direkter elektrischer Stimulation des Penis- oder Klitoral-Nervs war alles dabei.

Und siehe da, die zwei Areale, sowohl das alte als auch das von Kell und Kollegen beschriebene wurden in verschiedenen Studien beschrieben. Eine Erklärung, die die Forschenden für diese Widersprüchlichkeit heranziehen, basiert auf den verschiedenen Stimulationsmethoden. Es wird spekuliert, dass nicht-sexuelle Stimulation, wie etwa durch die Zahnbürste, andere Sinneszellen aktiviert als sexuell-erregende Stimulation. Im ersten Falle sind es eher oberflächliche Tastzellen, während im zweiten Szenario auch tiefer gelegene Rezeptoren aktiviert werden.

Dies könnte die Separate Hirnaktivität erklären. Die Zahnbürste aktiviert die Außenseite des Hirns, die sexuellen Reize die Innenseite. Gegen diese Hypothese spricht allerdings, dass die elektrische Stimulation des Nervs, der ja Signale aus den oberflächlichen und den inneren Sinneszellen transportiert, dann beide Areale aktivieren müsste. Dies ist aber nicht der Fall. Hier war stets nur eines der Areale auf dem Scan aktiv (übrigens nicht immer dasselbe). Die Forschenden empfehlen an dieser Stelle weitere Studien. Am besten solche, die sexuelle und nicht-sexuelle Stimulation direkt vergleichen. Unklar ist zudem, ob verschiedene Teile der Genitalien, etwa der Schaft und die Eichel an verschiedenen Stellen im Gehirn zu finden sind. Dafür spräche, dass in verschiedenen Teilen der Geschlechtsorgane auch verschiedene Arten an Tastzellen zu finden sind [5].

Der neue Homunculus?

Die Resultate aus der ursprünglichen Studie am Frankfurter Uniklinikum sind also durchaus aussagekräftig. Simple nicht-sexuelle Stimulation der Haut scheint im Gehirn die somatotopische Logik nicht zu verletzen. Wir empfangen die Signale der Genitalien zwischen denen der Schenkel und nach denen aus der Bauchregion. Diese Ergebnisse wurden sogar mittlerweile mit einem höher auflösenden Hirnscanner (der im jahre 2005 noch nicht entwickelt war) repliziert und bestätigt. Das gilt sowohl bei Männern [6] als auch bei Frauen [7]. Kell und Kollegen hatten also recht: der alte Homunculus braucht dringend ein Update!

Dennoch bildet der neue Homunculus allem Anschein nach nicht die ganze Komplexität des Themas ab. Gerade wenn es nicht nur um simple Tastreize auf der Haut geht und sexuelle Erregung mit ins Spiel kommt, wird die Analyse der Hirnaktivität um einiges komplizierter. In diesen Situationen kommen weitere Areale hinzu; die Insula etwa, die für emotionale Reize und generelles Körperempfinden zuständig ist und möglicherweise eben auch andere Sinnesareale an der Hirninnenseite, die dazu dienen, andere Tastzellen zu verarbeiten.

Auf unserem momentanen Forschungsstand ist das Rätsel der Genitalien im Hirn noch nicht abschließend geklärt. Einige verwirrende Ergebnisse stehen weiterhin im Raum. Darüber hinaus könnte es durchaus sein, dass unser Sexualverhalten die Repräsentation der Genitalien im Gehirn verändert, schließlich passen sich unsere Hirne ständig ihrer Umgebung an [7]. Einer so komplexen Situation wird der Homunculus als Lehr-Metapher wahrscheinlich nie gerecht werden. Dennoch könnte er in zukünftigen Lehrbüchern wenigstens den Penis (und die Vulva!) am rechten Fleck tragen.

Literatur

[1]   Catani M.: A little man of some importance. Brain : a journal of neurology 140, 3055–3061 (2017).

[2]   Penfield W., Boldrey E.: Somatic Motor and Sensory Representation in the Cerebral Cortex of Man as Studied by Electrical Stimulation. Brain : a journal of neurology 60, 389–443 (1937).

[3]   Penfield W., Rasmussen T.: The Cerebral Cortex of Man. The Macmillan Company 1950.

[4]   Kell C. A., Kriegstein K. von, Rösler A., Kleinschmidt A., Laufs H.: The sensory cortical representation of the human penis: revisiting somatotopy in the male homunculus. The Journal of neuroscience : the official journal of the Society for Neuroscience 25, 5984–5987 (2005).

[5]   Cazala F., Vienney N., Stoléru S.: The cortical sensory representation of genitalia in women and men: a systematic review. Socioaffective neuroscience & psychology 5, 26428 (2015).

[6]   Luijten S. P. R., Groenendijk I. M., Holstege J. C., Zeeuw C. I. de, van der Zwaag W., Blok B. F. M.: Single subject and group whole-brain fMRI mapping of male genital sensation at 7 Tesla. Scientific reports 10, 2487 (2020).

[7]   Knop A. J. J., Spengler S., Bogler C., Forster C., Brecht M., Haynes J.-D., Heim C.: Sensory-Tactile Functional Mapping and Use-Associated Structural Variation of the Human Female Genital Representation Field. The Journal of neuroscience : the official journal of the Society for Neuroscience 42, 1131–1140 (2022).

Titelbild von Pixabay.com

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Mein Name ist Florian Walter und ich studiere Neurowissenschaften im Master an der Uni Frankfurt. Während meines Bachelors in Psychologie und in meinen klinischen Praktika habe Ich ein großes Interesse an Fragestellungen rund um das Gehirn entwickelt. Am meisten interessieren mich die Bereiche der Psychopharmakologie und der klinischen Neurowissenschaft. Ich hoffe über diesen Blog etwas von meiner Begeisterung mit euch teilen zu können!

6 Kommentare

  1. Ich mache gerade Schrumpfköpfe – das heißt, ich scheitere mal wieder und immer noch beim Versuch, Zeichnen zu lernen, wie schon seit Jahren, und sehe zu, wie mein Hirn sich jämmerlich verrenkt, um neue Arten zu sehen zu lernen. Und dabei bemerke ich eine optische Täuschung – wenn ich mir ein Gesicht ansehe, empfinde ich den Kopf als viel größer als er im Verhältnis zum Körper ist. Wenn ich dann herauszoome und mir die Größenverhältnisse des Gesamtkörpers ansehe, scheint er tatsächlich vor meinen Augen zu schrumpfen.

    Ich habe sehr spät gemerkt, dass meine Körperwahrnehmung genauso ist, wie meine Welt- und Zeitwahrnehmung – keine Proportionen, keine festen Verhältnisse, alles schwimmt, ändert die Größe, puzzelt sich immer wieder neu zusammen zu nebligen, unscharfen, stets fließenden Formen. Im Moment konzentriere ich mich, um meine rechte Gesichtshälfte festzuhalten, denn mein Hirn scheint die sehr lange übersehen zu haben und neigt, sie auszublenden. Mein Homunkulus morpht ständig, zurzeit habe ich einen riesigen Kopf, von dem alles andere klein und fern herabhängt, ich war aber auch schon mal ein Haifisch. In dem Sinne, dass mein Hirn darauf bestand, dass ich einer bin, und dann stets daran scheiterte, den Fisch-Homunkulus mit den realen Sinneseindrücken des Körpers in Übereinstimmung zu bringen – ich brauche nur die Augen zu schließen, schon weiß ich nicht mehr, wie ich aussehe und welche Proportionen ich habe.

    Zeichnen ist überhaupt eine sehr unangenehme Erfahrung, denn ich sehe und bin gleichzeitig blind. Da ist irgendwo ein Teil von mir, dem es herzlich egal ist, was meine Augen sehen, er hockt im Dunkeln und versucht, sich zu merken, was die Hand macht – falls sich das verallgemeinern ließe, würde das bedeuten, das Sehzentrum bewegt die Hand, die Handbewegungen erzeugen Bilder in einer inneren VR, die mit dem Auge nichts zu tun hat, und erst von dort aus werden sie gespeichert. Es sei denn, die direkte Kommunikation ist nur bei mir stark gestört, sodass das Gehirn diesen Umweg gehen muss.

    Was ich hier interessant finde, sind diverse Mythen vom zweiten Ich, von einem Schatten, von einem Astralkörper. Kann sein, dass der Homunkulus im Hirn sich für den echten Körper hält, aber merkt, dass er nicht ganz mit den Signalen des echten Körpers übereinstimmt, spürt, dass da etwas Anderes ist, das durch das Universum drum herum reist. Und diverse Mystiker haben das Pferd von hinten aufgezäumt – die vom Hirn erzeugte VR, die wir bewusst wahrnehmen, für die physische Realität gehalten, und die Signale des realen Körpers, die unverarbeiteten, ungefilterten Sinneseindrücke, die Interferenzen, als etwas Metaphysisches interpretiert – Seele und Körper vertauscht, denn für unser Hirn sind der physische Körper, der sich durch die physische Welt bewegt, ein Geist, der in einer Geisterwelt lebt, welche mehr enthält, als uns unser Verstand je träumen lassen kann, denn er wird durch seine dürftige Rechenkapazität gewaltig geblendet und eingeschränkt.

    Dann wäre da die Frage, ob so ein Seelenzwilling wirklich als Zwilling entsteht – vielleicht entwickeln sich Hirn und Körper ja tatsächlich als siamesische Zwillinge, die die gleiche DNA umsetzen, einer innerhalb des anderen, dann spezialisieren sie sich.

    Ich denke auch an diverse Chakras und Körperteile, die von Glaubenssystemen unterstellt werden, sich aber nicht am physischen Körper finden, und dennoch kann eine Akupunktur-Nadel dort Körperreaktionen hervorrufen als ob. Kann es sein, dass der Homunkulus einfach anatomisch und physiologisch vom echten Körper abweist, und wenn mir einer in den Hintern tritt, stimuliert ein nicht existentes, doch auf der Körperkarte fälschlicherweise verzeichnetes Organ namens Arschbacken-Chakra mein Denkvermögen?

    Und dann wären wir noch wieder bei meinem Haifisch und Plastizität: Wir waren ja schon viele Viecher im Verlauf der Evolution, wenn man die als ein Biest sieht, das sich vom Fisch zum Menschen morpht, wie beim Intro von „Es war einmal der Mensch“, muss das Hirn das Ganze mitgemacht haben, ohne ein einziges Mal ein Foto von sich selbst gesehen zu haben. Ich kann mir eine große Anzahl von Körpern vorstellen, die sich mit so einem Homunkulus-Rig bewegen ließe, manche haben sehr kurze, dicke Arme, laufen auf zehn überlangen Fingern wie auf Spinnenbeinen, und die Beine samt Becken sind bis ans Kinn gekrümmt, sodass sie aussehen wie Kiefer eines Hirschkäfers, nur sind die Füße zu merkwürdigen Händen verformt, und aus Hinterbacken und Rückenmuskeln sind Flügel geworden. Kann es sein, dass unsere DNA nur die Hauptelemente gespeichert hat – Kopf, Rumpf, Arme, Beine, Hände, Füße usw. – und der Körper erst aus Erfahrung, durch Lernen herausfindet, wie sie in diesem Leben zusammenpassen?

    Ist wichtig, wenn wir mal per Telepräsenz Avatare steuern sollten. Ich kann als Mensch nicht in die Meerestiefen vordringen oder auf dem Mond leben, aber ich kann zum Homunkulus werden, der per Funk einen Körper steuert. Und wenn ich dann Stunden, Tage, Monate gefühlt ein Körper bin, der mit meinem anatomisch nicht viel zu tun hat, wie verändert sich dann mein Gehirn? Kann ich überhaupt zurück finden?

    Wenn ich auf einen anderen Planeten auswandere, ziehe ich mir nicht bloß einen Raumanzug an – ich trage einen Körper. Womöglich werden wir dann schon als Föten in so ein Teil hineingesteckt und werden nie erfahren, wie ein Mensch im Original ausgesehen hat, weil der Körper beim Hineinwachsen aufgelöst, verformt wird, Natürliches mit Künstlichem verschmilzt, dass man die Ursprungsform kaum erraten kann. Wenn ich mir die Realitäten und Fantasien in unseren Köpfen so ansehe, wird das wohl nur die logische Fortsetzung von etwas sein, was die Evolution schon ewig macht.

    Und da stellt sich wiederum die Frage, ob ich dem Homunkulus künstliche Module hinzufügen kann. Acht Arme, Flügel, einen Propeller, ein paar Räder, Raketentriebwerke, einen Schwarm WLAN-Moskito-Drohnen. Wenn ich das schon beim Fötus mache, werden sie sich ganz selbstverständlich mit den natürlichen Modulen vernetzen? Und wie ist es beim Erwachsenen? Kann ich lernen, einen dritten Arm zu spüren, wie es ein Gelähmter tut, der mit viel Übung die Kontrolle über seine Zehen wiedererlangt?

    Wenn es so viele Probleme gibt, Genitalien auf dem Homunkulus zu verorten, würde ich mal nachschauen, ob wir es mit einer Spezies zu tun haben, die mehr als nur eine Art Genitalien zur Verfügung hat. Vielleicht sogar kompatible, sie könnte sich in Geschlechter aufgeteilt haben und die sexuelle Fortpflanzung praktizieren. Die Hirne der Menschen scheinen, vom Bauplan her, unisex zu sein. Und wenn einem dann Genitalien wachsen, guckt man einfach nach, mit welchem Modell man beglückt wurde, und vernetzt es mit der universellen Homunkulus-Schnittstelle per Plug’n’Play, wobei der Reality Check die neurale Verkabelung so umleitet, dass sich dann beim Homunkulus wölbt, eindellt und baumelt, was es das auch beim Astralkörper tut.

    Wie man seinen Körper empfindet, entscheidet ja nicht der Homunkulus allein. Die Details, die Entfernungen und Größen werden wohl durch die Geschwindigkeit der Impulse und Länge der Nervenleitungen simuliert: Je schneller ein Impuls durch die Hand des Homunkulus läuft, desto kleiner dürfte die Hand relativ zum Körper wahrgenommen werden. Und wenn was schiefläuft, wird meine Nase mit der Genitalregion vernetzt, und ich reibe sie mir als Teenager so was von wund. Oder habe das merkwürdige Gefühl, dass sie zwischen zwei riesigen, rhythmisch schwingenden Wangen zu Boden baumelt, und muss mir ständig ins Gesicht fassen, um mich zu erinnern, dass das nicht so ist.

    Das Hirn ist ein Haufen sehr wirre, sehr improvisierte Elektrik und dementsprechend schaut das Resultat auch aus. Zum Beispiel ist auf dem Homunkulus gar nicht euer zweiter Kopf eingezeichnet, und euer Hirn filtert ihn heraus, sodass auch die Zweitköpfe anderer Leute nicht in eurer Bewusstseins-Matrix auftauchen. Die sieht man nur, wenn man sich komische Pillen rein pfeift, die mysteriöse Typen auf der Flucht vor dem Gesetz im Internet verticken.

  2. Sofern man annehmen mag, das Reproduktion eine der primären Funktionen von Leben ist, erscheint es nicht unwahrscheinlich, das die Somatotopie auf diesem basiert und daher die Geschlechtsteile, sozusagen als Basis, unter allen anderen Körperteilen liegen. Interessant wäre jetzt, ob wir es mit einer schleichenden Entwicklung aufgrund von Zivilisation zu tun haben, in der mehr und mehr die Reproduktion in den Hintergrund gedrängt wird und das Bild des Körpers sozusagen an die Prioritäten angepasst wird.

  3. Es gab vor langer Zeit mal eine Hypothese zu den Grundlagen der alten chinesischen Tradition des (sehr schmerzhaften) Abbindens der Füße bei Frauen höherer Gesellschaftsschichten. Vermutet wurde folgender Zusammenhang:

    Die durch den Schmerz erhöhte Aufmerksamkeit für die kleinsten Bewegungen führt zu einer Ausdehnung des Cortexbereiches für den Vorderfuß, bis es zur Überlappung mit dem Genital-Cortex kommt. Dadurch wird beides zugleich angesteuert bzw. wahrgenommen (dasselbe Prinzip wie bei übertrainierten Musikern, bei denen die Cortices einzelner Finger überlappen und sich stören). Das Resultat ist eine dauersexualisierte Kirschblüte, die außerdem nicht weglaufen kann, aber dafür rund um die Uhr versorgt werden muss.

    Es spielen sicher weitere Faktoren hier mit:
    – Distinktionsmerkmal (wer ihre Füßen nicht zum längeren laufen braucht, und dies durch permanente Verkrüppelung demonstriert, ist mit Sicherheit ständig von Dienstboten umgeben), – Runaway Selection (ein Proxy für Status rutscht in eine Überbietungsspirale, bis niemand es sich leisten kann, daraus auszubrechen; das Konzept kommt ursprünglich aus der Evolutionsbiologie)
    – Extrem patriarchale Gesellschaftsstruktur
    – …

    Gibt es neurowissenschaftliche Updates zu dieser Hypothese?

  4. Schön geschrieben! Ich habe damals in Frankfurt Christian Kell kennengelernt und wir waren auch mal zusammen mit einer größeren Gruppe auf der Human Brain Mapping-Konferenz, damals in Florenz. Schöne Erinnerung.

    Ich war aber etwas zu spät am Brain Imaging Center in Frankfurt, sonst wäre es gut möglich gewesen, dass man mich mit der Zahnbürste im Scanner gekitzelt hätte. (Sofern man mich nicht als Linkshänder ausgeschlossen hätte.)

    P.S. Und ist das nicht der Homunkulus von einer Künstlerin aus dem familiären Umfeld von Prof. Christian Elger (Epileptologie) an der UK Bonn, wo ich ab 2006 geforscht habe?

    • Es freut mich, dass ihnen der Beitrag gefallen hat! In der originalen Untersuchung wurden tatsächlich sowohl Rechts- als auch Linkshänder inkludiert, Sie hätten also gute Chancen gehabt 😉
      Leider war aus der Beschreibung der Fotografie nicht zu erkennen, wer diese Skulptur hergestellt hat. Sie könnten also durchaus Recht haben!

      Beste grüße,
      Florian Walter

      • Ah, gut recherchiert! Dann hätte die “Ich bin aber Linkshänder”-Ausrede nicht so gut funktioniert, wohl weil es um Körperwahrnehmung geht und nicht so eine abstrakte kognitive Funktion. Und wer lässt sich nicht mal gerne mit der Zahnbürste im Scanner kitzeln?

        P.S. Wir waren als SciLogs-Autoren früher immer per Du. Aber leider ist das letzte Bloggertreffen, wo man einander mal sprechen kann, ja nun auch schon wieder… unglaubliche sieben Jahre(!) her!

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +