Kurzzeitige Muster auf der Großhirnrinde
BLOG: Graue Substanz
In allen Lehrbüchern, wissenschaftlichen Zeitschriften und auch bei Wikipedia sind diese Muster, die mit Elektroenzephalografie (EEG) bisher gar nicht und mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) nur schwer sichtbar werden, zu primitiv dargestellt.
In einer kürzlich veröffentlichten Arbeit untersuchen wir Muster der Übererregung des Nervensystems bei Migräne, Muster, die sich in der Großhirnrinde ausbilden und von denen im letzten Beitrag schon die Rede war. Diese Muster entstehen durch Diffusion geladener Teilchen (Ionen) im Zusammenspiel mit der Elektrophysiologie der Gehirnzellen, insbesondere mit exzessiven Entladungszuständen.
Die Diffusion macht diese Muster so langsam, dass sie nur schwer nachweisbar sind.
Betroffen sind klar begrenzte Gebiete der Großhirnrinde für einen ebenfalls begrenzten Zeitraum. Dies nennen wir ein Muster. Manchmal spricht man in der Physik auch von Struktur oder Strukturbildung, wobei eine sich selbst bildende Struktur in der Regel sehr lange stabil bleibt und nicht schnell wieder vergeht.
Migräne ist zwar eine chronische Erkrankung aber mit episodischer Manifestation und um diese geht es. Die episodische Übererregung am unmittelbaren Beginn einer Attacke vergeht ungefähr so schnell wieder, wie sie entstand. Alles spielt sich in unter einer Stunde ab, der Kopfschmerz bleibt etwas länger, bis zu 72 Stunden.
Betrachten wir also (vergängliche*) Musterbildung, die Bildung und den Kollaps von raumzeitlichen Mustern, was ich mit Big-Bang-und-Big-Crunch-Theorie der Migräne bezeichnet habe.
In dieser Arbeit stellen wir die Hypothese auf, dass raumzeitliche Erregungsmuster individuell von Attacke zu Attacke verschieden sein können und Eigenschaften dieses Musters, wie z.B. seine Form, Größe, Lage relativ zu den Hirnwindungen und Dauer den Verlauf einer Migräneattacke bestimmen.
Als gesichert gilt, dass in Folge eines pathologischen Erregungsprozesses in der Großhirnrinde alle betroffenen Nervenzellen nahezu vollständig entladen werden und dies zu Beginn einer Migräneattacke als kurzzeitige (5-60min) Störung bemerkbar ist.
Meist ‘übersetzt’ unser Gehirn diese Muster, die ja zu keinem äußeren Sinnesreiz gehören, in eine visuelle Halluzination. Es können jedoch auch völlig andersartige, teils wirklich grotesk seltsame sensorische oder kognitive Störungen von diesem endogenen neuronalen Aktivitätsmuster verursacht werden. Über fünfzig verschiedene Formen von Störungen sind von uns aufgelistet worden, angefangen von gestörter Wahrnehmung des Körperschematas über Sehstörungen, Synaesthesia, Sprach- und Sprechstörungen, Déjà vu, Störung der Zeitwahrnehmung und vielen, vielen, vielen anderen.
Der Spuk geht bis etwa eine Stunde; kurz darauf manchmal überlappend mit dieser sogenannten Auraphase beginnt der Kopfschmerz.
Unklar und in der Fachwelt sehr umstritten ist bis heute, ob und wie der Kopfschmerz bei Migräne mit dieser Erregung zusammenhängt. Dabei wird das Erregungsmuster, also seine Entstehung und seine Grenzen sowohl in Raum (Form) als auch in der Zeit (Dauer), bisher nicht als wichtiger Faktor beachtet.
Aufgrund unserer Studien denken wir, dass darin der Schlüssel zum Verständnis der Migräne liegen könnte. Liefern From, Größe, Lage und Dauer der individuellen Muster neue Erkenntnisse über den Verlauf einer Migräneattacke, insbesondere über dessen Schweregrad?
- Gibt es Muster, die nur Kopfschmerzen hervorrufen aber keine Aura (Silent Aura)?
- Gibt es Muster, die nur die Aura hervorrufen aber keine Kopfschmerzen? (Denn seit Kästner wissen wir: Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.)
- Gibt es Muster, die die Aura und Kopfschmerzen hervorrufen? Wie bestimmt dieses Muster die Reihenfolge dieser Symptome?
- Gibt es Muster, die weder Aura noch Kopfschmerzen hervorrufen? Gibt es also eventuell solche Muster bei allen Menschen, nur die Muster bei Migränikern sind irgendwie anders?
Das alles sind Fragen, die ich heute aufgrund unserer mathematischen Modellierung nicht nur mit ja beantworten würde sondern worauf wir auch konkrete Antworten haben.
Wir müssten diese Muster nicht vorhersagen sondern würden längst die Antworten auf diese Fragen kennen, wären diese Muster nicht notorisch schwierig zu messen – und das obwohl oder gerade weil der Zustand im Muster zu den extremsten Zuständen gehört, in den eine Gehirnzelle geraten kann, einem kurzzeitigen, unfreiwilligen Hungerstreik mit völliger Inaktivität. Die Veränderungen sind dabei sehr langsam. Zu langsam, um elektroenzephalographisch fassbar zu sein. Es sind nahezu hirnelektrische DC-(Gleichstrom)-Potenziale mit Frequenzen von vielleicht 0.05Hz. Im konventionellen EEG werden Frequenzen unter 0,5 Hz aus gutem Grund nicht aufgezeichnet, da sie kaum zu fassen sind wegen hoher Störsignale. Zum anderen sind es aus klinischer Sicht wiederum kurze episodische Zeitabschnitte, die auch noch spontan auftreten. Nur einige Minuten bis zu einer Stunde, da ist es schwer mit nichtinvasiver Bildgebung, wie der funktionellen Magnetresonanztomographie, diese einzufangen.
Diese führte bisher dazu, dass dieses Muster, insbesondere seine Begrenzung, in Lehrbüchern, wissenschaftlichen Zeitschriften (z.B. hier) und auch bei Wikipedia zu primitiv dargestellt ist. Man hat Beobachtungen einfach vom Tiermodell auf den Menschen übertragen.
Immer wird eine vom Hinterhauptpol des Großhirms sich ausbreitende, die Hirnrinde dann vollständig einhüllende Welle gezeigt (s. (a) unten in der Abbildung). Nur der Frontallappen wird ausgespart, wiederum ohne wirklich plausible Erklärung dafür.
Das ist mit Sicherheit ein viel zu einseitiger Verlauf und wahrscheinlich ist er in dieser Form sogar schlicht falsch dargestellt, denn das in den Zustand kurzzeitig rekrutierte Gebiet ist sehr groß, in der Tat viel zu groß, um im Einklang mit der Symptomatik der Migräne zu sein.
Tierexperimentell im Mausmodell oder beim Kaninchen sind durchaus ähnliche Formen beobachtet worden. Aber diese Gehirne sind eben kleiner. Muster skalieren nicht, denn der die Größe bestimmende Diffusionskoeffizient bleibt der selbe!
Die einfache Übertragung vom Tiermodell ist noch aus verschiedenen anderen Gründen fraglich, die wichtigsten davon sind neben der Hirngröße die Hirnwindungen und die veränderte Geometrie der neurovaskulären Kopplung.
In den kommenden Jahren müssen wir klinische Studien entwickeln, um diese Muster genau zu beobachten. Dies ist durch unsere Vorhersagen durchaus leichter geworden, denn wir wissen nun wonach wir suchen müssen. Solche Studien werden nicht allein für Migräne sondern auch Schlaganfall und Epilepsie von enormer Bedeutung sein. Diese Muster gehören wahrscheinlich mit weitem Abstand zu den wichtigsten pathophysiologischen Phänomenen unseres Gehirns.
Fußnote
* Eine vorübergehende (transient) Nervenaktivität stellt besondere Herausforderungen sowohl an die klinische Beobachtbarkeit also auch an eine mathematische Analyse.
Es entstehen also in der ( in jeder?) Grosshirnrinde raumzeitliche Erregungsmuster, deren Nukleus ein Ensemble von vollständig entladenen Neuronen ist, die für lange Zeit – Stunden? – keine der ihnen zugedachten physiologischen Funktionen mehr erbringen können.
Diese sich lokal ausbildenden Muster bedeuten in jedem Fall eine lokale Störung der normalen Hirnaktivität, aber nur in wenigen Fällen manifestiert sich dies in einem Krankheitsbild wie wir es als Migräne, als epileptischen Anfall oder als Phänomene rund um einen Schlaganfall kennen.
Ja, Markus A. Dahlem postuliert, praktisch alle oder mindestens die meisten menschlichen Hirne bilden von Zeit zu Zeit solche lokalen kortikalen Erregungsmuster aus, die mit einem vorübergehenden Funktionsausfall der betroffenen Hirnbereiche verbunden sind. Nur bei Wenigen aber macht sich der vorübergehende neuronale Funktionsausfall auch klinisch bemerkbar.
Nun, werden vielleicht einige Schweraufsteher denken, neuronale Ausfälle erlebe man fast jeden Tag beim Übergang vom Schlaf- zum Halbwachzustand. Doch das wird wohl wieder etwas ganz anderes sein, was uns zum Schluss führt, dass man über das Funktionieren oder auch Nicht-Funktionieren des Hirns immer noch herzlich wenig weiß.
Ein paar Eckdaten zum bessern Verständnis: Die Entladung einer Gehirnzelle dauert ca. 3-10 Sekunden, dieser Zustand bleibt weitere 20-30 bestehen und die Zelle wird daraufhin in ca. 1-2 Minuten wieder aufgeladen. Halbwegs funktionsfähig sind Gehirnzellen wieder nach etwa 2.5 Minuten, völlig funktionsfähig nach etwas 15 Minuten.
Breitet sich dieser Zustand nicht aus, sondern ist auf einen kleinen Herd von vielleicht wenigen Millimetern Radius beschränkt, ist die Beeinträchtigung minimal und kurzzeitig. Breitet sie sich aus, können einige Quadratzentimeter über einem Zeitraum von bis zu einer Stunde von dem Prozess überschritten werden, mit entsprechender Symptomatik.
Und Sie haben recht, wir wissen noch herzlich wenig und doch schon eine Menge.
Phänomene wie die Spreading Depolarisation/Spreading Depression und die damit verbundenen pathologischen “Erschöpfungszustände” von Neuronen waren mir bis zu dieser Artikelserie nicht bekannt als erwartbare Zustände von neuronalen Verbänden. Googeln bringt allerdings einige interessante Fundstellen:
– Im Abstract zu The role of spreading depression, spreading depolarization and spreading ischemia in neurological disease wird SD mit Hirnverletzungen, Hirnischämie etc. in Verbindung gebracht, aber auch angemerkt, dass SD spontan in gesundem Hirngewebe entstehen kann. SD soll auch sekundär (über einen Einfluss auf kleine Gefässe) zu Hyper- oder Hypoperfusion umgebenden Gewebes fühen
– In Effect of analgesics and sedatives on the occurrence of spreading depolarizations accompanying acute brain injury wird SD als Sekundärphänomen bei Hirnverletzungen erwähnt und vor bleibenden Schäden infolge von SD gewarnt (Absterben von Hirnzellen, die von SD betroffen sind). Ketamin reduziere SD.
– Mechanisms of spreading depolarization in the neuron. stellen zwei illustrative Symbolbilder dar, die den Unterschied zwischen “normaler” Nervenzelle und Nervenzelle im Zustand der “Spreading Depolarization” zeigen.
– Die Google.Frequenzsuche für “Spreading Depolarization”> ergibt eine Peak in den frühen 1970er Jahren und ein starkes Ansteigen der Verwendung dieses Begriffs nach dem Jahre 2000. Erstmals aufgetaucht ist der Begriff 1947 in einer bahnbrechenden Arbeit von Leão. Schon schade, dass es so lange dauerte bis man das Phänomen besser verstand.
Der Name spreading depolarization ist eher noch selten, meist nennt man es spreading depression. Ich halte nicht so viel von dieser Umbenennung. Das Phänomen ist wider gut durch die Unterdrückung der Nervenaktivität gekennzeichnet (depression) noch gut durch die Depolarisation. Mal abgesehen das es nicht sich ausbreitet (breiter wird) sondern fortschreitet (wie ein Puls).
Der Kern des Phänomens ist in dem Beitrag “Wenn Gehirnzellen kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“. Es ist ein auslaufen der (freien) Energie, ähnlich einer kurzgeschlossenen Batterie. Daher ist der Zusammenbruch der Ionengradienten das zentrale Merkmal (egal ob bei Schlaganfall oder bei Migräne).
Die Namensgebung wäre ein Beitrag für sich.
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