Sturm über Island

Die Augustausgabe 2019 von Spektrum der Wissenschaft hat freundlicherweise in der Rubrik Futur III eine Science-Fiction-Kurzgeschichte (Der ewige Sturm) von mir abgedruckt. Darin ging es um eine kleine Exklave von Wissenschaftlern, die auf Island inmitten eines jahrzehntelang andauernden Orkans ausharren. Könnte die globale Erwärmung ein solches Phänomen tatsächlich auslösen?

Eine Science-Fiction-Geschichte, die in der nahen Zukunft spielt, nimmt gerne eine aktuelle Entwicklung auf und extrapoliert sie. Auf diese Weise führt sie den Lesern vor Augen, was geschehen könnte, wenn ein bestimmter Aspekt der Gegenwart so bestimmend wird, dass er das künftige Leben auf ungeahnte Weise verändert – zum Guten oder zum Schlechten.

Meine Geschichte beginnt mit einer möglichen Auswirkung des schnellen Klimawandels: Einer gigantische Verstärkung des Islandtiefs.

Die Wetterzentren des Atlantischen Ozeans

Im Atlantik gibt es zwei große Wetterküchen: das Islandtief und das Azorenhoch. Beide sind verantwortlich für die Nordatlantische Oszillation (NAO), die wiederum das Wetter in Europa entscheidend beeinflusst. Aus dem Luftdruckunterschied der beiden destillieren die Meteorologen den sogenannten NAO-Index. Bei einem hohen NAO-Index (=große Luftdruckdifferenz) kommt das Wetter in England, Nordfrankreich und Deutschland eher von Westen. Wir erleben dann stürmische und warmen Winter. Die Wirkungen im Sommer lassen sich nicht so eindeutig fassen, ein hoher NAO-Index spricht für warme und trockenes Wetter, allerdings nicht für extreme Hitze. Im Mittelmeergebiet bleibt es im Winter eher trocken, im Sommer übt das Wetter im Nordatlantik wenig Einfluss aus und führt tendenziell zu mehr Wolken, mehr Regen und kühleren Temperaturen.

Auswirkungen eines positiven NAO-Index. Aus Bildungsserver.de, Klimawandel, Artikel: Nordatlantische Oszillation. Creative Commons Lizenz Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland.

Woran liegt das? Wenn im Nordatlantik ein Tief liegt, das gegen den Uhrzeigersinn rotiert und im Süden ein umgekehrt drehendes Hoch, dann läuft dazwischen eine starke Westwindströmung, die feuchte Atlantikluft nach Nord- und Mitteleuropa bringt, jedenfalls im Winter, im Sommer sind die Zusammenhänge, wie gesagt, nicht so klar, weil sich andere Faktoren in den Vordergrund drängen.

Die hitzigen Auswirkungen des Klimawandels

Wenn die Durchschnittstemperatur der Erde steigt, lädt sich die Atmosphäre mit Wärmeenergie auf. Wetterphänomene entwickeln dann ein hitzigeres Temperament. Sintflutartige Regengüsse, apokalyptische Gewitter, Hitzeperioden, Stürme, Überflutungen oder Dürren werden bis zum Jahr 2100 deutlich häufiger, wenn sich die Luft und das Wasser, wie jetzt abzusehen, um zwei weitere Grad erwärmen. Die globale Erwärmung wird den NAO-Index vermutlich vergrößern. Oder anders ausgedrückt: Sie verstärkt die Gegensätze. Der Luftdruck im Islandtief sinkt, das Azorenhoch baut noch höheren Druck auf.

Für die Geschichte habe ich diese Entwicklung weitergedacht. Vor Island hat sich ein monströses Tief festgesetzt und leitet massenhaft warme Luft über Island nach Grönland. Der Eisschild ist dem Ansturm nicht gewachsen, und bald durchschneiden Schmelzwasserflüsse die Landschaft, vereinigen sich zu riesigen Strömen und fließen ins Meer. Mit dem Golfstrom driften sie nach Osten und bilden vor Island einen kalten Pool innerhalb des warmen Atlantiks. Das Temperaturgefälle füttert wiederum das Sturmtief. Dadurch entsteht ein riesiger Luftwirbel, ein niemals nachlassender Mahlstrom der Lüfte, dessen Zentrum im Nordatlantik vor Island herumwandert.

Die Insel würde schwer getroffen: Über ihre Oberfläche fegt ein Orkan von unvorstellbarer Gewalt. Die Windgeschwindigkeit übersteigt 100 km/h und kann auch das Doppelte erreichen. In meiner Geschichte gehe ich davon aus, dass Island unbewohnbar wird. Nur eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern harrt in einem tief eingeschnittenen Flusstal aus, das der Sturm nicht erreichen kann. Der Südwestorkan bringt warme Luft, die Temperaturen würden kaum jemals unter den Gefrierpunkt fallen. Aber es würde natürlich auch sehr viel mehr regnen.

In Europa wird es ungemütlich

In der Geschichte spielen die Auswirkungen eines solchen Wettergebiets auf Europa keine Rolle. Aber wir müssten uns auf einschneidende Veränderungen einstellen. Im Winter würden sich aus dem gigantischen Tief ständig kleinere Sturmzentren ablösen, die nach Osten wandern und den Westen und Norden Europas heimsuchen. Wir müssten fast in jedem Jahr mit Stürmen rechnen, gegen die der berüchtigte Orkan Kyrill vom Januar 2007 wie ein laues Lüftchen aussieht. Die meisten Bäume in unseren Wäldern hätten auf die Dauer keine Chance. Der Sturm würde sie knicken wie Streichhölzer oder gleich entwurzeln. Auch Windkraftanlagen und Kirchtürme würden der Gewalt nicht lange standhalten.

Im Sommer hingegen rücken die Stürme nach Norden ab, warme Luft von Süden strömt nach und vertreibt die Wolken. Um 3 bis 5 Grad würden die Temperaturen steigen und die Regenfluten des Winters weichen einem Sommer voller Hitze und Staub. Selbst ohne monströses Islandtief sagen aktuelle Vorhersagen eine solche Entwicklung voraus.

In Grönland wäre der Sturm stark genug, um sich gegen die Westwinde zu behaupten, die sonst die gemäßigten und arktischen Breiten dominieren. Die feuchtwarme Luft rast dann ostwärts, regnet an der Ostseite ab, fegt heulend über die bis zu dreitausend Meter hohe Eiswüste im Inneren und fällt als Föhnwind an der Westküste hinunter. Dort würde es dann deutlich wärmer als heute und das Abtauen des Eispanzers würde sich weiter beschleunigen. Natürlich würde es immer noch Jahrhunderte dauern, das Eis endgültig zum Verschwinden zu bringen, aber der Wasserspiegel der Ozeane stiege in jedem Fall schneller als erwartet. Irgendwann werden die überforderten und ermüdeten Deiche die Sturmfluten nicht mehr zurückhalten. Die Niederlande könnten bei einem der vielen Orkane unwiderruflich untergehen.

Die Häfen in England, Holland, Deutschland und Skandinavien wären im Winter kaum noch nutzbar. Flüge müssten weit nach Süden ausweichen, sie würden länger dauern und teurer werden.

Klimawandel: Was wirklich geschehen könnte

Wie realistisch ist ein solches Szenario überhaupt? Ein riesiger Sturmwirbel über dem Nordatlantik, der sich selbst erhält, weil er durch das Abtauen des grönländischen Eisschilds eine große Zone kalten Wassers im warmen Atlantik schafft und aus der Temperaturdifferenz ständig neue Kraft schöpft?

Die Antwort lautet: Niemand weiß es, ich selbst am wenigsten, und die Meteorologen mögen die Idee für abwegig halten. Aber mit dem aus geologischer Sicht abrupten Klimawandel, den wir gerade einleiten, schaffen wir Raum für alle Arten von unvorhersehbaren Phänomenen. Beispielsweise taut der Permafrostboden deutlich schneller auf als gedacht. In einigen Gegenden Kanadas hat sich der Boden so stark erwärmt, wie es die Forscher eigentlich erst für 2090 erwartet hatten. Die gewaltigen Brände, die seit Juni in der Arktis wüten, blasen riesige Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre und treiben sie die globale Erwärmung weiter an. Dadurch trocknen die arktischen Gebiete Russlands und Kanadas schneller aus, was wiederum künftige Brände begünstigt. So beginnt ein Teufelskreis, der, einmal in Gang gesetzt, aber kaum noch aufzuhalten ist.

Die Klimatologen sprechen wissenschaftlich-nüchtern von Kippelementen. Es sind Tretminen mit Zeitzünder, die hinter uns explodieren und uns den Rückweg abschneiden. Je weiter wir auf unserem Weg gehen, desto mehr davon lösen wir aus. Wenn wir erst in dreißig Jahren alle Kohlekraftwerke abstellen, alle Flugzeuge und Autos auf Elektroantrieb umstellen und nur noch mit Wärmepumpen heizen, wird sich das Weltklima unerbittlich ein neues Gleichgewicht suchen, weit entfernt vom heutigen.

Mit der enormen Freisetzung von Treibhausgasen haben wir die Büchse der Pandora geöffnet und wir wissen noch nicht einmal, welche Übel wir in die Welt entlassen haben.





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www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

3 Kommentare

  1. Das ist in etwa ein The Day After Tomorrow – Szenario (Zitat: The Day After Tomorrow is a 2004 American science fiction disaster film)

    Konkret geht es hier um die Hypothese: Ein riesiger Sturmwirbel über dem Nordatlantik, der sich selbst erhält, weil er durch das Abtauen des grönländischen Eisschilds eine große Zone kalten Wassers im warmen Atlantik schafft, und aus der Temperaturdifferenz ständig neue Kraft schöpft?
    Genau diese Hypothese – allerdings ausgeweitet auf beide Pole – ist die Grundlage für James Hansens Buch Storms of My Grandchildren: The Truth About the Coming Climate Catastrophe. Er nimmt an, dass in beiden Polargebieten aufgrund massiver Schmelzwassereinträge, massive Stürme losbrechen, die sich auf der ganzen Welt auswirken.

    Nach heutigem Wissen kann man das mit fast 100%-iger Sicherheit ausschliessen. Denn die Klimamodelle der Polargebiete machen so schnelle Schmelzprozesse sehr unwahrscheinlich. Speziell für Grönland gilt: Ein grosser Teil des grönländischen Eises befindet sich in grosser Höhe (die mittlere Höhe in der sich die Eisoberfläche Grönlands befindet ist 2,135 Meter). Das grönländische Eis befindet sich in so grosser Höhe, dass es nur schon ein Wunder ist, wenn es dort einmal über 0 Grad Celsius warm wird. Das ist ein wichtiger Grund, dass ein schnelles Schmelzen praktisch ausgeschlossen ist.

    • Er [Hansen] nimmt an, dass in beiden Polargebieten aufgrund massiver Schmelzwassereinträge, massive Stürme losbrechen, die sich auf der ganzen Welt auswirken.

      Nach heutigem Wissen kann man das mit fast 100%-iger Sicherheit ausschliessen.

      Da wäre ich nicht so sicher. Schon heute gibt Grönland jedes Jahr Schmelzwasser vom mehrfachen Volumen des Bodensees ab. Auf den Temperaturkarten wie hier von der NASA lässt gut erkennen, dass die Oberflächentemperatur zwischen Grönland und Island schon jetzt recht niedrig ist, verglichen dem Rest des Atlantik. Sollte sich diese Differenz vergrößern, könnte damit das Islandtief schon deutlich an Energie gewinnen, wesentlich größer werden und höhere Windgeschwindigkeiten entwickeln.

  2. Zitat: Wenn wir erst in dreißig Jahren alle Kohlekraftwerke abstellen, alle Flugzeuge und Autos auf Elektroantrieb umstellen und nur noch mit Wärmepumpen heizen, wird sich das Weltklima unerbittlich ein neues Gleichgewicht suchen, weit entfernt vom heutigen.

    Ja, das ist zu erwarten. Wobei ein Gleichgewicht erst nach vielen Jahrzehnten erreicht ist. Der ständige Klimawandel vorher, das instabile Klima, das wir schaffen, könnte für die Menschheit viel schlimmer sein als das neue Gleichgewicht, das sich schliesslich einstellt.

    Gerade der von den heute noch Jungen im weiteren Verlauf des 21. Jahrhudnerts erlebte ständige Klimawandel, der immer wieder andere Regionen an den Rand des Zusammenbruchs bringt, könnte letztlich die Motivation schaffen, alles zu unternehmen um den Klimawandel zu stoppen. Mit alles meine ich auch negative Emissionen. Irgendwann werden viele Menschen und Regierungen bereit sein etwas dafür zu zahlen, dass CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernt wird.

    Weltweit gesehen wird sicherlich weit mehr als 1 Billion Dollar jährlich nötig sein, nur schon um einige Gigatonnen CO2 jährlich mittels Direct air capture and storage (DACS) wieder aus der Atmosphäre zu holen. DACS hat Alternativen (beispielsweise BECCS) ist aber die am besten steuerbare und am schnellsten wirksame Methode um CO2 wieder aus der Atmoshphäre herauszuholen. Nur wenn die Menschheit sowohl die industriellen CO2-Emissionen massiv reduziert als auch DACCS einsetzt kann der Klimawandel noch in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zum Stillstand kommen.