Sprachpolitik in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl

Sprachpolitik war in Deutschland seit 1949 nie ein großes Thema in Wahlkämpfen. Seit 2017 sieht dies anders aus. Und in diesem Jahr ist über fast alle Bundestagsparteien hinweg ein weiterer Anstieg zu verzeichnen, verbunden mit einer Ausdifferenzierung der Themen. Um welche Themen geht es, und was hat das für Gründe?

Sprachpolitik war in Deutschland seit 1949 nie ein großes Thema in Wahlkämpfen. Die Parteien hatten bei früheren Wahlen in ihren Programmen kaum einen Satz dafür übrig. Deutschland ist kein mehrsprachiges Land wie die Schweiz oder Belgien, und erst recht gibt es bei uns keine Unabhängigkeitsbewegungen wie in Spanien mit Katalonien, wo der Sprachenkonflikt ein zentrales Element der Auseinandersetzungen bildet. Allenfalls die Regionalsprachen innerhalb der deutschen Grenzen und die deutschen Sprachminderheiten außerhalb des deutschen Sprachraums boten schon früher den Anlass dafür, kultur- und bildungspolitische Ziele in die Programme aufzunehmen.

Seit der Wahl 2017 hat sich dies jedoch geändert. Damals waren unter dem Eindruck des großen Migrationsandrangs im Jahr 2016 von einigen Parteien Positionen zu sprachlicher Integration in die Wahlprogramme aufgenommen worden. Und auch die zunehmende Diversität der deutschen Gesellschaft führte schon bei der letzten Wahl zu einer Berücksichtigung von Themen der sprachlichen Bildung in der Programmatik der Parteien.

Einen Anteil an der Konjunktur sprachlicher Themen hatte auch die AfD, die mit ihrem Grundsatzprogramm von 2016 eine Vielzahl sprachpolitischer Forderungen festgeschrieben und diese teilweise auch ins Wahlprogramm 2017 übernommen hatte. Neben sprachlichen Fragen von Migration und Integration finden sich darin auch Forderungen wie die nach Aufnahme des Deutschen als Staatssprache ins Grundgesetz oder die Ablehnung des Genderns und von Anglizismen – insgesamt acht sprachpolitische Positionen.

Sprachpolitische Positionen

Wie stellt sich die Situation nun in den Programmen zur Bundestagswahl 2021 dar? Mit Ausnahme der SPD haben alle Parteien ihre sprachpolitische Programmatik ausgebaut – zum Teil nur leicht wie die CSU (zwei auf drei Positionen in einem sehr kurzen, auf Bayern ausgerichteten Wahlprogramm) die FDP (fünf auf sechs) oder die Linke (sieben auf acht), zum Teil aber auch erheblich umfangreicher wie die AfD (acht auf 16), die CDU (drei auf zehn) oder die Grünen (fünf auf neun Positionen). Als einziger Partei ist bei der SPD ein Rückgang von sieben Positionen bei der letzten Bundestagswahl auf gegenwärtig nur noch drei zu verzeichnen.

Interessanter als diese quantitativen Beobachtungen sind die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, die von den Parteien vorgenommen werden. Exklusiv werden nur wenige Positionen vertreten, Deutsch ins Grundgesetz, die Deutsch-Kompetenz medizinischen Fachpersonals und die Forderung nach mehr Deutsch in den Institutionen der EU bei der AfD, die Förderung von Sprachtechnologie als Zukunftsfeld bei der CDU.

Andere Themen tauchen bei dieser Wahl das erste Mal in mehreren Programmen auf: Dass nicht nur der Islamunterricht selbst, sondern auch die islamkundliche Ausbildung der Lehrkräfte und Imame in deutscher Sprache zu erfolgen hat, fordern AfD und CDU. Das Thema Leichte Sprache wird eher ablehnend von der AfD aufgegriffen, deutlich befürwortend von den Grünen und der Linken. Die Rolle der deutschen Sprache bei der Qualifikation für den Arbeitsmarkt ist ein weiteres Thema, das sich erstmals findet. Dazu äußern sich CDU und FDP in ihren Wahlprogrammen.

Thematische Schwerpunkte

Die Schwerpunkte sprachpolitischer Positionierungen liegen jedoch in anderen Bereichen. Alle heute in Fraktionsstärke im Bundestag vertretenen Parteien beschreiben ihre Positionen zu sprachlicher Integration in der Folge von Migration, besonders ausführlich die CDU und die Grünen. Zuweilen scheinen die Parteien hier direkt aufeinander Bezug zu nehmen. Auf die Forderung der AfD, Asylverfahren in Abhängigkeit vom Niveau deutscher Sprachkenntnisse durchzuführen, die in dessen Verlauf erworben werden, wird im CDU-Wahlprogramm festgestellt, dass es sich beim Asylrecht um ein „individuelles Schutzrecht und kein Ersatzeinwanderungsrecht“ handelt.

Sprachliche Bildung wird im Wahlprogramm der CDU und bei den Grünen großgeschrieben. Eine ganze Liste von Zielen und Maßnahmen zur sprachliche Bildung finden sich bei der CDU in einem bildungspolitischen Abschnitt, zu dessen Benennung sogar der alte sozialdemokratische Slogan „Aufstieg durch Bildung“ übernommen wurde. Die SPD selbst verzichtet hingegen in ihrem Wahlprogramm 2021 gänzlich auf Aussagen zur sprachlichen Bildung, auch wenn Bildungsthemen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. AfD, FDP und die Linke bekennen sich zu sprachlicher Bildung, die AfD in diesem Jahr erstmals in ihrer sprachpolitischen Programmatik.

Das Thema Gendern lässt in diesem Wahlkampf kaum eine Partei unberücksichtigt. Einige äußern sich explizit dazu, andere zeigen durch ihre sprachliche Praxis, welchen Weg sie für den besten halten. In den Wahlprogrammen von drei Parteien – den Grünen, der Linken und der SPD – wird der Genderstern verwendet, am konsequentesten von den Grünen und von der Linken. Personenbezeichnungen werden hier gegendert, und zwar nicht nur die positiven. Neben den Vermieter*innen, den Rentner*innen und den Arbeiter*innen lassen sich auch Spekulant*innen, Islamist*innen und Kriegsverbrecher*innen finden. Die SPD gendert weniger konsequent, negative Personenbezeichnungen wie Populisten oder Terroristen finden sich häufiger nur in der männlichen Form. Die sprachliche Praxis des Genderns wird nur von der Linken als sprachpolitische Position reflektiert. In ihrem Programm ist von „diskriminierungsfreier Sprache“ die Rede, die „der Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten gerecht“ werden soll.

Wie gehen die anderen Parteien mit dem Thema um? Die CSU gibt in ihrem knappen Wahlprogramm ein Beispiel für die Liberalitas Bavariae: „Wer gendern mag, soll gendern, aber niemand soll dazu gezwungen werden.“ Im Programm selbst werden konsequent wie auch bei der CDU und der FDP für Personenbezeichnungen Paarformeln verwendet, also etwa Rentnerinnen und Rentner. Die AfD setzt als einzige Partei in ihrem Wahlprogramm ganz auf das generische Maskulinum und spricht konsequent von Rentnern und Steuerzahlern wie auch von Terroristen und Straftätern. Die einzigen weiblichen Personenbezeichnungen, Lehrerinnen und Schülerinnen, lassen sich da finden, wo es um ein Verbot des Kopftuchs im Öffentlichen Dienst geht.

Warum Sprachpolitik?

Betrachtet man diese Auswahl aus den vielen sprachpolitischen Positionen in den Wahlprogrammen der Parteien, stellt sich die Frage, warum dies heute eine solche Bedeutung besitzt. Zweifellos gibt es eine Vielzahl anderer Themenfelder, die einen weitaus direkteren Einfluss auf das Leben der Menschen und die Entwicklung des Landes ausüben. Trotzdem kann eine von Wahl zu Wahl ansteigende Zahl sprachlicher Themen verzeichnet werden, und dies mittlerweile über alle derzeit im Bundestag in Fraktionsstärke vertretenen Parteien hinweg.

Es war die AfD, die Sprachpolitik als erste Partei als ein lohnendes Betätigungsfeld „entdeckt“ hat. Die vielen Positionen dazu im Grundsatzprogramm von 2016 bieten der Partei die Möglichkeit, ein allseits als wichtig und positiv angesehenes Thema für sich zu reklamieren und mit ihren allgemeinpolitischen Anliegen zu verbinden – die Ablehnung des Genderns mit Wertvorstellungen zu Familie und Gesellschaft, Sprachförderung mit Einwanderungs- und Gesellschaftspolitik oder die Forderung nach Stärkung des Deutschen in den europäischen Institutionen mit ihrem ablehnenden Blick auf die EU. Das so positiv besetzte Thema Deutsche Sprache wird auf diese Weise also zu einem Vehikel, um darüber hinausgehende politische Positionen wie mit einem Trojanischen Pferd weit in die Mitte der Gesellschaft zu führen.

Offensichtlich haben aber auch die anderen Parteien diesen Zusammenhang mittlerweile verstanden. Sprachliche Themen als solche besitzen auch für sie keine zentrale Bedeutung, sie haben aber zumindest das Potenzial, stellvertretend für weitaus größere politische Themen zu stehen und diese in verständlicher Form zugänglich zu machen. Sprachpolitik scheint damit in allen Teilen des politischen Spektrums zu einem Querschnittsthema geworden zu sein, mit dem in beispielhafter Weise komplexe Politikbereiche erschlossen werden können. Wird Sprache dabei nur instrumentalisiert, ist das nichts, worüber man sich freuen kann. Vielmehr sollten wir alle darauf achten, dass die deutsche Sprache nicht im Mahlwerk allgemeinpolitischer Auseinandersetzungen zerrieben wird.


Dieser Beitrag ist am 18.9.2021 auch im Mannheimer Morgen erschienen. 
Beitragsbild: Wikipedia, CC BY-SA 4.0

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

3 Kommentare

  1. Möglicherweise sollte es in liberalen Demokratien keine “Sprachpolitik” geben, denn die Sprache ist jedem eigen und muss nicht politisch angegangen bis verwaltet werden.
    In kollektivistischen Herrschaftssystemen dagegen gab es immer “Sprachpolitik”, dies war auch deshalb erforderlich, weil verschleiernde (und am besten von allen zu übernehmende) Sprache für Missstände, die nicht zugegeben werden sollten, durften oder konnten, erforderlich war.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  2. Dr. Webbaer,
    Ein Staat kann auf kollektive Strukturen nicht verzichten. Das beginnt beim Kleingärtnerverein und endet bei den Parteien. Gerade durch kollektive Strukturen, gemeint sind jetzt mal die Gewerkschaften, können die individuellen Rechte von Arbeitnehmern geschützt werden. Die Begriffe kollektiv und liberal sind kein Gegensatzpaar.
    Was jetzt die Sprache betrifft, die ist ein Spiegelbild der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse.
    Mit Hilfe der Sprache werden Wahlen entschieden.
    Zu einer demokratischen Polit-Kultur gehört auch eine passende Sprach-Kultur. Und wenn man eine Institution dafür geschaffen hat, das Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim dann hat das einen Sinn. Von „Sprachpolitik“ zu sprechen ist deshalb sinnvoll.

  3. Für ein eigentlich doch recht banales Alltagswerkzeug wird die Sprache in Deutschland ziemlich überbewertet – eine Entwicklung, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hatte, wo mehr oder weniger verzweifelt nach kulturellen Gemeinsamkeiten aller Deutschen gesucht wurde, auf die sich eine deutsche Nation aufbauen ließe. Anfangs war die gemeinsame Sprache beinahe das einzige, was man finden konnte, und dementsprechend überhöht wurde ihre Bedeutung.

    Obwohl es andere Nationen gibt, die ihrer Sprache ebenfalls einen sehr hohen Stellenwert einräumen (z.B. die Franzosen), so ist doch festzustellen, dass in den meisten Gegenden der Welt der Umgang mit der Sprache viel lockerer ist als bei uns. Ausnahmen sind die auch von Dr. Webbaer angedeuteten Herrschaftssysteme, die ich aber nicht auf das Kollektivistische beschränken würde. Ich denke, dass eher das Autokratische der Zug ist, der sich hierbei hervortut.

    Dabei entscheidet in der Realität des Alltags das “Volk auf der Straße”, was wie gesagt werden kann und wird. Der allgegenwärtige Kampf gegen Anglizismen ist deshalb ein Kampf gegen Windmühlen oder überhaupt ein Scheingefecht, denn Anglizismen, die vorteilhaft sind, werden sich dennoch durchsetzen, und die, die es nicht sind, werden sich auch ohne “Widerstand” in Luft auflösen.

    Ähnlich verhält es sich mit dem Gendern, das laut einer kürzlichen Civey-Umfrage der großen Mehrheit der Deutschen (ich glaube es waren über 80%) derzeit einfach nicht wichtig genug ist und abgelehnt wird (im Gegensatz zu nur ca. 3,5% strikten Befürwortern) – unter diesen Voraussetzungen sind wohl viele einfach genervt davon, womit die Anwendung von Gendertechniken derzeit beim Großteil des Publikums vermutlich eher Ärger als Achtsamkeit hervorrufen dürfte. In einigen Jahren hat sich das vielleicht geändert und keiner regt sich mehr darüber auf, wer weiß.

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