• Von Stephan Schleim
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Gaza-Krieg: Eskalierende Proteste an niederländischen Unis

Barrikaden, Besetzungen, Straßenkämpfe, Festnahmen – in Amsterdam und Utrecht geht es zurzeit heiß her

Während sich das akademische Jahr in den Niederlanden schon dem Ende nähert, haben Aktionen pro-palästinensischer Studierender diese Woche erst richtig angefangen. Seit Sonntag halten Zeltstädte, Demonstrationen, Hausbesetzungen, Räumungen, Sachbeschädigungen und sogar Straßenkämpfe die Universitätsleitungen Amsterdams und jetzt auch Utrechts in Trab. Das betrifft die größten Universitäten der Niederlande. Wiederholt rückte die mobile Einheit der Landespolizei aus. Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht.

Am vergangenen Sonntagmittag entstand auf dem Campus der Universität Amsterdam (UvA) ein Protestcamp. Die Studierenden forderten, die Amsterdamer Universitäten müssten ihre Verbindungen mit Israel beenden. Die Universitätsleitung kündigte Anzeigen gegen diejenigen an, die auf dem Gelände übernachten würden.

Trotzdem blieben dort in der Nacht auf den Montag einige Hundert Protestierende und ignorierten mehrfache Forderungen, den Platz zu verlassen. Zumindest einige von ihnen wollten dort auch kampieren. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gemeinde beschlossen daraufhin die Räumung des Geländes wegen Hausfriedensbruchs. So rückte gegen 3 Uhr die mobile Einheit der Landespolizei aus und wurde die Protestaktion gegen 4:30 Uhr morgens größtenteils beendet.

Montag

Am folgenden Montag errichteten Studierende dann auf dem UvA-Campus Barrikaden: Mit Paletten, Fahrrädern, Bauzäunen und Pflastersteinen wollten sie eine erneute Räumung verhindern. Gebäude der Universitäten wurden mit pro-palästinensischen Graffiti besprüht.

Um 20:30 Uhr schlug die Sphäre um, als eine Gruppe von rund zehn Männern die pro-palästinensischen Protestierenden angriff. Dabei verwendeten sie nicht nur körperliche Gewalt, sondern warfen auch mit Fackeln und Feuerwerkskörpern. Die Protestierenden verjagten diese Männer aber vom Gelände.

Da die Protestierenden abermals die Forderungen ignorierten, den Platz zu verlassen, startete die Polizei eine erneute Räumung. Um die laut Polizeisprecher Olav Brink “enormen Barrikaden” zu durchbrechen, kam dabei auch ein Bagger zum Einsatz.

Ein harter Kern von rund 125 Protestierenden widersetzte sich dem. Dabei wurden Polizeibeamte mit Feuerwerk und Pflastersteinen beworfen. Ein Polizist erlitt einen Gehörschaden. Die 125 wurden schließlich festgenommen und zur Identitätsfeststellung abgeführt. Ob und, wenn ja, wegen welcher Vergehen diese Personen strafrechtlich verfolgt werden, steht noch nicht fest.

NOS-Korrespondentin Beau Heimensen berichtete ihren Eindruck vor Ort, man habe die Pflastersteine einer halben Straße herausgerissen. Überall lägen Gegenstände und Steine herum und es gebe viele Zelte. Sie habe den Eindruck bekommen, als ob es dort schon seit Wochen wild zugehe, anstatt nur einen Tag und eine Nacht. Große Mengen an Nahrung ließen darauf schließen, dass sich die Protestierenden auf einen längeren Verbleib vorbereitet hätten.

Dienstag

Am Dienstag kam es dann auf Initiative von Studierenden und Dozierenden der UvA zu einer Demonstration mit laut Nachrichtenseite NOS mehreren Tausend Teilnehmern. Eine kleine Gruppe blieb bis in die Nacht. Die Universitätsleitung beklagte zwar den großen Schaden von den Vortagen, doch erstattete nicht erneut Anzeige. Darum kam es zu keiner erneuten Räumung.

Währenddessen weiteten sich die Proteste auf Utrecht aus, nach Amsterdam die Stadt mit den meisten Studierenden des Landes. Ab 16:45 Uhr besetzten Protestler den Innenhof der Utrechter Universitätsbibliothek. Auch dort wurden Zelte und Barrikaden errichtet und die Universität aufgefordert, sich über die Situation in Gaza zu äußern und die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten zu beenden.

Am Ende des Tages waren noch 150 Personen auf dem Platz. Die meisten folgten schließlich den Aufforderungen der Polizei, wegzugehen. Nach Mitternacht wurden die letzten rund 50 Personen von der Polizei abgeführt.

Mittwoch

Auch am Mittwoch gab es auf dem Campus der UvA wieder Barrikaden mit Paletten und Bauzäunen. Spanntücher machten auf das Leid der Menschen in Gaza aufmerksam. Inzwischen hatten sich Gruppen von außerhalb der Universitätsgemeinschaft den Protesten angeschlossen oder zumindest öffentlich ihre Unterstützung ausgesprochen: darunter Mitglieder von Extinction Rebellion, Amsterdam Encampment, der palästinensische Gemeinschaft Niederlande und der Studentengewerkschaft LSBv.

Studierende und Dozierende bildeten ein Verhandlungsteam und forderten mehr Mitsprache an der Universität. Die Vorsitzende vom LSBv, Elisa Weehuizen, berichtete von der Unterstützung durch Studierende anderer Städte. Diese würden den Protestlern in Amsterdam zum Beispiel Essen und Trinken bringen. Weehuizen: “Wir sind der Meinung, dass die Universitäten demokratischer werden müssen. Das hier zeigt einmal mehr, dass das wirklich nötig ist.”

Ein Sprecher der Amsterdamer Studentengewerkschaft, Henk van den Bosch, schließt sich dem an: “Dieses Thema spielt schon lange eine Rolle. Studierende wollen mehr Mitsprache und das unterstützen wir.” Damit erhalten die Proteste gegen den Gazakrieg und für die Palästinenser eine größere Dynamik: Nun geht es auch um mehr Mitspracherecht und Demokratie an den Universitäten.

Der Student Carlos van Eck, Teil des Verhandlungsteams der Protestler, erklärt das so: Auch sie würden gerne ein schnelles Ende der Protestaktionen sehen. “Aber wir haben sechs Monate lang das Gespräch mit der Universitätsleitung gesucht, doch die reagierte stets abweisend.” Seiner Meinung nach droht in Rafah der Genozid an mehr als einer Million Palästinenser und müsse es daher schnell ein kräftiges Signal geben.

Er und die anderen Protestierenden an der UvA fordern die völlige Transparenz über die Zusammenarbeit zwischen israelischen Organisationen und niederländischen Universitäten, das Ende von Investitionen in solche Projekte und die Beendigung der Zusammenarbeit mit den Organisationen.

Mittwoch auf Donnerstag: Kein Ende in Sicht

Im Laufe des Tages und in der Nacht auf den Donnerstag eskalierten die Proteste dann aber wieder. Ein UvA-Gebäude am Binnengasthuisterrein im Stadtzentrum wurde besetzt. Dabei wurden Büromöbel zum Bau von Barrikaden verwendet. Die Unileitung beklagte die Sachbeschädigung sowie die Behinderung von Lehrveranstaltungen und erstattete Anzeige.

Bei der anschließenden Räumung durch die Polizei kam wieder ein Bagger zum Einsatz. Protestler sprühten mit Feuerlöschern auf die Beamten und bewarfen sie mit Gegenständen. Die Polizisten der mobilen Einheit schlugen zu.

Daraufhin verlagerten sich die Proteste auf den Amsterdamer Rokinplatz. Dort wurden Busse der Stadtwerke behindert, mit denen die Protestler weggebracht werden sollten. Laut unbestätigten Berichten wurden Reifen dieser Busse plattgestochen.

Hunderte Protestler wurden später vom Rokinplatz auf das Muntplein getrieben. Am Ende zogen sie selbst zum Rembrandtplatz weiter. Gegen Mitternacht meldete die Polizei 32 Festnahmen wegen öffentlicher Gewalt, Sachbeschädigung, Misshandlung und Aufruhr.

Auch in Utrecht gingen die Proteste weiter. Ab 16 Uhr versammelten sich am Domplatz mehrere Hundert Personen zu einer pro-palästinensischen Demonstration. Diese zogen am nahe gelegenen Akademiegebäude vorbei, in dem offizielle Veranstaltungen wie Promotionsverteidigungen stattfanden. Der Sicherheitsdienst hinderte Unbefugte aber am Zugang zu dem Gebäude.

Die Protestler zogen dann weiter zum Driftplatz und besetzten dort ein Universitätsgebäude. Laut der Universitätszeitung kontrollierte die Polizei die Taschen am Eingang auf gefährliche Gegenstände. Verpflegung und Schlafsachen für eine mögliche Besetzung seien aber toleriert worden.

Die Universitätsleitung stellte am Ende des Tages mehrere Ultimaten: Die Protestler müssten um 22 Uhr weg sein, wenn die Gebäude normalerweise schließen. Da die Besetzung anhielt, wurde 00:05 Uhr als zweite Frist genannt.

Von ca. 1 bis 2:30 Uhr wurden die übrig gebliebenen Hausbesetzer abgeführt und mit Stadtbussen weggebracht. Laut einem Polizeisprecher wurden die rund 40 Personen aber nur an einen anderen Platz gebracht und nicht festgenommen.

Universität geschlossen

Zuvor hatte die Utrechter Universitätsleitung versucht, die Situation mit einer Stellungnahme zu entschärfen:

“Die Universitätsleitung hört und liest täglich die Sorgen von Studierenden und Mitarbeitern über die aktuelle Situation in Israel und Gaza. Als Universität teilen wir diese Sorgen und Gefühle der Traurigkeit, Fassungslosigkeit und Ohnmacht angesichts der Gewalt, die aus diesem Konflikt resultiert. Wir haben Mitgefühl mit allen, die von diesem Konflikt betroffen sind, unabhängig von der Seite. Wir hoffen, dass dieser Konflikt so schnell wie möglich endet.”

aus der Erklärung vom 8. Mai

Laut der Leitung bleibt “immer Raum für unterschiedliche (wissenschaftliche) Perspektiven und Gefühle. Aufrufe zu Hass, Gewalt, Intoleranz, Einschüchterung oder Aufrufe, die sonst den Rahmen einer offenen Gesellschaft sprengen, passen hier nicht hinein.”

Unter dem Eindruck der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag beschloss die Universitätsleitung laut der Presseagentur ANP, alle Unterrichts- und Forschungsräumlichkeiten im Stadtzentrum bis zum Montag um 8:00 Uhr geschlossen zu halten. Damit solle weitere Unruhe und mögliche gefährliche Situationen verhindert werden.

Die Utrechter Studentenpartei Vuur forderte die Universität dazu auf, die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten und Organisationen zu überprüfen.

Stimmen aus der Politik

Inzwischen schaltete sich der niederländische Forschungsminister Robbert Dijkgraaf in die Diskussion ein: “Universitäten sollten ein sicherer Ort für alle sein. Die große Stärke einer Universität besteht darin, dass man sich auf Diskussionen und Debatten einlässt und sich gegenseitig mit Argumenten bombardiert.”

Dijkgraaf war von 2012 bis 2022 Direktor des angesehenen Institute for Advanced Study in Princeton und von 2005 bis 2022 Universitätsprofessor für theoretische Physik an der UvA. Sein Amtskollege Hugo de Jonge, geschäftsführender Innenminister, hebt die Bedeutung des Demonstrationsrechts hervor, fordert aber gleichzeitig die Einhaltung der Gesetze.

Die zurzeit mit einer Regierungsbildung beschäftigten führenden Politiker rechtskonservativer Parteien sehen die Proteste aber kritisch: Geert Wilders von der PVV will, dass so schnell wie möglich gegen die Protestler vorgegangen wird. Caroline van der Plas, Vorsitzende der Bauernpartei, bezeichnete die Zustände als “komplette Anarchie”.

Der geschäftsführende Ministerpräsident Mark Rutte warf den Protestlern heute wegen der Sachbeschädigungen und Gewalt gegen die Polizei deutliche Grenzüberschreitungen vor. In den Niederlanden lebende Juden für die Situation in Gaza verantwortlich zu machen, bezeichnete er als antisemitisch. Um dem Einhalt zu bieten, plane er für Montag ein Treffen mit verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen.

Die Demonstrationen und weiterführende Protestaktionen halten nun schon seit Sonntag an. Ein Ende ist nicht in Sicht. In Groningen, an der drittgrößten Universität des Landes, waren in der Nacht zum Tag der offenen Tür pro-palästinensische Parolen auf das Akademiegebäude gesprüht worden. Schon zuvor waren Fenster der gegenüberliegenden Universitätsbibliothek beschmiert und eingeschlagen worden. Gegen weitere Aktionen wurden nun Scheinwerfer und Überwachungskameras platziert.

Aktualisierung vom 9. Mai, 11:12 Uhr: Eine Gruppe von Mitarbeitern der UvA, darunter der Politikwissenschaftler Martijn Dekker, distanziert sich jetzt von der Universitätsleitung und macht sie für übertriebene Gewalt gegen die eigenen Studierenden verantwortlich, während noch Verhandlungen liefen. In einem offenen Brief rufen sie zu einem Protestmarsch am kommenden Montag auf. Vor rund zehn Jahren kam es an der UvA zuletzt zur anhaltenden Besetzung von Universitätsgebäuden in Zusammenhang mit einem Finanzskandal. Die Universitätspräsidentin musste schließlich zurücktreten, weil sie das Vertrauen der Dozierenden- und Studierendenschaft verloren hatte.

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