Feste Verträge werden Standard an niederländischen Unis

Harte Konkurrenz für Forschungsstandort Deutschland im westlichen Nachbarland

In Deutschland brachte erst kürzlich ein unglücklich gemachtes Filmchen des Wissenschaftsministeriums das Fass zum Überlaufen. Viele fanden unerträglich, wie ihnen das vielfach zu Ausbeutung führende Wissenschaftszeitvertragsgesetz schmackhaft gemacht werden sollte. In Anspielung an die Hanna aus dem Filmchen äußerten sie ihren Unmut unter #IchBinHanna auf Twitter. Die Aktion schaffte es in die Medien, auch auf Telepolis (Hanna, die Universität und die Wut und “Die Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist ein Anfang”).

Tja, da hat das Ministerium wohl das falsche PR-Unternehmen beauftragt. Ohnehin hat es schon etwas von “Neusprech”, wenn Politikerinnen und Politiker ihre Lebensläufe mit Fake-Doktorarbeiten pimpen (Politik und Plagiatsaffären), ihren Familienmitgliedern lukrative Aufträge zuspielen und große Beratungshonorare absahnen, während sie bei vielen anderen Berufsgruppen die Daumenschrauben anziehen.

In einem Rechtsstaat, in dem alle gleich vor dem Gesetz sind, könnte man sich doch einmal die Hartz IV-Regelungen zum Vorbild nehmen – und den Abgeordneten konsequent die Nebeneinkünfte von den üppigen Diäten abziehen. Fair ist fair.

Prekäre Bedingungen

In der Wissenschaft und Lehre ist nicht nur der Arbeitsdruck hoch, sondern sind auch die Arbeitsbedingungen prekär. Wenn man nicht gerade eine (unbefristete) Professur oder eine lukrative Stelle an einem Forschungsinstitut innehat, sind wahrscheinlich Zeitverträge an der Tagesordnung. Zudem wird oft nur ein Teil der Arbeitszeit vergütet, vor allem bei Promovierenden.

Ich bekam auch jahrelang 20 Wochenarbeitsstunden vergütet, wo 60 erwartet wurden. Und das galt manchen noch als vergleichsweise fair. Aus der Not heraus bietet man in wirtschaftsnahen Bereichen wahrscheinlich mehr, schlicht weil man sonst keine guten Leute findet. Der Idealismus der Anderen macht sie anfällig für Ausbeutung.

Auch in den Niederlanden war die Lage ähnlich. Allerdings hat man sich hier schon länger am angelsächsischen Modell mit seinem sogenannten Tenure Track orientiert. Das heißt, dass man nach Promotion und einer Zeit als Postdoc auf dem Niveau eines Assistenzprofessors anfängt – in etwa mit der deutschen Juniorprofessur zu vergleichen – und bei Erfüllung vorgegebener Kriterien zum Assoziierten Professor aufsteigt. Dann hat man in der Regel eine entfristete Stelle (“tenure”).

Wer weiter hart an der Karriere arbeitet, kann so zum Full Professor aufsteigen, vergleichbar dem deutschen Lehrstuhlinhaber. Allerdings sind die Arbeitsgruppen hier in der Regel in Departments mit wechselnden Verantwortlichkeiten organisiert und nicht um “den Lehrstuhl”. Das führt zu einem dynamischeren und weniger hierarchischen Zusammenarbeiten.

Paukenschläge

Trotzdem war auch in den Niederlanden die Unzufriedenheit an den Universitäten hoch. Vor allem der hohe Arbeitsdruck und die vielen Zeitverträge wurden immer wieder kritisiert. Doch selbst wenn man eine Stelle als Assistenzprofessor bekommen hat, war das kein Pappenstiel. Man kann sich vorstellen, dass die Manager eher zu viel als zu wenig in den Kriterienkatalog geschrieben haben. Wünsch dir was!

Außerdem wurden Angestellte in der Wissenschaft anders behandelt als auf dem Rest des Arbeitsmarkts: Dort muss spätestens der dritte Arbeitsvertrag beim selben Arbeitgeber unbefristet sein – und nach drei Jahren Anstellung wird er das automatisch. In der Wissenschaft waren das (noch für mich) sechs, später dann fünf Jahre. Grund: Man müsse beweisen, dass man gut genug sei.

Und so wird eben auch das deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz gerechtfertigt. Wo käme man denn hin, wenn jeder mit entsprechenden Voraussetzungen gleich eine feste Stelle in Forschung und Lehre bekäme? Ja, und wo käme man denn hin, wenn jeder Lehrer oder Rechtsanwalt mit ausreichend Sitzfleisch und Sensibilität für die richtigen Lobbys gleich einen aussichtsreichen Listenplatz für Parlamentswahlen bekäme?

In den Niederlanden gab es jahrelang Proteste, auch schon einen Warnstreik und zuletzt wurden gar Universitätsschließungen diskutiert, doch dann kam die Coronapandemie dazwischen. Ich schrieb immer wieder über solche Aktionen (z.B. Demonstration in Den Haag für Hochschulbildung und Wissenschaft). Auch die Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Universität von Amsterdam war ein gelungener Coup (Erste Erfolge für studentische Proteste in Amsterdam).

Zur Erinnerung: Zocker der privatisierten Uni hatten mit Immobilienspekulationen im geheimen Millionen verloren – doch öffentlich sagte man, man müsse die unrentablen Geisteswissenschaften schließen, da diese zu teuer seien. Schließlich wurde die unerwünschte Unipräsidentin abgesägt. Aus der Traum vom Wissenschaftsministerium, den man ihr nachgesagt hatte. Das Zusammenhalten von Studierenden, Dozierenden und große öffentliche Unterstützung machten es möglich.

Jahre hat es gedauert. Doch nun lenken die Arbeitgeber endlich ein: Ab 1. Januar 2022 werden feste Arbeitsverträge ab dem Niveau der Assistenzprofessuren zum Standard. Es gilt nur noch eine Bewährungszeit von einem Jahr, beziehungsweise eineinhalb Jahren für Neulinge an der Universität.

Wer zudem große Forschungsprojekte mit einem bestimmten Volumen (ca. 800.000 Euro) einwirbt, bekommt ebenfalls standardmäßig einen festen Vertrag. Doch nicht nur Angestellte in den höheren Funktionen, sondern auch das unterstützende Personal soll nach einem Jahr einen festen Vertrag bekommen, sofern sie nicht nur spezifisch für ein befristetes Forschungsprojekt eingestellt sind.

Im Westen viel Neues

Auf flexiblere Anforderungen müssen die Universitäten dann vor allem mit zeitlich befristeten Dozierenden und Postdocs reagieren. Doch auch abgesehen von der Vertragsgestaltung gibt es viele Neuerungen: eine gestaffelte Lohnerhöhung von 2%, einen einmaligen Bonus von 650 Euro und eine Anhebung des Mindestlohns auf 14 Euro pro Stunde.

Interessant sind auch die Anpassungen für Heimarbeit in Reaktion auf die Coronapandemie: Pro Arbeitstag im Homeoffice soll es eine Vergütung in Höhe von 2 Euro geben, zuzüglich einer Monatspauschale in Höhe von 25 Euro für den Internetanschluss. Nach jahrelanger Kritik müssen die Universitäten nun konkrete Schritte zur Senkung des Arbeitsdrucks unternehmen. In dem offiziellen Beschluss heißt es dazu:

“Das beinhaltet beispielsweise, dass so wenig Termine wie möglich geplant werden, der E-Mail-Verkehr auf ein Minimum beschränkt wird und dass Angestellte Zeit für Reflexion haben, für Arbeit jenseits des Alltagswahns und in Ruhe Texte lesen können. Die Angestellten haben das Recht auf Pausen.”

Onderhandelaarsakkoord vom 25. Juni 2021; meine Übersetzung

Wie das konkret umgesetzt wird, muss sich natürlich noch zeigen. Als konkrete Beispiele werden die Vorschläge genannt, Wochen mit weniger Meetings und Mails einzuführen oder bestimmte Arbeitszeiten für Termine zu blockieren. Die Universitäten müssen nun außerdem konkrete Maßnahmen einführen, um die Freizeit der Angestellten zu schützen: Freizeit soll auch wirklich Freizeit sein.

Im Großen und Ganzen ist es ein umfangreiches Paket, das die vier Gewerkschaften (FNV, CV/FBZ, AOb und CNV Overheid) nun mit der Organisation der niederländischen Universitäten (VNSU) vereinbart haben. Das dürfte diesen Arbeitsmarkt auch für geplagte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland attraktiver machen. Man spricht ja immer wieder vom “Brain Drain”, vom Wegzug hochqualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland.

Vielleicht besinnt man sich aber auch im Wissenschafts- und Innenministerium. (Letzteres regelt den öffentlichen Dienst.) Anstatt unglücklicher PR-Filmchen gäbe es dann würdige Arbeitsbedingungen. Man sollte auch mal auf die demografische Entwicklung schauen: Wer soll denn die ganzen qualifizierten Jobs noch ausführen, wenn in den nächsten Jahren immer mehr Babyboomer in den Ruhestand gehen? Aber es gibt hier natürlich keinen “free lunch”. Um seine Interessen durchzusetzen, muss man sich entsprechend organisieren.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint vielleicht auch auf Telepolis – Magazin für Netzkultur. Titelgrafik: nikolayhg auf Pixabay.

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19 Kommentare

  1. @Deutliche Worte

    „Ohnehin hat es schon etwas von “Neusprech”, wenn Politikerinnen und Politiker ihre Lebensläufe mit Fake-Doktorarbeiten pimpen (Politik und Plagiatsaffären), ihren Familienmitgliedern lukrative Aufträge zuspielen und große Beratungshonorare absahnen, während sie bei vielen anderen Berufsgruppen die Daumenschrauben anziehen.“

    „Ja, und wo käme man denn hin, wenn jeder Lehrer oder Rechtsanwalt mit ausreichend Sitzfleisch und Sensibilität für die richtigen Lobbys gleich einen aussichtsreichen Listenplatz für Parlamentswahlen bekäme?“

    Ich bin kein Akademiker, aber diese Zusammenfassung gefällt mir. So interessiert es mich schon, dass in der Wissenschaft gute Arbeit gemacht wird, und nicht nur Gefälligkeiten verwaltet werden. So wie manche Pharmafirma es schafft, dass ihre Prospekte als Psychoedukation bei schwer psychisch Kranken benutzt werden, da freut es mich schon, wenn sich andere Wissenschaftler tatsächlich um die Menschen kümmern.

  2. “Wer zudem große Forschungsprojekte mit einem bestimmten Volumen (ca. 800.000 Euro) einwirbt, bekommt ebenfalls standardmäßig einen festen Vertrag.”

    Die wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen auch schon Etablierter stellen sich zunehmend schwieriger da. Ob dem gegenwärtigen Zeitgeist kritisch gegnüberstehende Wissenschaftler in Zukunft auch solche Summen werden einwerben können? Ich bin da sehr skeptisch.

    Zum Zeitgeist des Wissenschaftsbetriebes::

    Cancel culture angewendet auf Nobelpreisträger:

    “Pierre Kory, MD MPA@PierreKory
    Nobel Prize Winner Professor Satoshi Omura, whose discovery of ivermectin led to one of history’s greatest public health achievements in transforming the health status of large parts of the globe… gets censored for discussing the science supporting ivermectin in COVID-19. Yup.”

    https://twitter.com/PierreKory/status/1410622361477472261

    Lesenswerter Thread zu den Hintergründen der Rücknahme:

    “Kevin McKernan@Kevin_McKernan

    Many of you probably witnessed the 6 MDPI editor rage quit this the weekend over this manuscript that attempted to look at adverse events of the experimental shot that shall not be named.”

    https://twitter.com/Kevin_McKernan/status/1410725586406805507

  3. Eine sinnvolle Interpretation der schlechten Arbeitsbedingungen an vielen Universitäten wäre etwa: Wir als Uni wollen möglichst viele akademisch ausgebildete, kostengünstige Mitarbeiter und ein paar Wenigen bieten wir dann vielleicht sogar eine weiterführende Karriere.
    Es werden also Hoffnungen geschürt, die aber fast immer enttäuscht werden.

    Frage: Wäre es für die meisten Uni-Absolventen nicht besser sich einen Job ausserhal der Uni zu suchen?
    Und stimmt folgende Aussage aus obigem Text wirklich: :

    Man sollte auch mal auf die demografische Entwicklung schauen: Wer soll denn die ganzen qualifizierten Jobs noch ausführen, wenn in den nächsten Jahren immer mehr Babyboomer in den Ruhestand gehen?

    Frage: Sind Uni-Jobs die qualifizierten Jobs, welche die Babyboomer-Lücke auf dem Arbeitsmarkt füllen? Oder sind es nicht vielmehr die Jobs in der Privatwirtschaft?
    Oder besteht etwa das Problem darin, dass viele/einige universitäre Ausbildungen sich in der Privatwirtschaft gar nicht umsetzen lassen, dass man also nach Studium X entweder an der Uni landet oder auf der Strasse?

  4. @Kremasthausen: Fördergelder

    Diese Summe orientiert sich an dem sogenannten Vidi-Programm der niederländischen NWO. Diese Förderung im mittleren Bereich (eine kleinere “Veni” über €250.000 habe ich selbst eingeworben) ist für vielversprechende Forscher, die damit ihre eigene Gruppe aufbauen sollen. Bei “Vici” geht es dann um Millionenbeträge. Auf europäischer Ebene gibt es bei bestimmten ERC-Programmen ähnliche Summen.

    Diese Wettbewerbe sind aber so kompetitiv, dass meist nicht mehr als 10-15% den Zuschlag bekommen. Und wie ich hier ausführte, geht es dabei nicht immer mit rechten Dingen zu.

  5. @Holzherr: Privatwirtschaft

    Bestimmte Probleme löst die Privatwirtschaft besser, da stimme ich Ihnen zu; die allgemeinere Frage ist dann aber, ob Profitinteressen das einzige oder maßgebliche Kriterium sein sollen. Wenn ja, dann könnte man die öffentlichen Fachhochschulen und Universitäten (und konsequenterweise alle Schulen) abschaffen, und die Menschen nur noch an einer “Mercedes-Universität”, der “Allianz-Hochschule” usw. ausbilden.

    Meiner Meinung nach braucht eine gut funktionierende Demokratie neue Ideen; und dafür braucht man einen unabhängigen Raum. Und auch für die Ausbildung in diesem bereich braucht man gute Dozenten. Siehe auch: Worum geht es in der Wissenschaft?

  6. @Stepan Schleim (Zitat):

    Bestimmte Probleme löst die Privatwirtschaft besser, da stimme ich Ihnen zu; die allgemeinere Frage ist dann aber, ob Profitinteressen das einzige oder maßgebliche Kriterium sein sollen.

    Sie würden also sagen, dass ein Psychologe mit eigener Praxis von Profitinteressen gesteuert ist.
    Selber denke ich, dass die Arbeit in der Privatwirtschaft das Normale ist und das Normale sein sollte, denn das Normale sollte doch sein, dass es so etwas wie Kunden gibt, also Leute, die einen Nutzen von mir, meiner Ausbildung und Arbeit sehen wollen.

  7. @Holzherr: Nutzen

    …dass ein Psychologe mit eigener Praxis von Profitinteressen gesteuert ist.

    Wie kommen Sie jetzt darauf?

    Aber ja, erstens hat die Mainstream-Psychologie sich ca. seit dem ersten Weltkrieg darauf spezialisiert, Menschen “effizienter” zu machen…

    …und zweitens muss sich ein Psychotherapeut i.d.R. an die Regeln des Systems halten, um seine Dienste abrechnen zu könnne.

    …so etwas wie Kunden gibt, also Leute, die einen Nutzen…

    Sind Menschen, denen etwas nutzt, gleich “Kunden”? Ich dachte beispielsweise, ich hätte hier auf meinem Blog Leser, keine Kunden.

    In dem Kunden-Denken äußert sich meines Erachtens schon eine Verengung auf Marktmaßstäbe.

  8. @Kommerzieller Bereich

    Die meisten Uniabsolventen gehen nach dem Studium ja auch irgendwo in die Anwendung, wo dann letztlich meistens Geld verdient wird. Aber die forschen dann auch eher nicht. Der Psychologe mit eigener Praxis forscht wenig, bildet sich höchstens weiter.

    Die Forschung müssen letztlich oft die Unis machen, weil vieles eben nicht profitabel wäre. So ist es ziemlich ungut, dass man die Medikamentenentwicklung einfach komplett den Pharmafirmen überlässt. Dummerweise forschen die so, wie sie am meisten Geld verdienen können. So fehlen etwa Neuentwicklungen von Antibiotika, wie auch Psychopharmaka, die man nur kurzfristig einnehmen muss, weil das nicht lukrativ genug ist.

    Hier müsste man unbedingt auch an öffentlichen Universitäten die Medikamente entwickeln, die die Pharmafirmen nicht interessieren. So haben etwa auch die staatlichen Förderungen die schnelle Entwicklung der Coronaimpfstoffe erst möglich gemacht.

    Staatlich finanzierte Grundlagenforschung ist auch wichtig, wenn sie dann frei verfügbar für alle ist. Das ist Privatwirtschaftlich nicht möglich, die halten dann ihre Patente, und die Erkenntnisse kommen zunächst nur den Privatfirmen zugute. Nur damit kämen wir überhaupt nicht mehr vorwärts. Wenn überhaupt, dann bei den Chinesen, wo vermutlich der lenkende Staat dafür sorgen kann, dass die Erkenntnisse der einzelnen Firmen geteilt werden, wenn das Sinn macht.

    Und Forschung kann grundsätzlich auch einfach nur hochinteressant sein. Astronomie etwa ist fast vollständig nur der menschlichen Neugier geschuldet. Und das ist, finde ich, mit das wichtigste Fachgebiet von allen. Kommerziell ist diese Forschung sinnlos, höchsten die Fachzeitschriften können hier privatwirtschaftliche Erträge eintreiben, und eben mit der Neugier ihrer Leser Geld verdienen.

  9. @Jeckenburger: Psychopharmaka

    Den Bereich haben die Firmen ja vor inzwischen rund zehn Jahren aufgegeben, weil er als nicht mehr lukrativ genug galt. Stattdessen vermarktet man alte Mittelchen immer wieder neu.

    Was, wenn es einfach keine “Wunderpillen” für psychische Störungen gibt?

  10. @Stephan Schleim (Zitat): „ Was, wenn es einfach keine “Wunderpillen” für psychische Störungen gibt?“
    Antwort: Was, wenn es einfach keine „Wundertherapien“ für psychische Störungen gibt?

    Die gibt es nämlich nicht. Gesprächstherapien oder die Freud‘sche Tiefenanalyse haben schon zu Freud‘s Zeiten zu Dauertherapien geführt von denen die Betroffenen nicht mehr weggekommen sind.
    Verhaltenstherapien wirken für bestimmte, eher seltene Krankheitsbilder, können aber eine Depression nicht nachhaltig auflösen.

    Psychoaktive Medikamente sind nicht selten die einzigen Mittel, die mindestens vorübergehend Linderung verschaffen. Kaum jemand, weder Patienten noch Ärzte sind aber zufrieden mit den heute zur Verfügung stehenden therapeutischen Mitteln – auch nicht mit den zur Verfügung stehenden Medikamenten.

    Aktuell lese ich in einer Sonntagszeitung gerade wieder über Psychedelika wie Ahayusa, LSD und Psilocibin, welche in der Lage seien Erinnerungen zu reorganisieren, so dass sich der Patient neu orientieren könne, was auch in der Depression helfe. Sie Stephan Schleim haben sich in einem früheren Beitrag ja auch einmal positiv zu solchen Herangehensweisen mit Psychedelika geäussert. Nur sehe ich ehrlich gesagt keinen generellen Unterschied zu anderen Pharmaka. Ganz früher konnte man ja berauschende Stoffe sogar in der Apotheke erhalten.
    Über Psychedlika als Mittel der Therapie wird ungefähr alle 10 Jahre wieder ausführlich diskutiert. Es liest sich jedesmal ganz ähnlich.

    Auch hier sind aber keine Wunder zu erwarten.

  11. @Holzherr: Wunder

    Vielleicht gibt es überhaupt keine Wunder?

    Eine Psychoanalyse mag Jahre dauern, ja; aber nicht ewig. Es gab seitdem viele Weiterentwicklungen, die i.d.R. viel kürzer dauern.

    Manche Menschen haben halt mehr mit Problemen zu kämpfen als Andere. Manchmal hat das soziale, manchmal persönliche, manchmal biologische Ursachen – oder eine Kombination von alldem. Wenn es keine realistische Lösung gibt, muss man eben lernen, damit zu leben.

    In den letzten Jahrzehnten wurden aber immer mehr Probleme in den medizinischen Bereich geholt. Das heißt “Medikalisierung” und ist sehr gut belegt. Daran verdienen dann Ärzte, Therapeuten, die Pharmafirmen usw. Das ist doch klasse, wenn man seine “Kundschaft” immer weiter vergrößern kann, per Definition; so klingelt die Kasse!

    Und Psychedelika, ja, die werden zurzeit wieder gehypet. Ich sehe nichts wesentlich Neues. In diesem Sinne: Siehe den vorherigen Absatz.

  12. @Stephan 04.07. 12:22

    „Und Psychedelika, ja, die werden zurzeit wieder gehypet. Ich sehe nichts wesentlich Neues. In diesem Sinne: Siehe den vorherigen Absatz.“

    Immerhin sind die Psychedelika ja gerade Mittel, die nur ganz kurz angewendet werden. Die derzeitigen Medikamente gegen Depression und Psychosen müssen leider langfristig, oft lebenslänglich eingenommen werden. Und können dabei auch noch über die Jahre an Wirksamkeit verlieren.

    Dies liegt am Wirkungsansatz: hier werden die Synapsen bei Depressionen hochgeregelt bzw. bei Psychosen heruntergeregelt, und so versucht man die Psyche zu normalisieren. Derweil kann es passieren, dass der Mensch nur noch weniger bzw. noch mehr Synapsen entwickelt, und die Wirkung entsprechend nicht dauerhaft optimal bleibt.

    Vor allem aber kann die Symptomatik ziemlich schnell wieder zurückkommen, sobald man versucht, die Medikamente abzusetzen.

    Wenn man Medikamente hätte, die bei Depression nicht die Synapsen hochregeln, sondern einfach die Bildung neuer Synapsen fördern, dann könnte man nach einer Weile diese Medikamente jederzeit wieder absetzen, die entsprechend neugebildeten Synapsen würden dann ja in jedem Fall erhalten bleiben. Entsprechend andersherum bei Psychosen, da wäre es attraktiv, wenn man ein synapsenabbauendes Medikament hätte, dass dann nach ein paar Wochen wieder abgesetzt werden kann, weil es eben die überzähligen Synapsen abgebaut hat. Und so hätte man zumindest das biologische Problem des Patienten mittelfristig gelöst.

    Die sozialen Probleme auch anzufassen wird dies nicht ersetzen können, aber dieser Drehtüreffekt, dass die Patienten mal wieder ihre Medikamente abgesetzt haben, und dann umgehend in die nächste Krise geraten, der wäre dann schon mal entschärft.

    Das Fehlen einer vernünftigen Beschäftigung ist in jedem Fall bei den meisten Kranken das größte Problem, das kann man biologisch nicht lösen. Keiner kann ohne vernünftige Beschäftigung vernünftig leben. Auch die beste Psychotherapie kann das nicht wirklich leisten. Die könnte höchstens dazu beitragen, dass sich Mensch jenseits von Erwerbsarbeit eine ausfüllende Beschäftigung selber aufbaut.

    Und der allgemeine Leistungswettkampf in dieser Leistungsgesellschaft macht das Leben dann auch nicht einfacher. Das System ist ja fast darauf aus, dass Minderleistenden kein richtiger Platz zum Leben gelassen wird. Das fängt in der Schule an, setzt sich mit Harz4 und Niedriglohn fort und endet dann in Altersarmut. Und der so erzeugte Leistungsdruck führt auch bei Vielen nicht zum Glück, die noch gerade so hinterherkommen. Wobei dann der folgende Konsum der Gewinner in diesem Wettbewerb auch noch zu ziemlichen ökologischen Problemen führt.

  13. @Tobias Jeckenburger:
    Zitat 1: Immerhin sind die Psychedelika ja gerade Mittel, die nur ganz kurz angewendet werden.
    Zitat 2: Das Fehlen einer vernünftigen Beschäftigung ist in jedem Fall bei den meisten Kranken das größte Problem,

    Ja, neue Therapien ob nun Psychedelika, andere Medikamente oder gar Hirnschrittmacher sind für psychische Krankheiten dringend gesucht, denn viele dieser Krankheiten sind invalidisierend und führen tatsächlich zum Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und damit meist auch zum Verlust einer sinnstiftenden Tätigkeit.

    Ich behaupte Psychiater und Psychologen, die mit psychisch Kranken umgehen und ihre Lebensumstände kennen, sehen das genau so.

    Nichts wäre aber besser, als wenn ein Medikament alle Probleme lösen würde, denn genau das will ja ein ernsthaft Kranker: auf Knopfdruck wieder gesund werden. Leider sind die Aussichten, über ein solches Medikament irgendwann zu verfügen, äusserst gering.

    Die heutige Psychiatrie hat aber zum Ziel die Patienten so gut es geht ins normsle Leben zurückzuführen.

  14. @Jeckenburger: Antidepressiva waren eigentlich auch nicht für den Langzeitgebrauch gedacht, jedenfalls nicht Jahre bis Jahrzehnte, und es gibt meines Wissens kaum Studien über einen längeren Zeitraum als ein halbes Jahr.

    Aber klar, wenn man keine Ursachen, sondern nur die Symptome behandelt, dann muss man natürlich immer weiter machen.

  15. Feste Verträge für akademische Mitarbeiter an Unis verbessern sicherlich die Lebenssituation des akademischen Nachwuchses. Das ist schon sehr viel. Und für die Unis und die etablierten Professoren bedeutet es, dass sie entmutigt werden mit „Zuckerbrot und Peitsche“ zu regieren.

    Vielleicht geht damit den Professoren und Unis auch etwas an Flexibilität verloren, denn in der Situation vorher mit befristeten Zeitverträgen und anderen provisorischen Arbeitsverhältnissen, befand sich der akademische Nachwuchs ständig auf dem Prüfstand, so ähnlich wie ein Student, der nicht weiss ob er die nächste Prüfung besteht. Es könnte auch, vor allem längerfristig, zur Folge habe, dass deutlich mehr Anträge auf eine Anstellung an der Uni (hier an den niederländischen Unis) künftig abgeschlagen werden, weil ja der feste Vertrag eine längerfristige Bindung bedeutet – und das will gut geprüft sein.

    Aber auch das, die Zurückhaltung vor der Festanstellung, muss nicht schlecht sein. Ein Anwärter, der von seiner akademischen Traumstelle (oder Stelle überhaupt) abgewiesen wird, wird sich dann ausseruniversitär umsehen und damit wiederum im Lebensrückblick besser fahren, als wenn er nach 10 Jahren Uni plötzlich auf der Strasse steht.

  16. @Holzherr 04.07. 16:45

    „Nichts wäre aber besser, als wenn ein Medikament alle Probleme lösen würde, denn genau das will ja ein ernsthaft Kranker: auf Knopfdruck wieder gesund werden. Leider sind die Aussichten, über ein solches Medikament irgendwann zu verfügen, äusserst gering.“

    Klar können Medikamente wohl nur die biologische Probleme lösen. Aber ich denke doch, dass es möglich sein kann, Medikamente zu entwickeln, die nur ein paar Wochen genommen werden müssen. Und hier ist auch klar, dass eine Pharmafirma ihre eigenen Geschäfte mit den Dauermedikamenten schädigen würde, und eben da nicht aktiv werden wird. Deshalb ja mein Vorschlag, das eben auch die Universitäten mit öffentlichen Geldern versuchen sollten, Medikamente zu entwickeln, die sonst finanziell unattraktiv sind.

    Für neue Antibiotika wird das ja auch schon lange gefordert. Das wäre vermutlich sehr gut angelegtes Geld.

    „Die heutige Psychiatrie hat aber zum Ziel die Patienten so gut es geht ins normale Leben zurückzuführen.“

    Hat sie, und macht sie auch. Allerdings ist es leider oft ein Leben als Langzeitarbeitsloser, was dann doch wieder spezielle Anforderungen sind. Seit einigen Jahren gibt es das EX-IN-Projekt, wo Psychiatrie-Erfahrene als Experten aus Erfahrung ausgebildet werden. Für diese gibt es inzwischen feste Stellen in den Kliniken und den Wohnheimbereichen, und das ist tatsächlich auch ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Ansonsten bleiben noch die Behindertenwerkstätten, die aber eher zu wenig fordern, und auch nur sehr wenig Einkommen anzubieten haben.

    Ein besserer Zugang für die unteren Bereiche des ersten Arbeitsmarktes wäre ein Fortschritt, aber wenn man sich auch selber Beschäftigen kann, etwa in der Selbsthilfe, so ist das auch eine Lösung.

  17. Der SPON-Artikel Hört auf Hanna! hat die prekären Arbeitsverhältnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland zum Thema und beginnt mit zwei wunderschönen Rechtfertigungssprüchen aus der deutschen Kollektion von Redewendungen:
    1) »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«
    2) »Nur die Harten kommen in den Garten«
    Die „Moral“ hinter diesen Sprüchen und die Rechtfertigung für die ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen des Uni-Nachwuchses fasst die Autorin so zusammen:

    Hier wird die Karriere als ein Wettkampf interpretiert, in dem man sich nicht nur qualifizieren, sondern seine eigene Position erkämpfen muss. Dabei müssen Mitbewerberinnen besiegt werden, die mit kürzerem Atem bleiben auf der Strecke.

    Ja, es scheint schon so oder ist vielleicht sogar so, dass es nicht allen gut geht in Deutschland. Und zwar nicht unbedingt weil es in Deutschland noch viel materielle Armut gibt, sondern eher, weil es in Deutschland noch eine falsche Herren-/Diener-Moral gibt oder vielleicht so etwas gibt wie eine bis in 3.Lebensjahrzehnt verlängerte, bewusst geschaffene Unmündigkeit. Unmündig gehalten wird der akademische Unterbau vom akademischen Überbau vielleicht auch darum weil „unter den Talaren noch immer der Muff von tausend Jahren“ steckt.

  18. @Holzherr: Begriffe

    Danke für den Hinweis.

    Auf die Rede vom “Nachwuchs” sollte man aber besser verzichten – schließlich geht es oft um Menschen in den 30ern und 40ern. Daher geht das Problem über das “3. Lebensjahrzehnt” (20er) hinaus.

  19. @Gedränge an den Unis

    Vielleicht versuchen auch zuviele, an den Unis Karriere zu machen, und auch überhaupt versuchen mehr Studenten ein Diplom zu ergattern, als hinterher gebraucht werden. Das führt zu einer Überausbildung, die in jedem Fall schon mal Zeitverschwendung sein kann.

    Ein NC reduziert das Problem, aber dann lernen die Abiturienten nur noch mehr, was dazu führt, dass der Leistungsdruck in den Schulen noch weiter steigt. Besser wäre sicher eine gute und ausführliche Berufsberatung, wenn das hier zu mehr Vernunft führt, dann reduziert das auch gleich das Gedränge an den Unis.

    Die Idee mit dem 12-Jahre-Abitur war eigentlich richtig gut. Man hat sich hier nur nicht darauf einigen können, welchen Stoff man dafür streichen soll. Sieht fast so aus, als hätten sich hier die Lehrer durchgesetzt, damit hier keine Stellen abgebaut werden.

    Insgesamt wäre es für viele günstiger, wenn die Ausbildungszeiten kürzer wären. Eltern, die sich das leisten können, ihre Kinder bis 27 finanziell zu unterstützen, werden wohl auch immer seltener. Und auch könnte das so manchen Arbeitgebern sogar entgegenkommen. Die wollen ja vor allem die intelligentesten haben, und die erkennt man dann eben an den guten Noten. Aber wirklich schlauer wird da keiner von, und wenn die vielen Lerninhalte der ewig langen Ausbildung in dem Ausmaß gar nicht gebraucht werden, dann wäre das günstig, hier weniger zu lernen und früher in den Beruf einzusteigen.

    12 Jahre Gymnasium plus 4 Jahre abgespecktes Studium kann dann eigentlich meistens reichen, dass man spätestens mit 23 in den Beruf einsteigen kann, das wäre wohl meistens genug der Theorie. Irgendwann will man zwischendurch ja auch noch Kinder kriegen, und nicht das ganze Leben nur auf Ausbildung und Arbeit ausrichten.

    Wer an der Uni bleiben will, sollte sich das vielleicht vorher noch mal überlegen, und auch gleich danach gucken, wieviele andere das auch versuchen, und wie da die aktuellen Chancen stehen.

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