Gletschersagen als Quellen zur Klimageschichte

BLOG: Geschichte der Geologie

Was die Steine erzählen und wie wir sie verstehen lernten
Geschichte der Geologie

„Ob die Gletscher vorher jemals diese Größe erreicht haben oder nicht? – können wir bey dem tieffen Stillschweigen aller älteren Schriftstellen so eigentlich nicht wissen. Aber die Gränzen derselben haben sie vor diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nie überschritten, spätere Revolutionen der Erde müßten dann nachher die zurückgebliebenen Merkmale überall gänzlich vertilget haben.  Aber ziemlich bestimmt wissen wir hingegen, daß sie sich seit dieser außerordentlichen Vergrößerung niemals wieder ganz in ihre ehemaligen Gränzen zurückgezogen haben.“ So beschreibt der Gletscherforscher B.F. Kuhn um 1787 den Gletschervorstoß des 17. und 18. Jahrhunderts in den Alpen. Tatsächlich gibt es nur wenige schriftliche Quellen über Gletscher die älter sind. Der griechischer Geschichtsschreiber Strabon 63 v.Chr. bis 23 n.Chr.) erwähnt nur beiläufig Gletscher als eine der Gefahren im Gebirge: „…ebenso wenig gegen die herabstürzende enormen Schneemassen, welche die oberste Schicht der Gletscher bilden und die ganze Convois hinwegfegen und von der Straße in den Abgrund reißen. Ein Gletscher besteht bekanntlich aus vielen verschiedenen Schichten, die horizontale übereinander liegen, weil der Schnee in dem Maß, wie er fällt und sich häuft, hart wird und kristallisiert;…“ Im Mittelalter werden Gletscher als Orte der kalten Pain, wo die Seele des Sünders auf ewig im Eis eingeschlossen wird, verteufelt und totgeschwiegen. Erst um 1574 beschreibt der Züricher Theologe Josias Simler in seiner „Vallesiae Descriptio“ den Rhonegletscher. Die erste bekannte Gletscherdarstellung überhaupt wurde um 1601 von Abraham Jäger angefertigt, als nämlich der Gletschersee, der durch den Vernagtferner aufgestaut wurde, das Ötztal gefährdete. Der Basler Kupferstecher und Verleger Matthaeus Merina der Ältere publiziert 1642 in seiner „Topographie Helvatiae, Rhaetiae et Valesiae“ mehrere Stiche von Gletschern. Ab dem18. Jahrhundert sind die Gletscher in den Alpen, nun ein beliebtes Reiseziel, gut dokumentiert.

Ein Interessanter Ansatz um die Gletscher im Mittelalter und Altertum zu rekonstruieren, könnten lokale Sagen und Volksgeschichten darstellen. Laut Sage soll sich, wo heute die Pasterze das Tal füllt, einst eine herrliche Alm ausgebreitet haben. Kühe und Milch gab es reichlich und so wurde jeden Tag ein großes Fest gefeiert. Eines Tages nutzen die Bauern die Buttervorräte als Kugeln und die Käselaibe als Kegel für ein Spiel. Doch als ein armer Musiker um etwas Käse und Brot bat, wurde er harsch abgewiesen. Daraufhin entfesselte sich ein schreckliches Gewitter und im Sturm erstarrten in kürzester Zeit Mensch und Tier zu Eis.  Ähnliche Sagen gibt es auch vom Vernagtferner (Ötztaler Alpen), Marmolata (Dolomiten), Mer de Glace (Mont Blanc), Lötschenalm (Schweizer Wallis), Blüemlisalp (die übergossene Alm, Schweizer Thun) und Dachstein-Gebirge. Unter dem Vernagtferner liegt eine Stadt aus Gold verborgen. Laut Legende wuchsen in der Nähe der goldenen Stadt Dananä, auf über 2.500m Seehöhe gelegen, Weinreben.  Doch zur Strafe für den Geiz der Bewohner wurde die Stadt vom Vernagtferner überdeckt. Im Schweizer Lötschental soll Obst- und Weinbau bis in große Höhe möglich gewesen sein, nur die Sommer waren oft zu trocken.  Daraufhin riet ein Zauberer man sollte Eis von sieben verschiedenen Gletschern ins Tal bringen, die das Tal abkühlen sollten. Doch bald begonnen die Eisstücke zu wachsen und das Tal wurde vom neuen Gletscher verschlungen.
Im Österreichischen Tuxer Tal erklären verschiedene Sagen-Versionen die „gefrorene Wand“. Dort stand vor langer Zeit die schönste Alm im Tal, die aber einen rechten Geizhals und Menschenschänder gehörte. Einst arbeitete er am Vorabend von „Hoachn Frauenabnd“ (Maria Himmelfahrt), trotz des Brauches dem Gesinde eine freien Tag zu gönnen. Ein heftiger Sturm zog auf, und als die Leute am nächsten Tag zurückkamen lag auf der Alm eine Schicht von Schnee und Eis.

Dieser Sagentyp wird als Übergossene Alm/Blümelisalp-Sagentyp bezeichnet und ist bis um 1700 nachweisbar. Vielleicht hat dieser Sagentyp seinen Ursprung in tatsächlichen klimatischen Begebenheiten. Im Laufe des 13. zum 15. Jahrhunderts erlebte die Almwirtschaft in den Alpen eine Hochblüte, wie zahlreiche Hochalmen in höheren Gebirgsregionen bezeugen. Im 16. Jahrhundert kam es aber zu einer merklichen Klimaverschlechterung und Gletschervorstöße die sich auch auf die Almwirtschaft auswirkten. In klimatisch ungünstigen Zeiten, und wenn Gletscher wuchsen, kam es zu späteren Auftriebs- und frühere Abtriebszeiten und oftmals mußte ein Kuhhimmel in ein Schafgebirge umgewandelt werden. In einer zeitgenössischen Chronik heißt es “Und ein Ferner, der sich weit vorgeschoben, hat sie [die Weide] so sehr verdorben, dass sie jetzt nur mit Galtvieh befahren wird.”

Credit: David Bressan

Der Naturkundler Gottlieb Sigmund Grüner (1717–1778) schreibt um 1760: “Die Bewohner des Hasli-Tals im Kanton Bern klagen, dass die immer größer werdenden Eismassen sich ganze Täler bemächtigt und fruchtbares Land unter sich begraben haben […] Die Grindelwalder klagen, dass eines ihrer kleinen Täler, das heute unter Eis verschüttet liegt, früher zugänglich war und man es passierte, um die Bäder von Ficher im Wallis aufzusuchen. Die Leute von Lauterbrunnen versichern, dass die Hänge ihrer Berge früher herrliche Weiden waren; […] heute jedoch sind alle diese gebiete unter Eisschichten begraben. Die Bewohner des Silben-Tals sagen, dass die Eismassen vom Gelten und Roestli nach und nach das fruchtbare Land vereinnahmen.“

Diese Beobachtung wird sogar vom großen Naturforschere Buffon in seiner “Histoire Naturelle” (1799) aufgenommen: “Diese ausgedehnten Eisflächen sind weit davon entfernt zu schrumpfen, sondern werden immer größer und umfangreicher; sie schlucken alles angrenzende und tiefer liegende Gelände; man erkennt das an den Wipfeln der großen Bäume und sogar an den Kirchturmspitzen, die aus den Eismassen herausragen und die nur in manchen heißen Sommern sichtbar werden, weil dann das Eis um ein paar Meter abschmilzt; an manchen Stellen ist die Eismasse jedoch etwas hundert Klafter dick und seit Menschengedenken nicht geschmolzen. Es liegt daher nahe, dass die Wälder und der Kirchturm, die in dickem und ewigem Wis eingeschlossen sind, auf Boden stehen, der vor langer Zeit entdeckt und besiedelt wurde, als es nicht so kalt war wie heute.”

Der Sagentypus der Übergossene Alm könnte eine Art von mündlich weitergegeben Erinnerung daran sein, wie einst fruchtbare Almen durch die Klimaschwankungen notgedrungen aufgegeben werden mussten. Den Menschen der damaligen Zeit waren die Mechanismen hinter den Klimawandel unbekannt, allerdings konnten sie die Auswirkungen miterleben und suchten deshalb eine übernatürlich Erklärung, in der Form einer Bestrafung Gottes.

Möglicherweiße beruhen manche Sagen auf noch ältere Beobachtungen und Klimaschwankungen. Mittelsteinzeitliche Jäger sind in den Hohen Tauern um 9.000-5.000 v.Chr. nachweisbar. Um 5.500 bis 2.500 BP sind Brandrodungen nachweißbar, mit denen Wald durch Wiesen ersetzt wurde, ob bereits für Beweidung ist unklar. Ab dem 4. Jahrtausend ist Almwirtschaft über der Baumgrenze belegbar, in der Form von Sommerweide für Schafe und Ziegen. Der Höchstand der Waldgrenze in den Alpen wurde im Atlantikum (8.000-5.000 BP) auf 2.300-2.500m SH erreicht. Natürliche, klimabedingte Schwankungen betrugen 150-200m, erst der Mensch drückte die Waldgrenze um mehrere hunderte von Metern nach unten. Im Klimaoptimum um 1180-1300 war die Baum- bzw. Anbaugrenze in den europäischen Hochgebirge noch um 100-200m höher als heute. Aussagen in Sagen wie „I denk die Villander Alp neunmal Wies und neunmal Wald“ (aus einer Sage vom Villander „Almkoat“, einem Wesen halb Mensch-halb Tier) könnten sich auf die Nutzungsänderungen oder die Auflassung von Almen, Mensch- und Klimabedingt, berufen. Aufgelassene Almen wurden rasch von Wald zurückerobert. Sobald das Klima es zuließ kam aber der Mensch zurück um die gewachsenen Bäume zu fällen.

Auch Almenbezeichnungen in den Alpen scheinen sich auf die alten Zeiten, als Hochalmen noch klmatisch bedingt weiter verbreitet waren, zu beziehen. Der Name Pasterze bezieht sich zum Beispiel auf Weideland. Die Bezeichnung ist romanischen Ursprungs, wobei nicht klar ist ob sich der Begriff direkt auf das Gletschergebiet oder nah gelegenes Weideland bezog.

Auch in den Dolomiten scheinen ähnliche Sagen von einer Veränderung des Klimas inspiriert worden zu sein, vielleicht von einer niederschlagsreichen Phase zu einer eher trockenen Zeit. Einst kam ein Fremder in das Grödental mit seiner Herde auf der Suche nach noch freien Weideplätzen Er wurde von den  Einwohnern in das Val dla Salieres (Wasserrinnental) geschickt – ein ödes Steinkar am Fuße der Geisler. Kurz bevor seine Herde verdurstete tauchte eine junge Gana auf. Ganas und Salvans sind ladinische Sagenfiguren die dem Menschen meist gut gesinnt sind. Sie haben besondere Naturkräfte und personifizieren diese auch. Einst wurden damit wohl die von den Siedlern in die Berge verdrängten Ureinwohner bezeichnet, die von den Bergen und ihren Gesetzmäßigkeiten  noch mehr wussten als die neuen Generationen der rodenden Bauern. Sie zeigte ihn einen Weg zu einem geheimen Felsentor, das sich öffnete und ein klarer Wasserbach trat hervor. Das Wasser floss über das Steinkar und bald wuchs Gras und eine reiche Alm entstand. Eines Tages aber jagte der hochnäßig gewordene Bauer die Gana fort… die Gana floh, aber am Felsen angekommen drehte sie sich um und verwünschte die Alm.
Die Quelle versiegte und die Alm verödete und heute sind am Fuß der Geisler nur mehr ausgetrocknete Steinkare anzutreffen. Wo einst die Herden prächtig gediehen, ergießen sich aus dem Val Ega und Val dla Salieres heute unaufhaltsam Schuttströme auf die einstigen Weiden von Cisles. Die Steinhalde wird sich stetig ausbreiten und schließlich auch die fruchtbaren Cisles und Mastlé Almen überlahnen und bis weit hinunter ins Tal alles Leben ersticken.

Allerdings zeigen neuere Forschungen ein wesentlich komplizierteres Bild, zumindest in der Neuzeit. In klimatisch ungünstigen Phasen wurde zumeist die Nutzung der Hochgebirgsregionen geändert, nicht völlig aufgegeben. Wenn Not auch in Tallagen herrschte war eine völlige Aufgabe kaum möglich, eher wurde versucht Dauersiedlungen in Almen umzuwandeln oder Almen in Hochweiden für Kleinvieh oder auch nur Mähwiesen bzw. Almmatten. Die Bewirtschaftung der Almmatten ermöglichte es so zumindest das Vieh im Tal, mit zusätzlicher und dringend benötigter Nahrung zu versorgen.

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David Bressan ist freiberuflicher Geologe hauptsächlich in oder, wenn wieder mal ein Tunnel gegraben wird unter den Alpen unterwegs. Während des Studiums der Erdwissenschaften in Innsbruck, bei dem es auch um Gletscherschwankungen in den vergangen Jahrhunderten ging, kam das Interesse für Geschichte dazu. Hobbymäßig begann er daher über die Geschichte der Geologie zu bloggen.

4 Kommentare

  1. Man muss gar keine Sagen bemühen, im 18. Jahrhundert war das Wetter im Sommer so kalt, dass das Vieh auf der Weide erfror. Gerade in Österreich zeigen kirchliche Aufzeichnungen solche Klimaextreme.
    Dagegen war es im Kaunertal letztes Jahr so warm, dass auf dem Gletscher in 2800 m Höhe +9,5 Grad gemessen wurden.
    Donald Trump hätte man einladen sollen für einen kostenlosen Urlaub.

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