Über Bestenauslese, Zeitaufwand und Diversität

BLOG: Über das Wissenschaftssystem

Betrachtungen von Menschen und Strukturen in Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen
Über das Wissenschaftssystem

Bestenauslese bleibt eine Lüge, solange das deutsche Wissenschaftssystem Diversität verhindert“ – vor ein paar Tagen hat eine der Initiator*innen von #IchBinHanna, Amrei Bahr, einen Beitrag gepostet mit diesem Titel. Das klingt ziemlich provokant. Aber ich kann ihr nur zustimmen, denn die verfügbaren Zahlen geben ihr Recht

Als Gründe führt sie u.a. an, dass statt exzellenter Fähigkeiten & Ideen in Forschung & Lehre ganz andere Anforderungen zu erfüllen sind; z.B.:

… Jahre mit Unsicherheiten durch Kettenbefristung (& nicht selten Arbeitslosigkeit) aushalten,

… mangelnde Perspektiven auf unbefristete Beschäftigung aushalten,

… zig Überstunden machen (oft mehr als 10 pro Woche), usw.

„Bestenauslese“ oder doch Chancenungerechtigkeit?

Ich möchte dies nachfolgend noch bekräftigen, und zwar bezogen auf die Arbeitszeit und inwiefern dies mit „Bestenauslese“ zu tun hat – oder doch vielmehr mit Chancenungerechtigkeit und Diskriminierungen bezogen auf diesen bisher wenig empirisch beleuchteten Aspekt. Und zwar geschieht dies hier durch einen Vergleich von Arbeitszeitverteilungen in Deutschland und Norwegen, den Kolleginnen vom NIFU Oslo und ich für die STI Conference 2023 erarbeiteten:

Demnach haben deutsche Doktorand*innen und Postdocs, also sogenannte Nachwuchsforschende, trotz der vielen Überstunden deutlich weniger Zeit für Forschung als ihre Kolleg*innen in Norwegen; Postdocs anteilmäßig sogar nur etwa halbsoviel. Im Gegenzug wenden Postdocs in Deutschland etwa viermal soviel Zeit auf für „Administration/Funding acquisition etc.“. Der Zeitanteil für die Lehre ist dagegen etwa gleich hoch oder relativ wenig höher (Quelle: https://www.researchgate.net/publication/370784348).

Frauen noch einmal weniger Zeit für Forschung

Diese gilt übrigens für alle untersuchten Fächergruppen – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Allerdings wenden in mehreren Fächergruppen Frauen noch einmal weniger Zeit für Forschung auf als Männer in derselben Qualifikationsphase, und dafür oft für Lehre mehr (nur in den Lebenswissenschaften gab es einen gegenteiligen Effekt). Teilzeittätigkeit spielt dabei keine Rolle, da es hier nur für Vollzeittätige verglichen wurden. (Die Analyse von Teilzeitätigen erfordert gesonderte Berechnungen.) 

Ein weiteres Ergebnis ist, dass (Nachwuchs-)Forschende mit deutscher Staatsbürgerschaft deutlich weniger Zeit für Forschung aufwenden als ihre nichtdeutschen Kolleg*innen (was letzteren aber aufgrund des “Karrieregefälles“ (Wiarda) für ihre Chancen auf einen Ruf in Deutschland dennoch wenig nützt, und das seit über einer Dekade – soviel zu den Themen Internationalität und “Bestenauslese”. Auch unter den Nichtdeutschen gilt wiederum, dass Frauen weniger Zeit für Forschung aufwenden.

Für (Nachwuchs-)Forschende mit Migrationshintergrund – was eigentlich für die Analyse von Bildungschancen eine bessere Gruppierung gewesen wäre, liegen leider nicht genug Daten von beiden Ländern vor. Immerhin gibt es seit einiger Zeit eine Analyse zu den Chancen einer Person mit Migrationshintergrund in Deutschland auf einen Doktortitel.[1]

Wo höhere Forschungsproduktivität?

Mit der Analyse der aufgewandten bzw. aufzuwenden möglichen Zeit ist aber noch keineswegs die Frage geklärt, in welcher Konstellation eine höhere oder niedrigere Forschungsproduktivität zu finden ist (was zumindest ein Indiz für “Bestenauslese” sein könnte). Hierbei wäre es nicht unwahrscheinlich, dass (Nachwuchs-)Forschende mit Kinderbetreuungs- oder Pflegeverpflichtungen ihre verfügbare (Forschungs-)Zeit effektiver nutzen und damit höhere Leistungen erbringen (wenn man sie angemessen erfasst als Arbeit pro Zeiteinheit[2] – weshalb z.B. die DFG vor einiger Zeit die Grundidee des „akademischen Alters“ anstelle des biologischen Alters für ihre Förderverfahren aufgriff). Diese Frage ist aufgrund der aktuellen Datenlage insbesondere für Deutschland aber empirisch nicht ganz einfach zu beantworten und ihr wollen wir daher angelehnt an norwegische Vorarbeiten in künftigen Analysen intensiver nachgehen…  

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[1] Nach dieser Analyse sind die Chancen nur halb so hoch wie bei einer Person ohne Migrationshintergrund. Außerdem ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die geringeren Chancen bei intersektionaler Betrachtungsweise z.B. für Frauen ohne Akademikereltern und mit Migrationshintergrund multiplizieren und damit noch um ein Mehrfaches geringer ausfallen.

[2] Transparenzhinweis: Zum weiteren Themenkreis dieses Blogbeitrags hielt der Verfasser den Vortrag “Leistungsbewertung in der Wissenschaft” für die Graduiertenakademie der Universität Jena und das Tenure-Track-Netzwerk und erhielt für dessen Vorbereitung ein Honorar in üblicher Höhe.

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Dr. René Krempkow bloggte zunächst seit 2010 bei den academics-blogs, nach deren Einstellung zog er zu Scilogs um. Er studierte Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Psychologie an der Technischen Universität Dresden und der Universidad de Salamanca. Nach dem Studium baute er zunächst am Institut für Soziologie, dann im Kompetenzzentrum Bildungs- und Hochschulplanung an der TU Dresden u.a. eine der ersten hochschulweiten Absolventenstudien in Deutschland auf und erarbeitete den ersten Landes-Hochschulbericht Sachsen. Nach seiner Promotion 2005 zum Themenbereich Leistungs- und Qualitätsbewertung an Hochschulen arbeitete er am Institut für Hochschulforschung Wittenberg am ersten Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) mit. Danach war er im Rektorat der Universität Freiburg in der Abteilung Qualitätssicherung tätig, wo er die Absolventen- und Studierendenbefragungen leitete und eines der ersten Quality Audits an einer deutschen Hochschule mit konzipierte. Von 2009 bis 2013 leitete er am iFQ Bonn/Berlin (jetzt Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung - DZHW) ein bundesweites Projekt zur Analyse der Wirkungen von Governance-Instrumenten (v.a. Leistungsorientierte Mittelvergabe an Hochschulen) und arbeitete im Themenbereich wiss. Nachwuchs und Karrieren mit. Anschließend koordinierte er im Hauptstadtbüro des Stifterverbandes u.a. das Projekt zur Personalentwicklung für den wissenschaftlichen Nachwuchs und den Gründungsradar; sowie an der HU Berlin u.a. ein hochschulweites Projekt zur Kompetenzerfassung, sowie Sonderauswertungen der hochschulweiten Absolventenstudien. Derzeit ist er an der HTW Berlin im Curriculum Innovation HUB im Bereich Wirkungsanalysen und Evaluation tätig, sowie an der IU - Internationale Hochschule. Er berät seit etlichen Jahren Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Ministerien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Leistungs- und Qualitätsbewertung an Hochschulen; Akademische Karrieren und Nachwuchsförderung; Indikatorenentwicklung, Evaluationsforschung; Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungsforschung.

5 Kommentare

  1. Sie leben im Wesentlichen in einem Feudalsystem, das seine Wirtschaft weitgehend ins Ausland verlagert hatte, während es im Grunde als Rentierstaat überleben wollte: Die Globalisierung als Gas- und Ölquelle, etwas Industrie als Mund, der an der Titte nuckelt, der Rest der Deutschen sollte von Sozialhilfe leben. Gewissermaßen als Fürstenhof, dessen Wirtschaft auf Dienstleistungen basierte, also darauf, dass sich alle gegenseitig die Perücken und Popos pudern, Bürokratie und akademischen Berufen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Aktienbesitz und staatlichen Leistungen, um Russland noch ähnlicher zu werden, hatten wir unsere Parteien schon zum Zaren GroKo zusammengelegt. Ein ähnliches System hatten Sie mal in Rom, wo die Sklaven in den Kolonien die ganze Arbeit machten, und viele Römer ihren Lebensinhalt damit bestritten, dem Kaiser zu applaudieren und ansonsten nicht zu stören.

    Freier Wettbewerb macht nur Spaß, solange man gewinnt, sobald man verliert, gilt das Adolf-Prinzip: Wenn du der Beste sein willst, aber total scheiße bist, musst du alle zerstören, die besser sind als du. Also nix mit Titte Globalisierung, Protektionismus und Krieg sind in. Wer jetzt keine Leistung bringt, bringt am besten sein Erspartes mit, reicht vielleicht für einen Sarg.

    Feudalismus rächt sich jetzt an allen Fronten. Das System ist auf maximale Stabilität ausgelegt, darauf, Veränderungen zu sabotieren, die Standesordnung zu wahren. Die Mentalität dient nur dazu, Pfründe und Privilegien zu schützen. Wir können Brot fressen und Brot verteilen, nicht Äcker pflügen und Brot backen. Das Resultat ist das, was man vor 200 Jahren polnische Wirtschaft nannte: Prächtige Adelspaläste auf verbrannter Erde, eingehüllt in stolze, ängstlich knurrende geistige Finsternis, in der nur ab und zu ein Licht aufflackerte. Die Polen waren den Deutschen in allem voraus, auch beim Konzept der Adelsdemokratie und deren selbstverschuldeten Untergangs. Tja, Affen können lernen, indem sie anderen Affen zugucken, Menschen nicht, die müssen alle Fehler selber machen und lernen trotzdem nichts draus.

    Ein Volk von Beifallklatschern braucht keine Bildung. Hirn stört da eher und wird zurückgebildet. Es braucht keine Fachkräfte und keine Wissenschaftler, sondern geistig arme Bettler und einen Klerus. Die Wissenschaft verkommt zum Ritual, wie beim Planet der Affen – die Leute können keine Atombombe bauen, aber sie beten sie noch an, sie kennen die Macht, verstehen aber nicht mehr ihr Wesen. Atrophie durch Überspezialisierung, Verstand war für uns das, was die Beine für den Delphin waren. Wir brauchen keine Wissenschaft, wir brauchen Priester in weißen Kitteln, die mit Reagenzgläsern Kommunion feiern, Karriere in der Kirche machen und für den Pöbel eine Show abziehen, damit der weiter an das System glaubt.

    Da wird der Wissenschaftlerimitator schnell zur Miethure und sagt für jeden die Wahrheit, für die er bezahlt wird, der Pöbel kann das eh nicht unterscheiden. In der Wirtschaft hatten wir einen ähnlichen Prozess – als die Qualität der Markenprodukte so mies wurde, dass sie ihren chinesischen Imitaten glichen, hatten die Chinesen bereits eine ganze Industrie, die billigen Mist besser raushauen konnte als die Originalhersteller, und so stellten die Hersteller einfach die Produktion der Originale ein und erklärten die Fälschungen zu Originalen. Wissenschaft ist eine Marke, die viel für ihren Schutz tut, aber wenn’s nur ums Etikett geht, versteckt und beschleunigt es den Verfall, statt Qualität zu garantieren.

    Da Europa im Wesentlichen ein Altenheim für ausgebrannte Zwergstaaten ist, die die Welt nicht mehr braucht, kann man nur warten, bis sich das Problem von selbst erledigt. Lernen Sie Russisch und hoffen Sie, dass Sie deren Herrschaft überleben, oder hauen Sie nach Amerika ab. Oder setzen Sie auf Jugend und Migranten, bei denen sich unsere feudalen Mental-Macken noch nicht festgesetzt haben, und gucken, ob sich mit ihnen was Funktionsfähiges basteln lässt. Natürlich erzieht ein Land von Pisa-Versagern auch die Neuankömmlinge zu Pisa-Versagern, und die tun, was Immigranten immer tun: Zeigen viel Elan, sich in der Hierarchie nach oben zu kämpfen und übertreffen die Eingeborenen bei ihrem eigenen Spiel.

    In Deutschland ist Versagen eine Leistung. Man wird dafür bezahlt, macht Karriere damit, wetteifert darin, wird geliebt, bewundert und auf den Thron gehoben. Insofern sind Diversität und Bestenauslese durchaus gegeben, jeder sucht neue Wege, sich beim Versagen hervorzutun. Das System will Stabilität, Stillstand, kein Vorankommen. Und wenn die Welt Vorankommen erzwingt, sind Superversager Fachkräfte, die händeringend gesucht werden, denn es wird immer schwerer, über die eigenen Füße zu stolpern und klugzuscheißern, dass Liegen doch viel vernünftiger wäre als Laufen. Wenn solche Profi-Versager mal Laufen versuchen, nennt man das Ampel, es wirkt wie Delphine beim Marathon, und man sehnt sich nach dem Liegen zurück, das sah doch viel professioneller aus.

    Was Sie haben, kann nur verrecken, also drehen Sie ihm den Saft ab, damit es nicht allzu viel kaputt macht, wenn es in Agonie um sich schlägt. Und schicken Sie es in Rente, immerhin handelte es in gutem Glauben und hat sich einen geruhsamen Lebensabend verdient. Altenheime muss es in einem Land geben. Wenn das Land ein Altenheim ist, gibt es kein Land drum herum, das es schützt und durchfüttert, wie jedes andere Altenheim, das auf seine Insassen allein gestellt ist.

  2. “Wenn das Land ein Altenheim ist, gibt es kein Land drum herum, das es schützt und durchfüttert, wie jedes andere Altenheim, das auf seine Insassen allein gestellt ist.”
    Das ist eine gute Beschreibung einer überalterten Gesellschaft.
    Im Mittelalter hat man diesen Zustand mit der Altweibermühle bekämpft, die Frauen wurden wieder jung.

  3. Denkbarerweise steht ‘Diversität’ bei der Personalplanung und wissenschaftlich einer womöglich wünschenswerten ‘Bestenauslese’ entgegen?
    Könnte dies sein und, wenn nicht, warum nicht?
    Oder sollte es keine ‘Bestenauslese’ geben, in der (liberalen) Demokratie soll es sie nicht geben, was die Mandatierungen betrifft, dies ist klar?

    MFG – WB

  4. Danke für die Kommentierungen. Zur Frage von Dr. Webbaer: Danke für die Nachfrage, denn dies ist mir wichtig klarzustellen:
    Ich bin keineswegs gegen eine “Bestenauslese”. Allerdings sollte diese die Bezeichnung auch verdienen, und es sollten eben nicht – wie es derzeit im deutschen Wissenschaftssystem oft der Fall ist – diejenigen mit den finanziell besten Ausgangsbedingungen bevorzugt werden, die es sich einfach aufgrund z.B. reicher Eltern leisten können, die Unsicherheiten durch Kettenbefristung und Arbeitslosigkeit für eine vage Chance auf eine Professur in Kauf zu nehmen.
    Und wenn (so wie es eigentlich bei “Bestenauslese” sein sollte) tatsächlich die Besten bzw. die am besten zum Anforderungsprofil einer Stelle Passendsten eingestellt würden (unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft usw.), dann hätten wir eine bessere Wissenschaft und zugleich mehr Diversität. Daher muss mehr Diversität einer “Bestenauslese” keineswegs entgegenstehen, sondern – um mit den Worten von Personalern zu sprechen: Eine bessere Leistungsselektion sollte zu mehr Diversität führen – und eine höhere Diversität und damit bessere “Potenzialausschöpfung” wiederum zu besseren Leistungen des Wissenschaftssystems.

  5. Wieder einmal meinen Dank für diesen wichtigen Beitrag, René. Und wieder einmal muss ich an Max Webers Empfehlung aus dem Jahr 1919 denken: Wer in die Wissenschaft gehen will, hat am besten vorher schon finanziell ausgesorgt; für Juden, schrieb er, sehe es besonders schlecht aus (“Wissenschaft als Beruf”, 1919).

    Meiner Erfahrung nach muss man zwar mindestens auch durchschnittlich intelligent sein, geben am Ende aber “soziale Fertigkeiten” (nennen wir es einmal so) den Ausschlag: anpassungsfähig sein; das machen, was die Profs wollen; diese möglichst oft zitieren und ihnen immer Recht geben; und thematisch mehr oder weniger dasselbe machen wie die (erfolgreichen) Anderen.

    Wie sollte es auch anders sein? In einem System, dass immer noch wesentlich auf Gutachten und Empfehlungen (von eben diesen Profs) basiert! Und in dem wichtige Entscheidungen i.d.R. hinter verschlossenen Türen getroffen werden.

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