Soziale Selektivität gesunken, aber noch groß – auch im Hochschulsystem
BLOG: Über das Wissenschaftssystem
Ich habe mich sehr gefreut, als ich nach der Rückkehr aus dem Herbsturlaub das jüngste Stifterverbandspaper zu Chancengerechter Bildung las, und besonders über die berichteten Verbesserungen der Chancen von Nichtakademikerkindern. Gefragt habe ich mich nach der Lektüre allerdings, ob tatsächlich die größte soziale Selektivität beim Übergang zur Hochschule besteht, wie es dort interpretiert wurde, oder doch eine ähnlich große im Hochschulsystem.
Aber der Reihe nach: An erster Stelle ist zu würdigen, dass es eine solche Neuauflage der Auswertungen des Hochschul-Bildungs-Report 2017/18 gibt, die zudem auch noch vergleichbar zu den früheren Auswertungen erstellt wurde und damit auch einen Zeitvergleich über die letzten fünf Jahre ermöglicht. An zweiter Stelle sind die zentralen Ergebnisse zu berichten. Diese werden vom Stifterverband, der diese in Kooperation mit McKinsey erstellte, wie folgt formuliert: „Nur 46 Prozent aller Nichtakademikerkinder gehen auf eine Schule, die den Hochschulzugang ermöglicht. Bei den Akademikerkindern sind es 83 Prozent – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Akademikerkind eine Schule besucht, die für die Hochschule qualifiziert, ist also beinahe doppelt so hoch“ (Stifterverband/McKinsey 2021, S. 3ff. bzw. untenstehende Abbildung 1).*
Zum Vergleich der sozialen Selektivität heißt es dann: „Die größte Selektion findet nach wie vor beim Übergang von der weiterführenden Schule zur Hochschule statt. Obwohl sich die Übergangsquote von der weiterführenden Schule zur Hochschule bei den Nichtakademikerkindern seit der letzten Erhebung signifikant verbessert hat (+11 Prozentpunkte), liegt sie heute trotzdem bei nur 59 Prozent. Bei Akademikerkindern ist diese Quote mit 95 Prozent deutlich höher. Das Ergebnis: Lediglich 27 Prozent aller Nichtakademikerkinder immatrikulieren sich an einer Hochschule, dem stehen 79 Prozent aller Akademikerkinder gegenüber. Ist der Schritt an die Hochschule geschafft, gleichen sich die Erfolgsquoten von Nichtakademikerkindern und Akademikerkindern allerdings deutlich an. 76 Prozent aller Nichtakademikerkinder, die sich an Hochschulen eingeschrieben haben, absolvieren das Bachelorstudium; ihnen stehen 82 Prozent aller eingeschriebenen Akademikerkinder gegenüber. Bei der Promotion besteht mittlerweile nur noch ein Unterschied von 4 Prozentpunkten: Der Anteil aller Nichtakademikerkinder, die promovieren, hat sich auf 2 Prozent verdoppelt. Bei Akademikerkindern sind es 6 Prozent.“
Abb. 1: Bildungstrichter 2021: Von der Grundschule bis zur Promotion: Anzahl der Grundschulkinder von 100 Grundschulkindern, welche die nächste Bildungsstufe erreichen, sowie Übergangs-quote und Änderungsrate seit der letzten Messung in Prozent, nach Bildungshintergrund der Eltern; Lesehilfe: 27 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, elf von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, zwei den Doktortitel*
Wo gibt es denn nun die größte soziale Selektivität?
Wenn man sich die Zahlen näher ansieht, gilt die Aussage, die größte soziale Selektivität finde nach wie vor beim Übergang von der weiterführenden Schule zur Hochschule statt, allerdings nur, wenn man dies bis zum Bachelorabschluss betrachtet. Sie gilt nicht mehr, wenn man die Übergangsquote vom Bachelor zum Master betrachtet: Zwar ist bei den Nichtakademikerkindern die soziale Selektivität von der weiterführenden Schule zur Hochschule in der Tat auch groß, mit einer Übergangsquote von nur 59%.[I] Noch größer aber ist sie vom Bachelor zum Master mit einer Übergangsquote von sogar nur 54%.[II]
Letztere wird leider im Stifterverbandspaper nicht diskutiert, obwohl der Master – insbesondere im deutschsprachigen Raum – nach wie vor entscheidende Eintrittskarte für viele bessere Positionen in Wirtschaft und Wissenschaft ist. Hier stellt sich die Frage, ob dies möglicherweise übersehen wurde. Jedenfalls gilt die obenstehende Aussage erst recht nicht, wenn man berücksichtigt, dass der Masterabschluss bzw. als Äquivalent das Staatexamen sogar zwingend vorausgesetzt wird für viele Sicherheit versprechende Berufe, was oft für Nichtakademikerkinder besonders wichtig ist (wie Master bzw. Staatexamen für Lehrer*in).
Wie sieht es aus bei den Chancen bis zur Promotion?
Wenn man – wie der Titel des Papers nahelegt – die Chancen bis zur abgeschlossenen Promotion betrachtet (die bekanntlich den Zugang zu selbstständiger wissenschaftlicher Tätigkeit erst ermöglicht, und für Leitungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft nach wie vor sehr förderlich ist), dann beträgt die Übergangsquote vom Master an für Nichtakademikerkinder 17%. Gemäß den berichteten Zahlen haben sie damit sogar eine vier Prozentpunkte höhere Übergangsquote als die Akademikerkinder. Allerdings sind es auch diejenigen der hochselektierten Nichtakademikerkinder, die es über alle davor liegenden Bildungsschwellen erfolgreich geschafft haben.
Ob die eigentlich sehr erfreulichen 17% Übergangsquote zur Promotion für Nichtakademikerkinder, die im Gegensatz zur Tendenz mehrerer anderer Studien steht (Überblick in Krempkow 2019 bzw. Kurzfassung hier auf Scilogs), wirklich vergleichbar oder auf die nun andere als die zuvor verwendete Quelle zurückzuführen ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, da die betr. Daten zur sozialen Herkunft über das NACAPS-Portal derzeit nicht öffentlich, sondern nur für teilnehmende Hochschulen verfügbar sind.
Insgesamt beträgt die Chance für ein Nichtakademiker-Grundschulkind auf einen Doktortitel ganze 2%, für ein Akademikerkind jedoch 6%. Akademikerkinder haben also insgesamt über alle Bildungsstufen hinweg dreimal höhere Chancen (oder mit anderen Worten: eine 300%ige Chance im Verhältnis zu Nichtakademikerkindern). Hier wird besonders augenfällig, dass neben der Betrachtung von Prozentpunktedifferenzen auch immer die von Übergangsquoten und Chancenrelationen notwendig ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Begriffswahl “Auslese” (S.5) eine sehr unglückliche: Diese suggeriert, dass hier eine Bestenauswahl stattfinde, was aber empirischen Studien zufolge (Überblick in Krempkow 2019, 2017) zumindest sehr fraglich ist.
Hochschulsystem insgesamt immer noch stark sozial selektiv
Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass sich gemäß den berichteten Zahlen die Selektivität zwar im Vergleich zur Vorstudie vor fünf Jahren verringerte, dass aber zugleich (auch) innerhalb des Hochschulsystems immer noch eine große soziale Selektivität existiert, die zumindest ähnlich stark ist wie beim Übergang zur Hochschule. Deshalb sollte nach wie vor auch stark innerhalb des Hochschulsystems mit entspr. Maßnahmen angesetzt werden. Hier bieten die genannten Handlungsempfehlungen bereits einige geeignete Ansatzpunkte. Sie sollten aber noch erweitert werden:
So wird zwar zu Recht darauf hingewiesen (Stifterverband/McKinsey 2021, S. 7): „Nichtakademikerkinder erhalten oft weniger finanzielle Unterstützung von ihren Eltern. (…) Weitere Finanzierungsmöglichkeiten (zum Beispiel BAföG, Studienkredite) sind nicht immer ausreichend, die Beantragung gestaltet sich oft schwierig (Deutsches Studentenwerk 2019). Nebenjobs schränken das Zeitbudget ein, das Studierende aus Nichtakademikerhaushalten für ihr Studium aufwenden können.“ An anderer Stelle heißt es zudem: „40 Prozent aller Studierenden haben durch COVID-19 jedoch ihren Nebenverdienst verloren – ein Umstand, der viele Erststudierende in eine unsichere Lage gebracht hat und durch staatliche Maßnahmen nicht komplett verhindert werden konnte“ (ebd., S.6).
Bei Studierenden an zumindest einigen Großstadtuniversitäten dürfte dies noch deutlich ungünstiger aussehen: So hatte sich die finanzielle Situation z.B. für die Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin im März 2021 gegenüber dem Sommersemester 2020 deutlich seltener verbessert (11 Prozent) als verschlechtert (35 Prozent). Und wo sich die Situation gegenüber dem ersten pandemiebedingten Digitalsemester verschlechterte, muss mehr als ein Drittel der Studierenden mit Gesamteinnahmen von maximal 500 Euro auskommen. Dies dürfte angesichts der durchschnittlichen Mietkosten in Städten wie München, Köln und inzwischen auch Berlin sehr problematisch sein: Nach der letzten verfügbaren Regionalauswertung Berlin zur Sozialerhebung des DZHW für das Deutsche Studentenwerk (2016) zahlten Studierende in Berlin durchschnittlich ca. 400 Euro Mietkosten. Nach einer etwas jüngeren Studie des Moses-Mendelssohn-Instituts (2018) waren es in Berlin im Schnitt 420 Euro für ein WG-Zimmer als häufigste Wohnform, und seitdem sind die Mietpreise insbesondere in Berlin sehr stark gestiegen.
Als (auch dafür) adäquate Handlungsempfehlungen werden im Paper abgeleitet (ebd., S. 8): „Die Politik sollte weitere finanzielle Mittel einplanen, um die Bezahlbarkeit des Studiums sicherzustellen. Denkbar wäre eine Reformierung des BAföG – zum Beispiel über höhere und ortsabhängige Wohnungszuschüsse, eine Förderung über die minimale Regelstudienzeit hinaus bei entsprechendem Nachweis notwendiger Nebentätigkeiten und eine unkomplizierte Berücksichtigung aktueller Einkommensbescheide. Die Antragstellung sollte bundesweit vereinheitlicht und digitalisiert werden (Deutsches Studentenwerk 2020). Auch die Etablierung von mehr Diversitäts-Stipendienprogrammen – insbesondere für Studierende aus Nichtakademikerhaushalten – kann ein probates Mittel sein.“
Es braucht auch Lösungen für das De-Facto-Teilzeitstudium
Allerdings bleibt insbes. für diejenigen, die ihre Nebentätigkeit noch ausüben können, bei den bislang im Stifterverbandspaper formulierten Handlungsempfehlungen noch ein Problem zu wenig berücksichtigt. Dies besteht darin, dass das BAföG aufgrund des sogenannten „Mittelstandsloches“ für viele Studierende von Eltern mit relativ geringem Einkommen oft nur gering ausfällt, daher viele Studierende arbeiten und faktisch oft nur in Teilzeit studieren. Für solche De-facto-Teilzeitstudierenden (oft auch zugleich Nichtakademikerkinder) sind aber die Übergangschancen vom Bachelor zum Master deutlich geringer; und darüber hinaus für sie auch die Studiendauer deutlich länger. Letzteres verschärft das Problem noch, weil sie bereits bei einer relativ geringen Überschreitung der Regelstudienzeit aus der BAFöG-Förderung herausfallen. Hieraus ergibt sich, dass insbesondere auch Teilzeitstudienmöglichkeiten beim BAFöG künftig (besser) berücksichtigt werden sollten, indem z.B. die Förderungshöchstdauer bei einem 50%-Teilzeitstudium verdoppelt wird, bei einem 67%-Teilzeitstudium eineinhalbfach usw. (vgl. ausführlich dazu Bargel/ Bargel 2014).
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* Nachtrag: Zwischenzeitlich wurde die hier von mir kommentierte Version des Diskussionspapiers (ursprünglich vom 19. Oktober 2021) nach Hinweisen in einer Diskussion mit dem DZHW, an der auch ich als Autor der ersten solchen den gesamten Hochschulbereich bis zur Promotion umfassenden Analysen im Hochschulbericht 2017/´18 beteiligt war, korrigiert und sie um zusätzliche Informationen erweitert. (Ich habe meinen Kommentar hier und die Grafik so belassen, da ich mich auf die usprüngliche Version bezog und sich die Zahlen nicht änderten.) Allerdings haben Stifterverband und McKinsey in der korrigierten Version die Beschreibung und Interpretation aufgrund der Kritik an der ursprünglichen Version z.T. deutlich angepasst. Dies betrifft insbesondere auch die oben von mir zitierte Aussage „Die größte Selektion findet nach wie vor beim Übergang von der weiterführenden Schule zur Hochschule statt“, die sich in der korrigierten Fassung nicht mehr findet. Die korrigierte Version dokumentiere ich hier.
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Weiterführende Quellen:
Deutsches Studentenwerk (2020): Nach erfolgreichen 50 Jahren: Grundlegende BAföG-Reform notwendig.
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[I] Noch deutlicher wird dies, wenn man – als Gegenstück zur Übergangsquote – die im HBR 2017/18 zusätzlich noch berichtete Abgangs- bzw. Verlustquote betrachtet, die hier 41% beträgt (als Differenz zu 100%).
[II] Ähnlich dürfte dies auch für die Gesamtpopulationen aller Schüler*innen weiterführender Schulen, Studienanfänger*innen und Student*innen gelten, da für die Akademikerkinder die Selektivität von der Schule zur Hochschule noch einmal um etliches geringer ist als vom Bachelor zum Master. Hier gibt es allerdings ein Problem der Vergleichbarkeit der Zahlen, denn im aktuellen Stifterverbandspaper werden zwei verschiedene Definitionen für Nichtakademikerkinder verwendet (s. Fußnoten 2 und 3 unter Abb. 1). Die Vorläuferstudie von 2017 vermied dies Problem, indem genau aus diesem Grund die nicht unproblematisch vergleichbaren Zahlen zu weiterführenden Schulen weggelassen wurden. (Nach einer damaligen Anfrage beim für dies Thema Zuständigen im Nationalen Bildungsberichtteam sah sich dieser außerstande, vergleichbare Zahlen zur Verfügung zu stellen.)