U wie Unsicherheit oder der berechenbare Zufall

„Es ist ein bisschen so, als wäre man mit einem kiloschweren Rucksack sehr lange durch die Gegend gerannt und könnte sich jetzt endlich eine Rast mit einer guten Kartoffelsuppe gönnen.“ Chen Song, Postdoc in der HITS-Forschungsgruppe „Data Mining and Uncertainty Quantification“ (DMQ), beschreibt das Gefühl, was sich einstellt, wenn man für ein zunächst unüberwindbar scheinendes Problem endlich eine Lösung gefunden hat. Und er weiß, wovon er spricht. Denn das Projekt, in dem es in diesem Blogbeitrag gehen soll, hatte es in sich.

Da wäre zum einen der Forschungsgegenstand, das Ventrikuläre Unterstützungssystem, umgangssprachlich auch Blutpumpe genannt. Sie ist täglich millionenfach im Einsatz und dient der Förderung von Blut sowohl außerhalb des Körpers, zum Beispiel bei der Dialyse, als auch innerhalb des Körpers zur Unterstützung des Herzens. Diese Pumpen sind in ihrer mechanischen Funktionsweise äußerst anspruchsvoll, denn sie müssen natürlich reibungslos funktionieren, ohne dabei das Medium, das sie befördern – das menschliche Blut – unnötig zu schädigen.

Zum anderen war der Forschungsumfang dessen, was sich Song vorgenommen hatte, sehr interdisziplinär. Er benötigte außer einem soliden medizinischen Wissen auch fundierte Kenntnisse in Mathematik, Physik und Mechanik. Letztere hatte er bereits während seines Maschinenbau- und Biomechanikstudiums in Frankreich erworben. Den fehlenden medizinischen und mathematischen Unterbau sowie die benötigten Softwarekenntnisse eignete er sich im Laufe des Projekts an. In dieser Zeit konnte er zudem besonders von den fundierten Informatikkenntnissen seiner Kollegen Michael Schick und Philipp Gerstner profitieren.

Doch wozu brauchte er all dieses Know-How?

Eine der wichtigsten Fragen bei medizintechnischen Systemen ist die nach der Sicherheit. Verständlicherweise haben sowohl Ärzte als auch Patienten ein berechtigtes Interesse daran, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Geräte nicht auf halber Strecke den Geist aufgeben, sondern sich als verlässlich erweisen und im Körper nicht mehr Schaden als Nutzen anrichten. Und im Fall der Blutpumpe könnte da so einiges passieren, wie wir gleich sehen werden.

Aber wie kommt man zu dem Ergebnis, dass ein technisches System sicher konstruiert ist? Wie berechnet man die Faktoren, die dazu beitragen und wie fängt man so etwas überhaupt an?

Eine der Standardantworten der Naturwissenschaften auf diese Fragen ist heutzutage die Computersimulation mithilfe von High Performance Computing (HPC) auf Cloud-Plattformen. Diese Methode zur Berechnung, Simulation und Modellierung komplexer Systeme ist erst seit einigen Jahren verfügbar, da sie Rechenleistungen voraussetzt, bei denen enorme Mengen an Messdaten verarbeitet werden. Doch seitdem ersetzt sie zunehmend die wesentlich aufwändigeren Simulationen, wie sie zum Beispiel für die Meteorologie im Wasser- oder Windkanal stattfinden oder für Strömungsprobleme, die in Blutgefäßen auftreten können. Die DMQ-Forschungsgruppe unter ihrem Leiter Vincent Heuveline, zu der auch Song gehört, konzentriert sich in ihrer Forschung auf die Simulation verschiedener Hightech-Ausrüstungen im Operationssaal.

Schematische Darstellung der Strömungsverhältnisse in einer Blutpumpe.
Quelle: Chen Song. HITS

Dabei steht am Anfang immer ein Modell. Und bei der Blutpumpe ist es ein ziemlich komplexes, denn es muss jederzeit die Geschwindigkeits-, Druck- und Spannungsverteilung überall in der Pumpe abbilden. Nur so können destruktive Faktoren wie die Förderung von Blutgerinnseln durch Wirbel oder Strudel im Blutfluss oder eine erhöhte Scherbelastung, die die Gefäße schädigen würde, berechnet und von vorneherein ausgeschlossen werden. Die Basis für dieses Modell zum Blutfluss bildet die Numerische Strömungsmechanik, (englisch: Computational Fluid Dynamics, CFD):

“Als CFD bezeichnet man die Kombination moderner Strömungsmechanik, numerischer Mathematik und Computerwissenschaften. Es ist ein sehr interdisziplinärer und dynamischer Wissenschaftszweig, bei dem man mithilfe des Computers unterschiedliche mathematische Methoden anwendet, um das Verhalten von Flüssigkeiten unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen. So lassen sich physikalische Experimente am Computer simulieren, beispielsweise bei Wettervorhersagen oder wenn es um industrielles Systemdesign bei großen und sehr komplexen Automatisierungsprozessen geht.“

So weit, so berechenbar. Aber dann wäre ja da noch die Sache mit dem Zufall, dem Unerwarteten, für das es keine kausale Erklärung zu geben scheint. Denn auch unvorhersehbare Faktoren, wie zum Beispiel die Fehlerwahrscheinlichkeit einer Simulation aufgrund von unsicheren Daten, müssen möglichst genau berechnet werden. An diesem Punkt kommt die Unsicherheitsquantifizierung ins Spiel:

“Das vorrangige Ziel der Unsicherheitsquantifizierung (UQ) besteht darin, unsichere Faktoren in mathematische Modelle mit einzubeziehen. Dadurch verbessert sich die Genauigkeit ihrer Vorhersagen. Besonders wenn es um reale Anwendungen geht, spielen die Daten verschiedener Experimente bei der numerischen Simulation eine wichtige Rolle. Diese Daten sind jedoch in den allerseltensten Fällen exakt und das trifft speziell auf den medizinischen Bereich zu. Aus diesem Grund beziehen wir den Faktor Unsicherheitsquantifizierung in den Design- und Analyseprozess mit ein. Denn nur so können wir ermessen, wie stark sich diese unsicheren Daten auf unsere numerischen Vorhersagen auswirken.“

Dazu kombinierte Song CFD-Methoden unter anderem mit einem sogenannten Finite-Elemente-Verfahren, das ursprünglich aus der Baumechanik stammt und heute in der Strömungsmechanik eingesetzt wird. Wie der Name bereits andeutet, betrachtet man in diesem Verfahren bei der Lösung einer Differentialgleichungsaufgabe nur eine Approximation oder Annäherung in einem endlichdimensionalen Unterraum, anstatt sie in einem unendlichdimensionalen Funktionenraum zu suchen. Dieser Unterraum wird erzeugt, indem man zunächst das Rechengebiet mit einem Gitter überzieht, und dann auf jede Gitterzelle nur eine bestimmte Menge einfacher Funktionen anwendet. Diese Funktionen werden dann noch so eingeschränkt, dass die notwendige Stetigkeit zwischen den Gitterzellen garantiert ist, die wiederum für die benötigte Konsistenz der Ergebnisse sorgt. Mit diesen Methoden, zu denen auch die von Song verwendete Galerkin-Methode gehört, können reale, dem Zufall unterliegende Vorgänge am Computer durchgespielt und in die Risikobewertung mit einberechnet werden.

Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit helfen seitdem, ventrikuläre Unterstützungssysteme sicherer zu machen. Und auch bei einem seiner neuen Projekte steht der Anwendungsaspekt wieder im Vordergrund, der dem aus China stammenden Postdoc schon seit seinem Ingenieurstudium besonders wichtig ist. Im Rahmen des Heidelberger Forschungskonsortiums „Informatics4life“ arbeitet er in einem von HITS-Gruppenleiterin Rebecca Wade geführten medizinischen Projekt, bei dem es hoffentlich zu vielen der am Anfang beschriebenen Kartoffelsuppen-Momente kommt.

Weitere Informationen zum Thema:

https://www.eccomasproceedia.org/conferences/thematic-conferences/uncecomp-2019/6366

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Das Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) betreibt Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Dabei werden große Datenmengen verarbeitet, strukturiert und analysiert. Der methodische Schwerpunkt liegt auf der Theorie- und Modellbildung. Die rund 120 HITS-Forscherinnen und -Forscher aus 22 Ländern befassen sich unter anderem mit theoretischer Biochemie, molekularer Biomechanik, wissenschaftlichen Datenbanken, Computerlinguistik, theoretischer Astrophysik, statistischen Methoden und Informatik.

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