Scripted Reality [Kandidaten für den Anglizismus des Jahres]
BLOG: Sprachlog
Scripted Reality ist schon zum zweiten Mal für den Anglizismus des Jahres nominiert, und — jetzt kann ich es ja verraten — eine Art Favorit der Herzen für mich. Dass es damals nicht auf der Shortlist gelandet ist, lag daran, dass es, wie auch ich mir eingestehen musste, nicht ausreichend weit in den Sprachgebrauch vorgedrungen war. Nur sechs Treffer lieferte das Deutsche Referenzkorpus seinerzeit, von denen zu allem Überfluss 4 von 2009. Auch das Google-News-Archiv lieferte nach meiner Erinnerung weniger als 50 Treffer. Ob das in diesem Jahr anders ist, darauf komme ich gleich zurück. Zunächst ein paar Anmerkungen zur Bedeutung und Geschichte.
Im deutschen Sprachgebrauch bezeichnet Scripted Reality ausschließlich Fernsehformate, die so tun, als ob sie das spontane Verhalten ganz normaler Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt zeigen, denen aber tatsächlich mehr oder weniger detaillierte Drehbücher zugrunde liegen. Das Wort bezieht sich vorrangig auf Pseudo-Talkshows (wie „Zwei bei Kallwass“), Pseudo-Gerichts- und Polizeishows („Richterin Barbara Salesch“, „Niedrig und Kuhnt“), und Pseudo-Dokus (z.B. „Mitten im Leben“ oder „Die Schulermittler“) aber auch bestimmte Aspekte von Sendungen wie „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ fallen darunter (und werden von den authentizitätsfixierten Fans dieser Sendungen dann kontrovers diskutiert).
Diese Bedeutung hat das Wort auch im englischen Sprachraum, wo es dann meistens in Komposita wie scripted reality (television) show/series auftritt. Tatsächlich ist das Wort aber älter als die betreffenden Fernsehformate. Der erste Treffer, den ich bei Google Books finden konnte, stammt aus einem Werk des Literaturwissenschaftlers Joseph O. Dewey von 1990, in dem er über eine Figur aus Robert Coovers „The Origin of the Brunists“ schreibt. Es handelt sich um den Herausgeber einer Lokalzeitung, der seine Aufgabe darin sieht, die Unordnung des Weltgeschehens für seine Leser/innen in geordnete und oft teilweise fiktionalisierte Erzählungen zu verpacken. Als er in einer Szene auf eine Frau wartet, mit der er sich zu einem romantischen Treffen verabredet hat, beginnt er, den Verlauf des Abends vorab aufzuschreiben. Dewey beschreibt das so:
In a ludicrous moment that nevertheless points up his radical dependence on scripted reality, he decides, “Better write it out.…” [Joseph Dewey, In a Dark Time, 1990]
Auch die Treffer in den folgenden Jahren beziehen sich auf die „scripted reality“ von literarischen Texten. Die erste in Verwendung im Google-Books-Archiv, die der deutschen Bedeutung entspricht, ist laut Google von 2003, aber tatsächlich von 2005:
Mostly, the American television coverage of the Iraq invasion in spring 2003 was akin to scripted “reality TV,” starting with careful screening of participants. [Fairness & Accuracy in Reporting, Juli/August 2005, vgl. Google Books]
Im Google-News-Archiv findet sich das Wort schon seit 2001 in dieser Bedeutung, ein früher Treffer ist dieser:
Affleck and Damon also are developing ABC’s Push, Nevada, a scripted reality series in which viewers join a quest for a hidden pile of cash. [USA Today, 24.7.2001]
Was das Wort scripted reality show für mich interessant macht, ist seine Doppeldeutigkeit: Da es sich um ein Kompositum aus einem Adjektiv und zwei Substantiven handelt, gibt es zwei mögliche Wortstrukturen, mit zwei leicht unterschiedlichen Interpretationen.
Entweder, es handelt sich um eine reality show, die nach Drehbuch (also scripted) produziert wird (siehe Abbildung (a)); so war das Wort ursprünglich gemeint, was man auch an der Setzung der Anführungszeichen im Zitat von 2005 sieht. Das Wort scripted bezieht sich hier auf show, was nur deshalb zu einem leichten semantischen Widerspruch führt, weil diese show gleichzeitig die Realität zeigen soll. Oder, es handelt sich um eine show, die eine scripted reality zeigt (siehe Abbildung (b)). Hier wäre es die Realität selbst, die nach Drehbuch abläuft — das führt zu einem grundlegenden Widerspruch, denn die Realität läuft ja unserer Vorstellung nach spontan und ungeplant ab. Die zweite Interpretation schließt damit den Kreis zum literaturwissenschaftlichen Ursprung des Wortes (und in der Literaturwissenschaft weiß man natürlich schon lange, dass es bezüglich der Ge-scripted-heit bestenfalls einen graduellen Unterschied zwischen der Kunst und dem echten Leben gibt).
Im Englischen wird inzwischen häufig einfach nur von scripted reality gesprochen, wenn das Fernsehformat gemeint ist — diese Interpretation hat also die ursprüngliche verdrängt. Im Deutschen war das sogar von Anfang an die bevorzugte Interpretation. Der erste deutsche Treffer im Google-News-Archiv aus dem Jahr 2004 verwendet den Begriff in dieser Form:
Für Arabella unangenehm: Sie muss ihre Prinzipien über Bord werfen. Denn in ihrer neuen Show wird ein Gast ein Geständnis ablegen, der andere Gast hinter einer Trennwand lauschen. Das Problem: Keiner der beiden ist echt, sie sind Laiendarsteller, die sich wegen eines erfundenen Konflikts in die Wolle kriegen. „Scripted Reality“ nennen die Experten die neue, besonders bei Nachmittagsshows verbreitete Form der Dramaturgie. Der Zuschauer findet mittlerweile die erfundenen Storys spannender und mag keine normalen Talks mehr. [Stern.de, 3.6.2004]
Und der erste deutsche Treffer auf Google Books aus dem Jahr 2005 (auch dieser übrigens mit Bezug auf Arabella Kiesbauer), verwendet das dreigliedrige Kompositum Scripted-Reality-Sendung und die Setzung der Anführungszeichen zeigt deutlich, dass hier die Interpretation aus Abbildung (b) zugrunde gelegt wird:
Charakteristisch hierfür ist der alltägliche Müll an „scripted-reality“-Sendungen, in denen echte Moderatorinnen moderieren, echte Psychologinnen therapieren, echte Richter urteilen, „aber ihre Fälle sind nicht nur fiktiv, sondern absurd“. [Link]
Das Wort Scripted Reality oder [Scripted Reality]-Sendung/Format/Show erinnert uns so bei jeder Verwendung an die Tatsache, dass die Scripted-Reality-Show nur ein Extremfall dessen ist, was einen großen Teil unserer Realität ausmacht: Ein Abspulen vordefinierter kultureller Skripte, ein Leben, das ständig versucht, sich nach medialen Vorlagen zu gestalten. Die Scripted-Reality-Show ist nicht ungewöhnlich, weil sie eine nur scheinbar authentische Realität zeigt — wir sind ungewöhnlich, weil wir unsere Realität tatsächlich für authentisch halten.
Abschließend die Frage nach der Häufigkeit. Das Wort Scripted Reality ist sicher noch nicht im sprachlichen Alltag einer Mehrheit angekommen, aber es hat einen deutlichen Häufigkeitssprung gemacht: Vor 2009 finden sich nur vereinzelte Treffer im Google-News-Archiv, 2009 waren es dann acht, 2010 fünzig, und im letzten Jahr vervierfachte sich die Treffermenge auf 222. Damit gehört es für mich klar in die Endrunde. Allein im Januar 2012 gab es übrigens schon über vierzig Treffer, ein Hinweis darauf, dass das Wort immer noch im Kommen ist.
Wenn es diesmal wieder leer ausgeht, hat es gute Aussichten, es im nächsten Jahr noch einmal zu versuchen. Und da auch der Anglizismus des Jahres einem Skript folgt — nämlich dem von Sportereignissen, Castingshows und anderen inszenierten Wettbewerben, werde ich dann alles tun, um es zu einer Art Menderes unserer Wörterwahl hochzustilisieren, ein Wort, dessen größte Sehnsucht es ist, einmal den begehrten Titel zu tragen, und das sich die Erfüllung dieser Sehnsucht allein durch seine Beharrlichkeit verdient hat.
© 2012, Anatol Stefanowitsch
Scripted Reality ist und bleibt ein Wort, das jeder, der die Sendungen sieht, nicht kennt, und jeder, der die Sendungen nicht sieht, schon seit Jahrem auf seinem Schirm hat. Die angestiegene Verbreitung letztes Jahr bezieht sich wohl häufig auch auf Hasstiraden von Zeitungen gegen dieses Format und wie schlecht doch alles ist (zugegeben, das stimmt, tut hier aber nichts zur Sache). Für mich immer noch ein Kandidat, den ich überhaupt nicht ausstehen könnte, und auch nächstes Jahr oder wann auch immer nicht. Dazu ist er einfach zu spät dran und schon zu verbreitet.
Dieser Kommentar hat nicht so viel mit der Eignung des Wortes als Anglizismus des Jahres zu tun, aber ich will trotzdem kurz erwähnen, dass mir erst jetzt auffällt, dass so alteingesessene Sendungen wie “Zwei bei Kallwass” oder “Richterin Barbara Salesch” auch als Scripted Reality bezeichnet werden. Wenn ich den Begriff lese, denke ich automatisch an die soapähnlichen Formate, die sich vor allem in Großbritannien enormer Beliebtheit erfreuen, wie “The Only Way is Essex”, “Made in Chelsea” und “Desperate Scousewives”. Dort verschwimmt die Grenze zwischen Inszenierung und Realität meines Erachtens noch mehr als bei den o.g. Sat-1-Formaten, da hier eine Vielzahl von Menschen sich selbst “darstellen” (in jeglicher Bedeutung des Wortes übrigens), d.h. die Grenze zwischen Schauspieler und echter Person ist bei allen Besetzungsmitgliedern sehr vage. Bei den Sat-1-Formaten weiß man ja, dass die Opfer, Angeklagten oder Patienten Laiendarsteller sind.
Reality and Virtuality
Scripted Reality ist als Begriff fast zu schön um durchzugehen. Die meisten Anglizismen haben ja etwas triviales an sich. Scripted Reality dagegen hebt ins philosophische ab.
Allerdings gibt es weitere ähnliche Anglizismen, die einen Teil unserer neuen Realität beschreiben. Ein solcher Begriff ist Reality Hacking. Dahinter steckt die Idee, dass Realität und Virtualität letzlich das gleiche sind und dass man die Realität genau so hacken kann wie eine virtuelle Welt. Zwei Links hierzu:
The Reality Hacker (Zitat: An increasing number of scientists believe that our physical reality is actually a large hologram, similar in many ways to The Matrix. )
Menschen & Räume — Regli, http://www.realityhacking.com
(Zitat: Weil der Hinweis auf die Autorenschaft fehlt, lässt sich ein Eingriff nicht automatisch der Kunst zuordnen. Eine mehrdeutige Interpretation wird möglich, was Neugier, Irritation, Freude auslöst, je nachdem., siehe auch http://www.realityhacking.com/projects.php )
Pseudo-Doku
Mir scheint, der weitestgehend synonyme Begriff Pseudo-Doku wird von wesentlich mehr Leuten verstanden. Dabei ist er doch lat.-griech.
Zur Pseudo-Doku
“Mir scheint, der weitestgehend synonyme Begriff Pseudo-Doku wird von wesentlich mehr Leuten verstanden. Dabei ist er doch lat.-griech.”
Wobei, zumindest für mein Sprachgefühl, “Pseudo-Doku” nur einen Teil der “Scripted Reality” umfasst. So kann man zwar Formate vom Typ “Mit den Hartz-4 Ermittlern auf Streife” wunderbar als Pseudo-Doku bezeichnen, aber z.B. die von impala angesprochenen Soaps, die – vermute ich – in etwa nach dem Schema von “Zuhause bei Ozzy Osborne” (wie hiess das noch mal in echt?) funktionieren eher nicht, einfach weil sie nicht wirklich wie eine “Doku” daherkommen. Das gleiche kann man wohl auch für die angesprochenen Talk-Formate sagen. So gesehen füllt die “Scripted Reality” imo auf jeden Fall eine lexikalische Lücke, und wenn es noch an der Bekannteheit des Begriffs mangelt, sollte man das schleunigst ändern 😉
Life imitates art
Hier eine Variante der angesagten Strukturformel und ihrer Mehrdeutigkeit:
http://tinyurl.com/7xu9wl9
scripted reality show
life imitates art
N.B. @klappnose
“scripted reality show” unterscheidet sich von Pseudo-Doku gerade durch das Oszillieren der Bedeutung. Und dadurch, dass die Täuschung oder Nichttäuschung des Zuschauers fokussiert wird.
Und darin liegt dann wohl auch der Mehrwert der Wortverbindung, kostbar.
Scripted Reality füllt auf jeden Fall eine Lücke, aber in meinem subjektivem Empfinden gab es das auch 2010 schon, und 2011 war es bereits eine altbekannte Ergänzung.
Substantiv und Nomen
@a.s.
Ein Aside, aber doch auch zum Thema.
Sie benutzen den Terminus “Substantiv” und nicht den Terminus “Nomen”, den man aus der anglo-amerikanischen Linguistik weitgehend übernommen hat.
Füllt “Substantiv” ein Lücke und/oder kartographiert es ein Feld, das durch “Nomen” nur unscharf erfasst wird?
Ja, z.B. wenn von Substantivflexion im Vergleich zu Nominalflexion die Rede ist. Der erste Begriff bezeichnet die Flexion von Substantiven, der zweite Begriff die Flexion aller nominalen Elemente.
Terminologie
@impala,
es existieren etwa folgende Klassifikationen:
a) “Nomen” als Oberbegriff für deklinierbare Wortarten (Substantiv, Adjektiv, eventuell auch Numerale und Artikel)
b) “Nomen” als Synonym für “Substantiv”, dann fehlt – bis zu einem gewissen Grad -der Oberbegriff.
Die Frage ist, in welcher Relation der Begriff “Nomen” die meisten Vorteile bietet.
greetse
wiwa
Nö, die Frage stellt sich mir überhaupt nicht, weil nichts dagegen spricht, im Deutschen das Wort Substantiv zu gebrauchen. Machen die meisten romanischen Sprachen z.B. genauso. Die englischsprachige Literatur benutzt deshalb noun, weil das halt das englische Wort ist.
Terminologie
Zum Konventionalsierungsgrad der Termini
in der “deutschen” Linguistik vgl. etwa hier:
http://hypermedia.ids-mannheim.de/…&v_id=244
die leidige Nomen-Sache
man vergleiche diese (wirkungsmächtige)
Empfehlung der Kultusministerkonferenz
von 1982
http://homepage.univie.ac.at/…gen.krumm/KMK2.pdf
und ihre gewisse Mehrdeutigkeit.
Remember:
Auch in diesem Nebenzweig des Threads geht es darum, inwieweit ein bestimmtes sprachliches Feld durch Begriffe mehr oder weniger gut erfasst wird.
Beim oben avisierten zusammengesetzten Show-Ausdruck ist sicher die Polysemie ein ästhetischer Mehrwert. Für den aufmerksamen Rezipienten oszilliert der Begriff und die Sache wird dann in ihrer Komplexität fokussiert: Geht es um eine vorgetäuschte Realität? Oder ist das eine spontane, nicht vorgeschriebene Realität?
greetse
wiwa
Das IDS bestimmt also den Konventionalisierungsgrad? Hört hört.
?
Den Dudenhinweis “überhört”?
🙂