Wie astronomisches Weihnachten: der neue Gaia-Datensatz DR3 wurde veröffentlicht!

"Bild" der Milchstraße, zusammengesetzt aus Datenpunkten der Gaia-Miassion

Was die astronomische Öffentlichkeitsarbeit angeht, hat der Gaia-Satellit der ESA einen entscheidenden Nachteil: er liefert keine der wunderschönen Bilder von Himmelsobjekten, mit denen Teleskope wie das Hubble-Weltraumteleskop oder die Teleskope der Europäischen Südsternwarte selbst solchen Menschen die Astronomie schmackhaft machen, die mit der wissenschaftlichen Auswertung solcher Bilder gar nicht soviel am Hut haben. Aber wissenschaftlich gesehen, sprich: nach der Anzahl der Fachveröffentlichung gemessen, die sich auf jede der Missionen beziehen, ist Gaia ungefähr genauso produktiv wie Hubble. Das liegt zum einen daran, dass Gaia grundlegende Entfernungsdaten von Sternen innerhalb unserer Milchstraße liefert. Vereinfacht gesagt: ohne solche Daten können Astronom*innen nicht unterscheiden, ob sie es mit einem näheren, aber nicht besonders leuchtkräftigen Himmelsobjekt zu tun haben, oder mit einem hellen, aber weiter entfernten.

"Bild" der Milchstraße, zusammengesetzt aus Datenpunkten der Gaia-Miassion
Kein Bild, sondern eine Rekonstruktion – jedes hier gezeigte Objekt ist alleine anhand der Daten eingefügt, die Gaia bei ihrer Durchmusterung ermittelt hat. Bild: ESA/Gaia/DPACunter Lizenz CC BY-SA 3.0 IGO

Sternentfernungen durch Geometrie mit Gaia

Gaia liefert exakte Positionen und genaue Entfernungsangaben für mittlerweile 1,46 Milliarden Sterne – und die geometrische Grundlage können fast alle Menschen direkt als Analogie nachvollziehen. Strecken Sie den Arm aus, recken Sie den Daumen der entsprechenden Hand nach oben, und schließen Sie dann abwechselnd je ein Auge – Sie sehen den Daumen vor dem fernen Hintergrund hin- und herspringen. Wenn Sie den Arm wieder etwas einziehen, können Sie sogar sehen, dass das Hin-und-Herspringen umso stärker ist, je näher Ihnen der Daumen ist. Vom Prinzip her haben Sie damit bereits nachgestellt, was Gaia macht. Statt dem Abstand zwischen Ihren beiden Augen sind es allerdings bis zu 300 Millionen Kilometer auseinanderliegende Orte im Weltall, die eine unterschiedliche Perspektive ermöglichen – soweit liegen einander gegenüberliegende Orte auf der Erdumlaufbahn um die Sonne auseinander, und Gaia begleitet die Erde in einigem Abstand auf ihrer Bahn um die Sonne. Statt des hin-und-her-springenden Daumens sind es einigermaßen nahe Sterne, die sich während des Umlaufs auf jeweils einer charakteristischen Ellipse vor dem Himmelshintergrund bewegen. Und natürlich ist die systematische Erfassung von gänzlich anderer Qualität – und von vorher nie dagewesener Genauigkeit.

Auf solchen Entfernungsangaben beruht fast die gesamte Astrophysik. Innerhalb unserer Galaxis, der Milchstraße, kann man auf diese Weise die physikalischen Eigenschaften von Sternen, Sternhaufen und Sternentstehungsgebieten erforschen. Für die Astrophysik außerhalb unserer eigenen Galaxie ist wichtig, dass die wichtigsten Entfernungsbestimmungen zu anderen Galaxien anhand von Objekten in unserer eigenen Galaxis kalibriert werden – und diese Kalibration stellt Gaia auf die solideste Grundlage, welche die Astronom*innen je hatten. Selbst die Vermessung unseres Kosmos auf allergrößten Skalen beruht letztlich auf dieser Grundlage, etwa die genauesten Messungen der sogenannte Hubble-Konstante, also der Größenskala für die kosmische Expansion.

Gaia als die größte astronomische Durchmusterung überhaupt

Aber das ist nur ein kleiner Teil dessen, was Gaia bietet – und vor allem auch nicht, was heute weltweit neu veröffentlicht hatten; die Parallaxendaten und Sternpositionen des aktuellen dritten Katalogs waren schon im Dezember 2020 online gestellt worden (“early data release 3”, EDR3).

Vor allem ist Gaia sozusagen die allergrößte kosmische Volkszählung überhaupt – keine andere Durchmusterung kommt an die schiere Anzahl und Vielfalt von Objekten heran, für die Gaia genaue Daten zur Verfügung stellt. Und die Daten sind von hoher Qualität sowie einheitlich – alle Objekte, für die Daten zur Verfügung stehen, lassen sich zueinander in Beziehung setzen und miteinander vergleichen, ohne dass man sich große Sorgen machen müsste. (Wer die Daten von Objekten aus unterschiedlichen Durchmusterungen vergleichen möchte, muss dagegen tunlichst sicherstellen, dass es da keine systematischen Unterschiede allein aufgrund der verwendeten Messmethoden gibt.)

Letztlich ist es wie astronomisches Weihnachten: es gibt die erwähnten Positionsdaten und Entfernungen von 1,46 Milliarden Sternen, aber es gibt eben auch Helligkeitsmessungen für einige hundert weiterer Objekte, es gibt Positionsmessungen für Objekte innerhalb unseres Sonnensystems, es gibt für alle Objekte Helligkeitsmessungen in mehreren Filterbändern, und bei dieser Veröffentlichung erstmals auch (einigermaßen grob aufgelöste, aber immerhin) Spektren; es gibt Extinktionsdaten dafür, wie Staub innerhalb unserer Galaxie das Licht fernerer Objekte beeinflusst; es gibt Datenpunkte für die zeitliche Veränderung von Objekten, und es gibt Radialgeschwindigkeiten, also Informationen darüber, wie schnell sich Objekte von uns weg oder zu uns hin bewegen. Die Details findet man auf dieser Übersichtsseite.

Transparenz-Hinweis: Ja, auch das Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA), für das ich Öffentlichkeitsarbeit mache, ist an der Auswertung beteiligt, und wir haben dazu auch eine eigene Pressemitteilung veröffentlicht. Und eine der offiziellen Enthüllungen heute – samt Öffnung der Heidelberger ZAH-Server für Gaia-Daten – fand bei uns im Haus der Astronomie statt; nicht wegen des MPIA, sondern weil die Astronom*innen am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg eine wichtige Rolle innerhalb des Gaia-Konsortiums spielen. Aber Gaias Bedeutung geht weit über das hinaus, was wir lokal machen. An vielen astronomischen Instituten weltweit warteten heute Astronom*innen auf 12 Uhr, auf die Freischaltung der Daten – mehr als 10.000 Zugriffe pro Minute (!) mag für so etwas wie YouTube-Videos gar nicht soviel sein, aber für das Herunterladen wissenschaftlicher Datensätze ist es eine Menge. Das Gaia-Team hatte zuvor auch so etwas wie “Übungs-Datensätze” zur Verfügung gestellt: Wer wollte, konnte die Auswertungsskripte direkt vorab vorbereiten und anhand der Übungs-Datensätze direkt ausprobieren – und sobald die richtigen Daten dann am 13. Juni 2022 um 12 Uhr zur Verfügung standen, konnte man sie direkt in die Auswertungs-Skripte füttern, hoffentlich ohne Fehler. Eine ganze Reihe von Kolleg*innen dürften bereits morgen erste Preprints mit Gaia-DR3-basierten Auswertungen auf dem arXiv-Server veröffentlicht haben.

Viele schöne Materialien

Auch die ESA-Öffentlichkeitsarbeit hat sich ganz besondere Mühe gegeben, die neuen Ergebnisse möglichst anschaulich aufzubereiten. (Und ja, ich gebe zu: ein klein bisschen stolz war ich schon, dass die entsprechende Online-Präsentation von meinem ehemaligen Mitarbeiter Kai Noeske moderiert wurde – wenn man schon, #IchBinHanna lässt grüßen, guten Mitarbeiter*innen keine unbefristete Perspektive geben kann, ist das nächstbeste immerhin, wenn sie anschließend auf gute und interessante neue Stellen wechseln.)

Wer Details möchte: zumindest auf Englisch gibt es die, schön aufbereitet als “Gaia Stories”, zugänglich über diese ESA-Übersichtsseite.

Alternativ ist morgen (Dienstag, 14. Juni 2022) der Astronom Stefan Jordan bei uns bei “Faszination Astronomie Online” zu Gast und erzählt um 19 Uhr live etwas zu den DR3-Daten – und auch auf Zuschauer*innenfragen gehen wir dabei natürlich ein!

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

4 Kommentare

  1. Markus Pössel schrieb (13. Jun 2022):
    > […] Orte im Weltall […]
    > […] 300 Millionen Kilometer […] liegen einander gegenüberliegende Orte auf der Erdumlaufbahn um die Sonne auseinander

    Je zwei Mitglieder des bzgl. des Sonnensystem-Zentrums starren, nicht-rotierenden Bezugssystems, zwischen deren (jeweils jährlich wiederholten) Passagen die Erde ein halbes Jahr zubrachte, sind ca. 300 Millionen Kilometer voneinander entfernt.

    Je zwei Mitglieder des bzgl. des Milchstraßen-Zentrums starren, nicht-rotierenden Bezugssystems, zum Beispiel, zwischen deren (in etlichen Millionen Jahren jeweils nur einmaligen) Passagen die Erde ein halbes Jahr zubrachte, sind wesentlich weiter voneinander entfernt.

    > […] Strecken Sie den Arm aus, recken Sie den Daumen der entsprechenden Hand nach oben, und schließen Sie dann abwechselnd je ein Auge – Sie sehen den Daumen vor dem fernen Hintergrund hin- und herspringen.

    Falls der betreffende Hintergrund hinreichend unterscheidbar (Struktur- bzw. Konstrast-reich) und wiedererkennbar war, ließe sich womöglich sehen, dass bzw. in wie fern der
    Daumen verschiedene wiedererkennbare Anteile des ohne Daumen sichtbaren Hintergrundes bzgl. des einen oder des anderen Auges Zeit-weise und ggf. abwechselnd verdeckte.

    Um herauszufinden, ob und wie Daumen, Arm und/oder Kopf dabei wackelten (insbesondere systematisch, “wegen” des abwechselnden Öffnens und Schließens der Augen), bieten sich die Methoden an, mit denen auch Mitglieder von Bezugssystemen als ggf. “gegenüber einander starr” festzustellen sind.

  2. Nach Wikipedia ist die Entfernungsmessung über die Parallaxe bis zu einer Entfernung von 300 Lichtjahren möglich. Kann man bei dieser Entfernung noch einzelne Sonnen erkennen bzw. auflösen ?

    • @fauv(Zitat) : „ Kann man bei dieser Entfernung [300 Lichtjahre] noch einzelne Sonnen erkennen bzw. auflösen ?“
      Nun, die Milchstrasse, also die Galaxie, in der sich unsere Sonne befindet, hat einen Durchmesser von 100‘000 Lichtjahren und der Polarstern (heller Stern im Himmelszenit) ist etwa 430 Lichtjahre entfernt.

      Auch kann es nicht stimmen, dass die Entfernungsbestimmung auf 300 Lichtjahre beschränkt ist. Wenn das der Fall wäre, hätte man sich Gaia sparen können, denn bis zum Abstand von 300 Lichtjahren von der Erde aus, gibt es höchstens ein paar tausend Sterne. Oder meinen sie etwa 300‘000 Lichtjahre?

      Frage: In welchem Universum leben Sie?

  3. Abgesehen von einigen sehr leuchtschwachen Objekten ist das überhaupt kein Problem. Deneb, der Hauptstern des Sternbilds Schwan, ist einer der hellsten mit bloßem Auge sichtbaren Sterne am Himmel. Dabei ist er über 3000 Lichtjahre entfernt. Siehe auch “Liste der mit bloßem Auge sichtbaren Sterne” bei Wikipedia.

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