Strike4BlackLives: Warum heute Teile der Wissenschaft stillstehen

ArXiv-Notiz: arXiv staff is pausing business-as-usual to join scientists participating in the #strike4blacklives and #shutdownSTEM. There will be no announcement on the evening of Tuesday, June 9, 2020. Article submissions received at or after 14:00 ET Monday, June 8 and before 14:00 ET Wednesday, June 10 will be announced at 20:00 ET Wednesday, June 10. We encourage arXiv readers to use the time they would normally spend reading the daily announcement or submitting an article to instead read about racism and discuss how they will work in their own local and professional communities to address it. For more information, read our staff statement here.

Heute stehen Teile der Wissenschaft still: #ShutDownSTEM. Viele Wissenschaftler*innen beginnen jeden Tag damit, die neuesten Artikel auf dem arXiv zu lesen, der für eine Reihe von Forschungsfeldern (einschließlich der Astronomie) größten Veröffentlichungsplattform für elektronische Vorabdrucke. Heute gibt es keine neuen Beiträge auf arXiv:ArXiv-Notiz: arXiv staff is pausing business-as-usual to join scientists participating in the #strike4blacklives and #shutdownSTEM. There will be no announcement on the evening of Tuesday, June 9, 2020. Article submissions received at or after 14:00 ET Monday, June 8 and before 14:00 ET Wednesday, June 10 will be announced at 20:00 ET Wednesday, June 10. We encourage arXiv readers to use the time they would normally spend reading the daily announcement or submitting an article to instead read about racism and discuss how they will work in their own local and professional communities to address it. For more information, read our staff statement here.

Auch wer sich täglich am “Astronomy Picture of the Day” der NASA erfreut, bekommt heute nichts neues geboten.

Screenshot vom Astronomy Picture of the Day: Next Picture 11 June.Bei der Zeitschrift Nature erscheinen die Online-Artikel der Woche ebenfalls nicht wie gewohnt heute, am Mittwoch, sondern mit einem Tag Verspätung.

#ShutDownStem

All das ist Teil eines Wissenschaftsstreiks unter den Mottos #ShutDownSTEM #ShutDownAcademia #Strike4BlackLives – macht die Naturwissenschaften einen Tag lang zu, macht euch stattdessen lieber darüber Gedanken, was der Rassismus, den wir derzeit im Zuge von Black Lives Matter und den entsprechenden Protesten in den USA diskutieren, für die (Natur-)Wissenschaften bedeuten – und was wir tun können, um das zu ändern.

Eine ganze Reihe entsprechender Erfahrungsberichte gibt es auf Twitter unter dem Hashtag #BlackintheIvory, wobei ich empfehlen würde, direkt beim Nutzerkonto @BlackInTheIvory zu schauen – unter dem Hashtag selbst gehen die Erfahrungsberichte leider inzwischen zum Teil zwischen bloßen Hinweisen auf den Hashtag unter, und zwischen den Deklarationen von Weißen Tweetern, dass sie sich dafür einsetzen wollen, dass Schwarze Stimmen hörbarer werden. @BlackInTheIvory dagegen retweetet gezielt Erfahrungsberichte.

Selbstschutz durch Hochhängen der Rassismus-Latte

Auch in Deutschland benehmen sich ja eine ganze Reihe von Menschen so, als könne nur dann von Rassismus die Rede sein, wenn jemand, der ein explizit rassistisches Weltbild im Kopf hat, absichtlich Schwarze (oder andere nicht-Weiße) angeht.  Rassismus so eng zu definieren ist allerdings selbst wieder ein Beispiel für strukturellen Rassismus – es führt dazu, dass diejenigen, die Rassismuserfahrungen machen, im Nachgang noch einmal eine Ohrfeige bekommen, dann nämlich, wenn ihnen Weiße erklären, dass das, was sie da erfahren haben, gar kein “richtiger” Rassismus gewesen sei.

Es führt auch dazu, dass zuviele Menschen, an konkretem Beispiel auf problematisches Verhalten angesprochen,  nicht selbstkritisch über ihr Verhalten nachdenken, sondern das Gespräch so wenden, dass auf einmal der Rassismusvorwurf das eigentlich Beleidigende, Unerhörte, kritisch Diskutierenswerte in der Situation sein soll: “Ich bin doch kein Rassist!” – als ob der Umstand, dass man selbst kein explizit deutlich rassistisches Weltbild im Kopf hat, einen irgendwie bereits davor bewahren würde, so zu handeln, dass andere Rassismuserfahrungen machen.

Ein wichtiger Schritt ist daher, nicht gleich reflexartig abzuwehren – diejenigen Kommentare zu meinem letzten Blogbeitrag Rassismus: Wie man sich zumindest ein paar Grundkenntnisse anliest, denen beispielsweise nichts besseres einfiel, das Thema auf angeblichen “Rassismus gegen Weiße” zu bringen, oder die Frage nach strukturellem Rassismus auf “Wollen Sie damit sagen, Person X sei ein Rassist?” zu reduzieren, sind in der Hinsicht leider typisch (und nein, ich habe sie gar nicht erst freigeschaltet – ich hatte vorab angekündigt, nur Kommentare freizuschalten, denen anzusehen wäre, dass sich die Betreffenden zumindest mit den Grundlagen des Themas beschäftigt hatten).

Die anständige Betrachtungsweise kommt von der anderen Seite, geht von der Perspektive derer aus, die Rassismuserfahrungen machen, und bemüht sich dann darum, entsprechende Situationen in Zukunft zu vermeiden. Und dazu kann man aus den entsprechenden Erfahrungstweets eine Menge lernen.

Rassismuserfahrungen in der Wissenschaft

Struktureller Rassismus in der Wissenschaft beeinflusst insbesondere, wer Teil der Wissenschaft sein darf, wer dazugehören darf. Ich will zumindest auf einen Aspekt davon näher eingehen. Eine wissenschaftliche Karriere ist durchaus etwas Anspruchsvolles, und es ist völlig normal, dass Studierende im Physikstudium, oder Doktorand*innen während der Doktorarbeit, Postdoktorand*innen zu Beginn der wissenschaftlichen Karriere und auch Wissenschaftler*innen, die schon länger dabei sind, sich fragen: Bin ich gut genug? Ist eine wissenschaftliche Karriere das richtige für mich?

Es gibt eine naive Denkschule, die das Durchhaltevermögen zum Qualitätsmerkmal erheben möchte, die also sagt: Ja, diejenigen die genug Willen und genug Durchhaltevermögen beweisen, das sind auch diejenigen, die wir in der Wissenschaft haben wollen. Aber das ist bei näherer Betrachtung natürlich Quatsch. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass diejenigen Qualitäten, die wir in der Wissenschaft haben möchten – Ideenreichtum, wissenschaftliche Kreativität, Intelligenz, die Fähigkeit eine Forschergruppe besonders gut und effektiv zu leiten – alle mit dem bloßen Durchhaltevermögen, oder alternativ mit Selbstüberschätzung (als Extremform eines Verhaltens, das zum Durchhalten förderlich ist) korrelieren.

Ganz im Gegenteil gibt es zahlreiche Beispiele von exzellenten Wissenschaftler*innen, die zwischendurch (oder sogar noch immer) das Gefühl hatten, vielleicht doch nicht dazuzugehören. Das YouTube-Video mit Jocelyne Bell Burnell zum Impostor Syndrome ist in dieser Hinsicht interessant. Und beim Lindauer Nobelpreisträgertreffen 2012 erfuhr ich im Interview mit Brian Schmidt, dass Schmidt schon drauf und dran war, die Wissenschaft zu verlassen, als drei Bewerber, die auf der Auswahlliste für eine bestimmte Stelle höher als Schmidt gesetzt worden waren, nacheinander absagten, Schmidt die Stelle bekam und daraufhin das Projekt durchführte, das ihm den Physik-Nobelpreis 2011 einbrachte.

Wer dafür sorgen will, dass gute Wissenschaftler*innen nicht vergrault werden, sollte also tunlichst auf dem Karriereweg keine unfairen Hürden errichten. Von genau solchen Hürden berichten aber eine Reihe derer, die unter #BlackintheIvory tweeten.

Das fängt in der Schule an, mit Rückmeldungen, man solle sich doch lieber auf das lokale Community College bewerben, habe bei den richtig guten Universitäten doch sowieso keine Chance, oder mit dem verdeckten Stachel wenn der Biologie-Lehrer “du bist intelligenter als du aussiehst” ins Jahrbuch schreibt.

Ist man dann doch an der Universität angekommen gehören dazu Kommiliton*innen, die Schwarzen auf den Kopf zusagen, sie hätten ja offenbar nur durch spezielle Fördermaßnahmen einen entsprechenden Studienplatz erhalten, oder würden gar einem Weißen Bekannten “seinen Studienplatz wegnehmen”.

Eine beachtliche Kombination aus Arroganz einerseits und Ignoranz andererseits, denn eigentlich müssten ja diejenigen, die an einer bestimmten Elite-Uni gelandet sind, weil sie vom ungleichen Bildungssystem in den USA profitiert haben, oder gar als “Legacy” an der ehemaligen Universität ihrer Eltern einen Studienplatz bekamen, mit viel einleuchtender Begründung schief angeguckt und kritisch auf die unfairen Vorteile angesprochen werden, die sie dorthin gebracht haben, wo sie jetzt sind.

Du gehörst hier nicht dazu!

Darüber hinaus liefern die Tweets viele weitere Beispiele, die das nicht-dazugehören-Gefühl verstärken. Als Schwarzer über einen Campus zu gehen und dort willkürlich von der Campus-Polizei angesprochen zu werden, damit sichergestellt ist, dass man sich dort nicht unberechtigt aufhält. Oder nach einem Jobinterview im zugehörigen Fachbereich einer Universität vorbeizuschauen, aber dort des Gebäudes verwiesen zu werden, weil der Termin, zu dem man eine Einladung hatte, sich auf ein anderes Gebäude bezieht. Oder am Eingang zum Gebäude, in dem man von der Universität zum feierlichen Essen eingeladen ist, darauf hingewiesen zu werden, der Service-Eingang befände sich aber auf der Rückseite des Gebäudes.

Eine Reihe derer, die da tweeten, weisen auch auf den Mangel an Rollenvorbildern hin. Wenn man sowieso schon am Zweifeln ist, ob man es schafft und ob man dazugehört, ist natürlich ein fatales Zeichen, wenn bei den Lehrer*innen, Dozent*innen, Professor*innen niemand oder so gut wie niemand ist, der von der Hautfarbe her so aussieht wie man selbst. Wenn es offensichtlich viele “Vorgänger” nicht geschafft haben, warum sollte ausgerechnet man selbst es schaffen?

Und, wie gesagt: Verstärkt wird die schädliche Wirkung solcher wiederholten Demütigungen und Störungen jedes Mal, wenn Weiße der Person, die die Rassismuserfahrung gemacht hat, dann noch bescheinigen: das sei doch gar nicht so gemeint gewesen, der- oder diejenige solle sich doch nicht so anstellen, und überhaupt habe es sich dabei um gar keinen “richtigen” Rassismus gehandelt. “Whitesplaining” von Menschen, die sich in vielen Fällen nie tiefergehend mit dem Thema beschäftigt haben, es nicht schaffen, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen, aber es trotzdem besser zu wissen meinen.

Sich als Wissenschaftler*in in solchen Situationen anständig zu verhalten, und anderen Menschen keine Rassismuserfahrungen zu bescheren, wäre zumindest ein Anfang. Auch wenn es danach immer noch viel zu tun geben wird.

Anmerkungen zu Kommentaren

Wie bei meinem letzten Blogbeitrag gilt auch hier: Die Kommentare unter Beiträgen, in denen es um Rassismus geht, sind leider nicht selten ein sehr deutlicher Beleg dafür, was wir in Deutschland noch für ein Rassismusproblem haben. Die Kommentare in meinem Blog sind derzeit moderiert. Was ich unter diesem Artikel generell nicht freischalten werde, sind Kommentare, die mir deutlich zeigen, dass sich der/die Kommenator*in noch nichtmal im Ansatz ernsthaft mit dem Thema Rassismus beschäftigt hat. Soviel Respekt vor dem Thema sollte schon sein, wenn man sich dazu öffentlich äußern möchte. Ein paar Informationsmöglichkeiten hatte ich in meinem Beitrag Rassismus: Wie man sich zumindest ein paar Grundkenntnisse anliest zusammengestellt.

Nachtrag:

  1. Da in einem nicht freigeschalteten Kommentar die Verknüpfung von “Rassismus gegen Weiße” und Antisemitismus angesprochen wurde: Hier steht etwas dazu, wie Antisemitismus sich allgemein von Rassismus unterscheidet. Bei rassistischen Versionen des Antisemitismus wie im Nationalsozialismus werden “die Juden” entsprechend nicht der angeblich höchststehenden Rasse, den “Weißen” oder “Ariern”, zugeordnet.

 

 

 

Avatar-Foto

Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

3 Kommentare

  1. Wenn die Produktion einen Tag stillsteht kostet das viel.
    Ein Tag keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist wirklich gleichgültig, es wird niemanden auffallen.

    • Das ist deutlich zu kurz gedacht. Es geht, wie im Artikel ja auch beschrieben, um Rassismus in der Wissenschaft. Wissenschaftler*innen, die ansonsten arXiv täglich lesen (wie dort auch beschrieben) wird das sehr wohl auffallen. Und denjenigen, die diesen Tag bewusst nutzen, um sich Gedanken darüber zu machen, wie man Rassismus in der Wissenschaft verhindern kann, auf alle Fälle auch.

  2. Racism has lasted so long that I doubt it could go off. It’s an age long mindset. People need to be re-orientated. The strike would atleast make more people notice and take time to think about how we all could do better.

Schreibe einen Kommentar