Corona-Pandemie: Hätten wir rechtzeitig etwas tun können?

Hätten wir rechtzeitig etwas tun können? All the details

Hier die ausführlichere Version mit Formeln, Kommentaren, Diagrammen und ganz am Schluss dem Link zu den Skripten, die ich benutzt habe.

R-Werte

Für mein eigenes Verständnis finde ich die Reproduktionszahl, den R-Wert, nach wie vor nützlich – auch wenn er nicht mehr auf allen entsprechenden Übersichtsseiten zu finden ist (bei der ZEIT ist man offenbar zu prozentualen Wachstumsraten übergegangen, bei der SZ gibt es nach wie vor R-Werte). R ist definiert als die Zahl von Menschen, die ein Covid-Infizierter durchschnittlich ansteckt. In einem Zeitraum, in dem R größer als 1 und näherungsweise konstant ist, befinden wir uns in einer Phase exponentiellen Wachstums. Bei R kleiner als 1 und näherungsweise konstant haben wir ein exponentielles Abfallen. R ist praktisch, weil es zusammenfassend beschreibt, wie rasch sich das Virus in dem beschriebenen Zeitraum verbreitet. Gegenmaßnahmen drücken den R-Wert, in Bezug auf die Infektionsgefahr unvernünftige Verhaltensweisen vergrößern ihn. Ich hatte mir dazu in diesem Blog vor einiger Zeit hier Gedanken gemacht.

Praktisch am R-Wert ist, dass er zusammenfassend beschreibt, wie wirksam unsere Infektionsschutz-Maßnahmen im Betrachtungszeitraum sind. Das ist noch einmal etwas anderes als die Frage, wieviele Menschen sich bei uns derzeit neu anstecken – letzteres hängt ja zusätzlich davon ab, wieviele ansteckende Menschen es derzeit gibt. Tausend ansteckende Menschen werden bei einem R-Wert von 1.1 nun einmal im Schnitt 1100 Menschen anstecken; zehntausend ansteckende Menschen dagegen 11000.

Wird man spezifischer, dann gibt es eine Reihe leicht unterschiedlicher R-Wert-Definitionen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) hier beschreibt. Das einfachste, allerdings eben auch sehr vereinfachte Szenario ist jenes, wo jede*r Neuinfizierte andere so ansteckt, dass jene dann genau 4 Tage später selbst infiziert sind. Dann wäre der R-Wert an einem gegebenen Tag

\(R=\frac{\mbox{Anzahl Neuinfizierte am gegebenen Tag}}{\mbox{Anzahl Neuinfizierte 4 Tage vorher}}\)

In Wirklichkeit sind die Verläufe natürlich weniger exakt getaktet. Tatsächlich sind Infizierte wohl in der Tat um den Krankheitsbeginn besonders ansteckend – ein paar Tage vor den Symptomen, ein paar Tage danach. Und bei denjenigen, die noch deutlich länger ansteckend sind, nämlich Menschen mit schwereren Verläufen, kann man wohl davon ausgehen, dass sie beizeiten in Behandlung sind und damit auch einigermaßen von der ungeschützten Umwelt isoliert.

Das RKI selbst mittelt für das, was es dann als R-Wert veröffentlicht, jeweils 4 Tage, also

\(R=\frac{\mbox{mittlere Anzahl Neuinfizierte am gg. Tag u. bis zu 3 Tage davor}}{\mbox{mittlere Anzahl Neuinfizierte 4 bis 7 Tage vorher}}\)

Bei dem, was das RKI als 7-Tages R-Wert angibt, sind es dann entsprechend jeweils sieben Tage im Zähler und im Nenner, über die gemittelt wird.

Allerdings ist es in der Praxis gar nicht so einfach, die mittlere Anzahl Neuinfizierter für einen gegebenen Tag anzugeben. Erst einmal stehen ja nur diejenigen Zahlen zur Verfügung, die an das RKI gemeldet werden – und Meldungen geschehen nicht instantan, sondern typischerweise mit einigen Tagen Verzögerung. Außerdem ist der Erkrankungsbeginn ja in der Regel nicht gleich dem Tag, an dem der Coronatest erfolgt. Nowcasting, als Wort angelehnt an “Forecasting”, also vorhersagen, ist ein Schätzverfahren, mit dem das RKI unter Berücksichtigung der verfügbaren Daten, für jeden Tag die Anzahl der neuen Erkrankungsfälle zu bestimmen. Weitere Details dafür finden sich hier (PDF).

R-Werte als Informationsträger

Hat man die Anzahlen von Neuerkrankungen für einige aufeinanderfolgende Tage gegeben, dann gibt es zwei gleichwertige Möglichkeiten, die Informationen über die Neuerkrankungen der darauffolgenden Tage anzugeben: entweder gibt man für jeden Tag direkt die Neuerkrankungen an. Oder aber man gibt für jeden Tag einen R-Wert an. Mit der vereinfachten Formel für den R-Wert (Quotient Erkrankungen an jenem tag und Erkrankungen vier Tage vorher) reichen vier aufeinanderfolgende Tage und die R-Werte. Die Anzahl der Neuerkrankungen am Tag 5 kann ich dann ja einfach errechnen, indem ich den R-Wert für den Tag 5 mit der Anzahl der Neuerkrankungen am Tag 1 multipliziere, und analog für alle anderen folgenden Tage.

So etwas geht natürlich auch mit den komplizierteren Formeln. Beim RKI-R-Wert (Zähler und Nenner über 4 Tage gemittelt) kann man die R-Wert-Formel für den gegebenen Tag auflösen; dessen Wert bekommt man, wenn man den R-Wert für jenen Tag sowie die Neuerkrankungen der sieben Vortrage kennt.

Physiker*innen dürfte so eine Kombination aus Anfangswerten (Neuerkrankungs-Werte für die ersten aufeinanderfolgenden Tage) und Angaben dazu, welche Änderungen sich anschließen, durchaus bekannt vorkommen. Genau so funktionieren weite Teile der Physik: Die physikalischen Gesetze geben vor, wie sich ein System verändert (in den meisten Fällen: welche Beschleunigungen vorliegen). Gleichungen für Änderungsraten heißen in der Sprache der Mathematik Differentialgleichungen.

Um zu einer vollständigen Beschreibung zu gelangen, muss man allerdings zwingend zusätzlich zur Differentialgleichung noch Anfangswerte angeben, in der Physik typischerweise für Orte und Geschwindigkeiten. Um beispielsweise vorhersagen zu können, wie sich ein Ball im Schwerefeld der Erde bewegt, muss ich wissen, wo sich der Ball zum Anfangszeitpunkt befand und welche Geschwindigkeit er hatte.

Kodiert man die zeitliche Entwicklung der Neuerkrankungen über die R-Werte, dann hat man eine ganz ähnliche Trennung in Anfangsbedingungen und Änderungsangaben. Etwas ungewohnt für die Physik, da die Änderungsangaben als Faktoren auftreten, aber vom Prinzip her sehr ähnlich.

Was wäre wenn: Anfangswerte

In der Physik ist die Trennung in Anfangswerte und Änderungsangaben vor allem deswegen wichtig, weil sich auf diese Weise mit denselben grundlegenden Gesetzen unterschiedliche Situationen beschreiben lassen.

Analog kann man in der Pandemiesituation fragen: Was wäre, wenn wir uns in den vergangenen Monaten genau so verhalten hätten wie in Wirklichkeit, aber wenn am Anfang, oder zu einem anderen festen Zeitpunkt, weniger Menschen infiziert gewesen wären, oder mehr Menschen, als in Wirklichkeit der Fall war? Dann sagen uns die Änderungsangaben, die R-Werte, welche Entwicklung sich an jene anderen Anfangsbedingungen angeschlossen hätte.

Das ist natürlich keine perfekte Simulation. Insbesondere geht bei den R-Werten ja auch das persönliche Verhalten der Menschen ein, sprich: Wie vorsichtig verhalten sich die Menschen jenseits der offiziellen Regeln? An der Stelle wird es sicher einen Unterschied machen, wie hoch die Inzidenzen sind, und als wie gefährlich die aktuelle Lage daher von den individuellen Beteiligten wahrgenommen wird. Aber auch mit dieser Einschränkung kann ein was-wäre-wenn interessant sein, in diesem speziellen Falle: Was wäre, wenn alle dieselben Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben wie in Wirklichkeit der Fall, aber bei anderen Anfangsbedingungen. Denn Informationen, was an realistischem Verhalten möglich ist, enthalten die realen R-Werte ja auf alle Fälle.

Was im Herbst/Winter passiert ist

Noch interessanter ist das was-wäre-wenn für denjenigen Fall, dass wir die R-Werte an einigen Stellen gezielt verändern. Das liefert Informationen zu der Frage, was anders gelaufen wäre, wenn wir als Gesellschaft anders gehandelt hätten wie in Wirklichkeit. Mich haben dabei wie gesagt vor allem zwei Szenarien interessiert, die sich beide um den Beginn der zweiten Welle drehen. Ausgangspunkt war die Darstellung der Neuerkrankungen, entsprechend den RKI-Nowcasting-Daten, die hier online abrufbar sind:

Dabei sind in grau die tagesgenauen Angaben des RKI eingezeichnet, die, wie man sieht, in einigen Regionen deutlich schwanken; ich benutze stattdessen den in blau eingezeichneten geglätteten Verlauf (Savitzky-Golay-Filter mit quadratischem Polynom gefittet an jeweils 21 Punkte).

Als senkrechten grauen Strich habe ich dabei den Beginn der Kalenderwoche 42 markiert, den 12. Oktober 2020. Warum? Weil das der allerspäteste Zeitpunkt war, zu dem selbst skeptischen Politiker*innen hätte auffallen können: Oh, die zweite Welle, von der Drosten und Co. seit Monaten warnen, hat jetzt offenbar in der Tat begonnen. Das war zu jenem Zeitpunkt nicht zuletzt deswegen nicht zu übersehen, weil die Neuerkrankungen damals bereits den Wert für das Maximum der ersten Welle überschritten hatten.

Was passierte damals an Reaktionen von Seiten der Politik? Nichts einschneidend Neues, soweit ich sehen kann. Die Ministerpräsident*innen und die Bundeskanzlerin bekräftigten die Hotspot-Regelungen (7.10.2020). Sie bekräftigten sie noch einmal und weiteten die Maskenregelungen aus, und forderten die Bürgerinnen und Bürger auf, auf Reisen zu verzichten (14.10.2020). Anschließend traf man sich erst wieder am 28.10.2020 und beschloss das, was dann als “Lockdown light” bekannt wurde.

Und parallel dazu kann man sehen, was Kommentatoren wie Christian Drosten zu jener Zeit gesagt haben; das Coronavirus-Update vom NDR hat ja den großen Vorteil, dass alle Folgen samt Transkripten sorgfältig archiviert sind: Am 14.10.2020 der Hinweis darauf: Wir sehen, wie es in den anderen europäischen Staaten läuft, das kommt jetzt auch auf uns zu. Drosten im Podcast-Wortlaut: “Es ist einfach so: Man muss früh genug reagieren. Dann geht das mit relativ wenig einschneidenden Maßnahmen. Wenn man den Zeitpunkt verpasst, hat man ihn verpasst. Und dann muss man nicht reagieren, sondern korrigieren. Und dieses Korrigieren, dieses Zurückrudern, das erfordert eine unglaubliche Anstrengung. Es ist einfach blind, sich dem zu versperren, was beispielsweise schon sichtbar ist in europäischen Nachbarländern, bei denen der Prozess auch nur zwei Wochen weiter fortgeschritten ist.” Leider ist es dann ja genau so gekommen: In KW42 keine einschneidende Reaktion. Dafür dann die deutlich höhere zweite Welle, mit anstrengenden Korrekturen, aus denen wir ja jetzt in der dritten Welle auch noch nicht draußen sind.

Der tatsächliche Verlauf der R-Werte ist hier dargestellt:

Dabei sind zwei R-Werte eingezeichnet. Einmal in grau die R-Werte, die das RKI aus seinem Nowcasting mit derjenigen Formel abgeleitet hat, bei der jeweils über vier Tage gemittelt wird, siehe oben. In rot ist der Ein-Tages-R-Wert eingezeichnet, der meiner geglätteten Neuerkrankungs-Kurve entspricht. Lokal kann es da einige Unterschiede geben; bei dem scharfen Maximum links zwischen KW20 und KW30 sieht man schön, wie die vier-Tage-Mittelung des RKI das Maximum etwas nach rechts verschiebt. In dem Bereich, der mich hier vor allem interessiert, zwischen KW40 und heute, ist die rote Kurve tatsächlich so etwas wie eine Trendkurve, um die herum der RKI-R-Wert fluktuiert.

Hier ist ein Ausschnitt aus demselben Diagramm, der den Bereich, der mich interessiert, genauer zeigt. Der 7.10., 14.10. und 28.10. sind als graue gestrichelte Linien markiert:

Was man recht gut sieht: Die ersten Maßnahmen, die in KW42 tatsächlich getroffen wurden, waren nicht sehr einschneidend. Erst nach dem zweiten der erwähnten Maßnahmenbündel ging es eher langsam, nämlich über zwei Wochen hinweg, mit dem R-Wert bergab.

Was im Herbst/Winter hätte passieren können

Damit kommen wir jetzt zu dem Was-Wäre-Wenn. Angenommen, wir hätten im Sommer nicht die massive, anhaltende, medial verstärkte Kritik am Lockdown gehabt. Nicht die massiven Vorstöße diverser Lockerungs-Lobbygruppen. Oder aber die Politiker*innen hätten nicht in dem Maße auf jene Lobby-Aussagen gehört wie es dann tatsächlich der Fall war.

Mit anderen Worten: Mal angenommen, wir wären nicht in einer Situation gewesen, wie sie sich dann in einer Äußerung von Christian Drosten wie hier am 16.9.2020 niederschlägt: “Es gibt auch andere Argumentationen, die viel fundamentaler sind, die sagen: Man müsste eigentlich jetzt noch mal gesellschaftsweit sehr starke Maßnahmen anstrengen, um Zeit für den Winter zu gewinnen. Das ist rein, sagen wir mal, physikalisch oder epidemiologisch betrachtet sicherlich auch richtig, aber gesellschaftlich eben nicht tolerabel.” Sondern stattdessen in einer Situation, in der die entsprechenden Epidemiologen bei der Politik auf offene Ohren gestoßen wären, und in der Maßnahmen, die epidemiologisch richtig waren, auch politisch als richtig wahrgenommen worden wären.

Konkret: Angenommen, Bund und Länder hätten dann einige Wochen vor KW42, als der Anstieg auch in der Realität wirklich deutlich war und ähnliche Ausmaße wie in der Mitte der ersten Welle erreicht hatte, echte Gegenmaßnahmen getroffen. Konkret: Gegenmaßnahmen, mit denen wir (Ein-Tages-)R-Werte erreicht hätten wie wir sie in der Wirklichkeit dann später, nämlich ab dem 8. Januar 2021 hatten. Der 8. Januar ist im obigen Diagramm mit dem senkrechten grünen Strich gekennzeichnet. An der Stelle betrachte ich dann zwei Varianten: Die Light-Variante, in der wir dieselbe R-Faktor-Entwicklung wie ab dem 8. Januar ab dem Beginn von KW42 acht Tage lang durchgehalten hätten. Statt dem echten R-Wert vom 12.10.2020 also den echten R-Wert vom 8. Januar, am 13.10. den vom 9. Januar, und so weiter. Und die konsequentere Variante, in der wir die betreffenden Maßnahmen sogar ganze vier Wochen lang durchgehalten hätten.

Ich wähle dabei reale R-Werte, weil wir damit einen direkten Vergleich haben. Sie erinnern sich vermutlich zumindest ungefähr an die Verhältnisse in Deutschland zwischen dem 8. Januar und dem 5. Februar 2021. Das war nicht angenehm, wir waren alle genervt, aber es war im Rahmen unserer Möglichkeiten. Es war machbar. Und es wäre auch in KW42 im letzten Jahr machbar gewesen. Die Wirkung der Impfungen (die hatten wir in KW42 ja tatsächlich noch nicht) auf die Infektionsdynamik war damals noch sehr gering; am 8. Januar hatten weniger als 1% der Deutschen überhaupt eine Erstimpfung, am 5. Februar knapp 3%. Die R-Werte lagen sogar etwas höher als im Frühjahr bei der Bekämpfung der ersten Welle. Das mag unter anderem am Wetter gelegen haben; dass die R-Werte bei wärmerem Wetter niedriger liegen, und sei es weil dann weniger Menschen in Innenräumen zusammenhocken, ist ja ebenfalls vermutet (und von anderer Seite bezweifelt) worden. Auch in der Hinsicht sind die Verhältnisse im Oktober eher noch besser als im Januar/Februar.

All diese Umstände zusammengenommen,  erscheint mir der Vergleich sinnvoll. Was zwischen dem 8. Januar und dem 5. Februar 2021 möglich war, hätten wir, entsprechende Maßnahmen und entsprechenden Willen vorausgesetzt, auch im Oktober 2020 hinbekommen können.

Hier sind meine zwei alternativen Verläufe für die R-Werte – es sind direkt die Januar-Februar-Werte, aber der Kurvenverlauf ist zusätzlich noch etwas geglättet, damit der Übergang nicht unrealistisch steil ist:

Die rote senkrechte Linie markiert wieder KW42. Drei Verläufe sind gezeigt (und ich habe die Kurven per Hand senkrecht ein wenig gegeneinander versetzt, damit die drei Kurven auch dort sichtbar werden, wo sie identisch verlaufen). In blau der tatsächliche R-Wert (ein-Tages-R-Wert meiner geglätteten Version). In grün der R-Wert, wenn wir ab KW42 für 8 Tage Gegenmaßnahmen getroffen hätten, die uns dieselben R-Werte wie ab dem 8. Januar geliefert hätten. In orange der R-Wert, wenn wir jene Gegenmaßnahmen auf Januar-Februar-Niveau ganze vier Wochen durchgehalten hätten.

Was-wäre-wenn: Neuerkrankungen

Dann bleibt nur noch, jene alternativen R-Werte in das Rekonstruktions-Skript einzusetzen. Ich habe wie gesagt die einfachste Variante gewählt: einen ein-Tages-R-Wert. Das heißt: Ich verwende jene neuen R-Werte jetzt, um ab Herbst 2020 zu berechnen, wie sich die Neuerkrankungszahlen entwickelt hätten, hätten wir bereits damals einen 8-Tage- oder einen 28-Tage-Lockdown im Januar-Februar-Stil gehabt. Die grundlegende Formel dazu ist einfach: Für jeden Tag erhalte ich den Wert, indem ich den R-Wert des Tages mit den Neuerkrankungszahlen vier Tage vorher multipliziere. Auf diese Weise arbeitet sich die Simulation Schritt für Schritt vor.

Hier das auf der ersten Seite ja bereits gezeigte Ergebnis:

Wie zu erwarten: Sobald die Maßnahmen greifen, sinken die Zahlen in den Alternativszenarien ab, sobald die niedrigen R-Werte da sind. Nach Beendigung der beiden simulierten Lockdowns folgt die dann dem auf und ab, das wir in der Realität hatten, aber auf insgesamt deutlich niedrigerem Niveau.

Aus den Neuerkrankungs-Zahlen kann man natürlich auch die Fallzahlen insgesamt berechnen. Für meine drei Vergleichskurven sind das:

Wirklicher Verlauf: 3,1 Millionen Fälle.

Acht-Tage-Lockdown: 1,5 Millionen Fälle (rund 49% des realen Werts).

Vier-Wochen-Lockdown: 0,8 Millionen Fälle (27%).

Die einfachste Abschätzung  (alles weitere ist proportional zu den Neuerkrankungszahlen) würde also zu dem Schluss führen: Mit rechtzeitigem 8-Tage-Lockdown (Januar-Februar-Version der Maßnahmen) hätten wir bis heute insgesamt 1,6 Millionen Corona-Fälle verhindert. Proportional dazu entsprechend viele schwere Verläufe, entsprechende Aufenthalte auf Intensivstationen und, proportional gerechnet aufgrund der Sterbezahlen ab KW42, rund 40 000 Todesfälle.

Mit rechtzeitigem 28-Tage-Lockdown hätten wir 2.3 Millionen Fälle verhindert, entsprechend viele Komplikationen, und proportional gerechnet rund 58 000 Todesfälle. Das sind 82% der tatsächlichen Corona-Todesfälle.

Technische Anmerkungen

Hier noch ein paar Anmerkungen zu Eigenschaften, Güte und Grenzen der Simulation. Das entsprechende Diagramm war ja gewesen:

Die Simulation hat ein paar kurzfristige Schwankungen, ist also nicht mehr so glatt wie die geglättete Verlaufskurve. Die Schwankungen wiederholen sich alle 4 Tage; ich vermute, das kommt daher, dass in meinem einfachen Evolutions-Algorithmus vier aufeinanderfolgende Tageswerte sich ja jeweils unabhängig voneinander verändern – ein Tageswert hängt ja in der simplen Ein-Tages-R-Wert-Rechnung nur vom vierten Vortrag ab, nicht von den drei dazwischenliegenden Tagen. Die Schwankungen zeigen daher, denke ich, an, dass sich jene vier unabhängigen Zeitentwicklungen mit der Zeit eben etwas auseinanderentwickeln.

Warum ich stattdessen nicht den über vier Tage gemittelten R-Wert verwende? Da ist die Zeitevolution mit diesem Algorithmus dann leider wirklich instabil. Man kann das an der entsprechenden Formel sehen. Wenn E1 bis E8 die Erkrankungszahlen für 8 aufeinanderfolgende Tage bezeichnen, dann ist ja der vier-Tages-R-Wert für den letzten der Tage gerade

\(R_8 =\frac{E8+E7+E6+E5}{E4+E3+E2+E1}. \)

Aufgelöst nach E8, wie man das für eine Simulation machen müsste, heißt das

\(E8=R_8\left[E4+E3+E2+E1\right] – E7 – E6 – E5.\)

Angenommen beispielsweise, E7 wäre etwas größer ausgefallen als es der Wirklichkeit entspricht. In der Formel für E8 fällt die Korrektur für E7 dann also etwas größer aus als es sein müsste. Solche gegenläufigen Wirkungen können sich zu Schwingungen aufschaukeln – Physiker*innen kennen das von den einfachsten schwingungsfähigen Systemen, harmonischen Oszillatoren, und deren numerischer Simulation. Bei der Simulation mit der 4-Tages-R-Wert-Formel schaukeln sich die Schwingungen immer weiter auf; solch eine Simulation ist entsprechend instabil. Ich bleibe daher bei der gröberen, aber numerisch stabileren Zeitevolution mit Hilfe des Ein-Tages-R-Werts, wie oben ausgeführt. Da gibt es zwar (aus anderen Gründen, wie erwähnt) auch regelmäßige Schwankungen, aber die bleiben immer ungefähr gleich groß und schaukeln sich nicht auf.

Sanity check

Jedenfalls sollte man bei solchen Simulationen immer einen groben “sanity check” durchführen und sich zumindest qualitativ davon überzeugen, dass das Ergebnis stimmt. Das kann man hier in der Tat tun. Hier ist der interessante rechte Bereich des Diagramms etwas vergrößert dargestellt:

Die senkrechte rote Linie links markiert den Beginn der alternativen Maßnahmen ab Beginn KW42. Die zwei grauen Linien danach markieren das Ende, einmal für den kürzeren 8-Tages-Lockdown, einmal für den vollen 4-Wochen-Lockdown. Die grüne Linie rechts markiert den 8.1.2021, den Beginn des Zeitraums, von dem ich mir die besseren R-Werte “geborgt” habe, um die beiden alternativen Szenarien zu simulieren.

Und in der Tat sieht man: In den ersten 8 Tagen verlaufen grüne und orangene Kurve tatsächlich, von den Schwankungen abgesehen, wie die blaue Kurve ab dem 8.1.21. Etwas flacher, aber das ergibt sich durch die Reskalierung: Der Anfangswert war ja zu Beginn von KW42 deutlich geringer als am 8.1.21. Nach dem jeweiligen Ende des simulierten Lockdowns folgen grüne und orangene Kurve dann, wiederum von der Skalierung und den Schwankungen abgesehen, ungefähr dem Verlauf der blauen Kurve, mit Gipfeln und Plateaus. Insofern zeigt die Simulation hier tatsächlich, was man auch qualitativ erwarten würde.

Man kann das sogar quantitativ nachvollziehen. Ich kann die Kurven in einem Bildbearbeitungsprogramm hernehmen (bei mir ist es Gimp), entsprechend der jeweiligen unterschiedlichen Anfangsbedingungen reskalieren und dann grafisch zusammenfügen. Dann ergibt sich dieses Bild hier:

Letztlich war meine Simulation damit eher Overkill – ein einfaches Reskalieren hätte es auch getan, vielleicht nicht grafisch wie hier (dabei werden die Linien ja auch dünner und damit schlechter sichtbar), aber numerisch. Oh well – manchmal lernt man eben erst während der Analyse, wie es einfacher gegangen wäre. Als Sanity Check taugt das Verfahren auf alle Fälle – gerade auch weil es bestätigt, dass die Auseinanderentwicklungs-Schwankungen das Ergebnis nicht wesentlich verfälschen.

Skripte zum Herunterladen

Alle meine Rechnungen können direkt als Python-Skripte eingesehen werden: Hier ist das Skript, mit dem ich die Abbildungen für den Blogartikel erstellt habe. Hier ist die ältere Version, in der meine diversen Versuche und auch Sackgassen nachvollziehbar sind. Hier ist meine grafische Rekonstruktion als XCF-Datei, also im Format von GIMP.

Wie ernst sollte man solche Abschätzungen nehmen?

Wenn jemand kommen und sagen würde: Hier, schau, da ist eine Simulation der Epidemiologen vom Institut XYZ, die haben solche Alternativszenarien in der folgenden realistischeren Weise durchgerechnet und kommen auf komplett andere Ergebnisse – dann wäre das natürlich ein überzeugendes Gegenargument. Natürlich ist meine Rechnung vereinfacht. Das bedingt zwangsläufig eine gewisse Ungenauigkeit. Ich würde allerdings nicht erwarten, dass bei genauerer Simulation für dieselben Prämissen drastisch andere Ergebnisse herauskommen.

Qualitativ sollte man schließlich erwarten, dass das herauskommt, was meine simulierten Kurven zeigen: Ein Abwärtsverlauf während der Lockdownphase, etwas flacher skaliert, weil die Neuerkrankungszahlen am Anfang eben deutlich niedriger lagen als im Januar/Februar, und Änderungen um einen Faktor entsprechend kleiner sind. Nach Lockdownende eine entsprechend umskalierte Dynamik wie die blaue Kurve. Allzuviel Spielraum dafür, was in einem genaueren Modell anders laufen könnte, gibt es da nicht.

Und ja, selbstverständlich hat meine einfache Rechnung ihre Grenzen. Auf einige davon bin ich oben eingegangen. Wer der Ansicht ist, dass jene Grenzen das Ergebnis der Simulation insgesamt infragestellen, möge gerne selbst eine Rechung programmieren, die es besser hinbekommt.

Auf alle Fälle bin ich der Überzeugung, dass man solche Einschätzungen ernster nehmen und stärker gewichten muss, als Äußerungen, die sich noch nicht einmal die Mühe machen, quantitativ nachzuvollziehen, was da behauptet wird. Ich halte die Grundaussage für robust: Wir hätten den Großteil der Coronatoten verhindern können. Und zwar nicht mit Maßnahmen, die härter und einschränkender gewesen wären wie jene, die wir tatsächlich getroffen haben. Sondern einfach dann, wenn wir als Gesellschaft rechtzeitiger gehandelt hätten.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

33 Kommentare

  1. Ein guter und verständlicher Artikel.

    Nachtrag: alle Vorsorgemaßnahmen wirken nur eingeschränkt, wenn sich die Bevölkerung nicht danach richtet. Deswegen ist das Herumlaufen ohne Maske kein Kavaliersdelikt mehr. Hohe Geldstrafen oder sogar Haft im Wiederholungsfall sind angezeigt.

    • Auch das Herumlaufen mit Maske ist immer noch viel zu riskant. Es kann ja wohl nicht angehen, dass Egoisten in dieser Jahrhundertkrise immer noch ihr Haus verlassen und damit massenweise Menschen in Gefahr bringen. Das Leben muss auf Null zurückgefahren werden. Wir wollen schließlich Leben retten.

      • Haben die Schauspieler Sie inspiriert? Aber mal abgesehen von der aus meiner Stelle hier nicht hilfreicher Überzeichnung: Meine Rechnung zeigt doch gerade, wie wichtig es ist, dass man rechtzeitig handelt. Dann ist (wie in meinem Modell) eben kein “Leben muss auf Null zurückgefahren” nötig. Das ist ja die eigentliche Ironie: Dass die Lockerungs-Lobbyisten letztlich einen Großteil der Verantwortung dafür tragen, dass es so langfristig soviele Einschränkungen gibt.

        • Ich brauche zur Inspiration keine Schauspieler, die erst dann ihren Freiheitsgeist entdecken, wenn ihnen durch Lockdown die Aufträge wegbrechen. Für mich als Liberalen ist Freiheit nicht nur die Freiheit, die ich selbst in Anspruch nehme. Aber ich habe trotzdem Respekt vor den Schauspielern. Gegen den Strom schwimmen fordert sehr viel Courage.

          Der Begriff “Lockerungs-Lobbyist” ist klassischer Orwell’scher Neusprech, nach dem Grundrechte uns nun als “neue Freiheiten” (Merkel) und “Sondergenehmigungen” (Söder) verkauft werden, für die man in Vorleistung gehen muss.

          Der Satz, in dem dieser Begriff eingebaut ist, ist typische moralische Erpressung. Die Regierung schafft Freiheiten ab und erzählt den Bürgern dann, man könne diese Freiheiten nur wieder bekommen, wenn man sich verhält, wie die Regierung verlangt. Bei Verletzung der Regeln hetzt man die Meute gegen eine Gruppe von Regelbrechern. Es ist das politische Pendant zum Bankräuber, wenn er Geiseln nimmt. Und wie beim Bankräuber sehen wir heute Millionen Bürger, die sich im Stockholm-Syndrom mit ihrem Geiselnehmer solidarisieren.

          • Tja, da liegen wir offenbar weit auseinander. Dass es gezielte Lobbyarbeit in Richtung Lockerungen gegeben hat, ist ja nun durch viele entsprechende Zeitungsartikel mit Äußerungen entsprechender Verbandsvertreter*innen dokumentiert. Meine entsprechende sachlich richtige Beschreibung als “klassische[n] Orwell’sche[n] Neusprech” abzutun ist aus meiner Sicht reine Polemik von Ihnen. Statt Sachargumenten wird versucht, das Gegenüber mit der ungenehmen Meinung per Assoziation zu diskreditieren.

            Ähnlich manipulierend-polemisch finde ich Ihre Begriffswahl “typische moralische Erpressung”. Die Regierung hat stattdessen eine Abwägung zwischen verschiedenen Bedrohungen für verschiedene Arten von Freiheit getroffen. Im Intensivbett am Beatmungsgerät zu hängen ist eine sehr krasse Einschränkung von Freiheit, die Sie hier aber offenbar in Ihrer übervereinfachten Darstellung ausblenden. Dass auch die Infektionsschutzmaßnahmen anders geartete Einschränkungen mit sich bringen, ist ebenfalls richtig. Über die Abwägung jener unterschiedlichen betroffenen Grundrechte brauchen wir eine offene gesellschaftliche Diskussion. Die Art und Weise, wie Sie hier vorgehen, bringt uns nicht näher an eine sachliche Diskussion, sondern weiter davon weg.

            Ich solidarisiere mich mit denen, die schwere Krankheitsverläufe hatten, mit denen die sich Sorgen um ähnliche Krankheitsverläufe machen, mit denen, die in Krankenhäusern und insbesondere auf den Intensivstationen selbst Risiken eingehen, um anderen zu helfen, mit denen, die sich und ihre Angehörigen schützen wollen, aber denen das derzeit durch äußere Vorgaben (Präsenzunterricht, lasche Regeln beim Arbeitsschutz) schwer gemacht wird. Dass Ihnen diese Art von Solidarität offenbar so fremd ist, dass Sie Menschen wie mich nur entweder als Verbrecher oder hirngewaschene Opfer sehen können, sagt aus meiner Sicht deutlich mehr über Sie aus als über mich, und leider nichts gutes.

          • Der letzte Absatz hat es ja in sich. Nur beweist man durch den wiederholten Hinweis auf seine eigene Solidarität mit einer Opfergruppe nicht, dass man im Besitz einer höheren Moral ist. Ebensowenig ist ein Mangel an Charakter in Ihrem Gegenüber bewiesen, indem man diesen bei ihm abspricht.

            Dass ich Sie als “Verbrecher” oder “hirngewaschenes Opfer” sehen soll, ist ja nur eine Unterstellung. Ich habe von der Bundesregierung und Millionen Bürgern gesprochen, nicht von Ihnen.

            Lassen Sie sich von meinem Sarkasmus und schwarzen Humor nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich höchsten Respekt vor Ihnen habe. Ich glaube eben nur, dass wir dem Wert Freiheit sehr unterschiedliche Bedeutung beimessen.

          • …wobei ich ja auch nie behauptet habe, im Besitz einer höheren Moral zu sein. Das ist dann wiederum eine Unterstellung von Ihnen, soweit ich sehen kann. In Ihrer Bankräuber-und-Geiseln-Analogie ist soweit ich sehen kann nirgends Erwähnung, und auch kein direkt sichtbarer möglicher Platz, für diejenigen, die weder Verbrecher (Geiselnehmer) noch hirngewaschene Opfer (Stockholm-Syndrom-Leidende) sind; darauf bezieht sich meine Antwort.

            So ganz scheinen wir das sachlich miteinander reden hier in dieser Konstellation noch nicht herauszuhaben, wenn man sich unsere jeweils letzten Kommentare hier anschaut.

  2. Ihre Prognosen wären nur sinnvoll und zutreffend, wenn sich Deutschland gegenüber den Nachbarn (Tschechei, Österreich, Frankreich, und den Flugverkehr…) komplett abgeschottet hätte.

    Das ist aber nicht realistisch. Den Transfer der Arbeitskräfte über die Grenzen können Sie normalerweise nicht auf längere Zeit unterbinden. Damit hätten ihre Prognosen das „Sterben“ nur verzögert. Das zeigen ihre Kurven. Aus der grünen als auch der orangen Kurve ist ersichtlich, dass sie letztlich wieder exponentiell ansteigen dürften, wenn keine Maßnahmen mehr gesetzt würden.

    Auch mussten die handelnden Politiker berücksichtigen, dass wir in einer Demokratie, auch mit „Narrenfreiheit“ leben. Je mehr Menschen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden müssen, um so später und problematischer werden die Entscheidungen.

    • Der Einwand an sich ist berechtigt; das wäre ein Effekt, den man sich noch gesondert ansehen müsste für eine genauere Betrachtung. Allerdings sehe ich nicht, warum man meine Abschätzungen mit der Begründung komplett abtun kann. Auch Januar/Februar 2021 haben wir uns schließlich nicht gegenüber den Nachbarn abgeschottet – jene R-Werte sind, wie gesagt, real. Dieselbe Antwort gilt für Ihren weiteren Einwand: Auch Januar/Februar 2021 haben wir in einer Demokratie gelebt. Sogar in einer, die noch deutlich Pandemie-müder war als im Herbst. Das ist also kein valides Argument.

      • @ Markus Pössel 22.04.2021, 13:23 Uhr

        „ Komplett abtun“ möchte ich Ihre Abschätzung nicht. Ich bin an sich auch sehr für einen vorsichtigen und möglichst vorausschauenden Kurs wie Sie. Mich persönlich treffen die Einschränkungen kaum, aber viele Menschen verlieren ihre wirtschaftliche Existenz und das finde ich extrem betrüblich.

        Es kommt auf ein „Optimum“ (nicht unbedingt auf ein „Minimum“) an und dieses zu finden ist letztlich Aufgabe der Politik. Salopp gesagt das Verhältnis derjenigen, die meistens so und so relativ bald gestorben wären, und der depressiven Suizidopfer z.B. wegen Verlust ihrer Existenz.

        Januar/Februar 2021 gab es durchaus Abschottungen gegen Tirol und in Furth im Wald gegen Tschechien. Allerdings anders als noch im Herbst, als es schien es wäre alles vorbei und als Merkels „Weinachtsprognose“ (19 000 Fälle) z.B. von Herrn Lanz „massiv angezweifelt“ wurde, erfolgte angesichts der Realität in den Intensivstationen ein lehrreiches „Umdenken“ im Volk.

        Politiker müssen eben abwarten und die Leutchen ein „bisschen anrennen lassen“ damit Vernunft einkehrt, Mathematik reicht nicht….

        Nicht alle sind so „Mathematik gläubig“, wie übrigens auch ich.

        • Zumindest bei Suizid gibt es offenbar bislang (das könnte sich natürlich tendenziell ändern) keinen Lockdown-Effekt, siehe dieser Beitrag hier.

          “Mathematikgläubigkeit” ist aus meiner Perspektive in diesem Zusammenhang ein polemischer Kampfbegriff. Es geht darum, die Situation quantitativ zu beurteilen. Stattdessen auf Bauchgefühl zu setzen wird der Lage nicht gerecht.

    • Ihre Prognosen wären nur sinnvoll und zutreffend, wenn sich Deutschland gegenüber den Nachbarn (Tschechei, Österreich, Frankreich, und den Flugverkehr…) komplett abgeschottet hätte.

      Pardon, aber das ist ausgemachter Blödsinn. Der Eintrag durch Grenzübertritte ist nur relevant wenn die Inzidenz nahe 0 ist. Und wenn dies der Fall ist, hat man die notwendigen personellen Mittel durch direkte Absonderung der Ansteckungsverdächtigen die Infektionsketten zu brechen. Siehe No-Covid.

      Aus der grünen als auch der orangen Kurve ist ersichtlich, dass sie letztlich wieder exponentiell ansteigen dürften, wenn keine Maßnahmen mehr gesetzt würden.

      Weswegen man immer wieder, sobald die Inzidenz sich der 25 nähert, einfach mal 10 Tage alles schließen muss. “Hammer & Dance” bzw. “Hit hart and early”.

  3. Empfehlungen von Wissenschaft und Vorgaben durch die Regierungen nützen nur dann etwas im Kampf gegen die Pandemie, wenn die Bevölkerung sich vernünftig verhält.
    Vernunft kann man nicht anordnen oder befehlen.

    Zudem wurden durch die StIKo bzw. Regierung schwere Fehler gemacht: z.B. wenn tagelang nur einseitig massiv suggeriert wird, dass AstraZeneca-Impfungen (Thrombose) gefährlicher sind als die Corona-Erkrankung, dann braucht man sich nicht wundern, dass viele Leute sich entsprechend verhalten.
    Hier gab/gibt es massive Kommunikationsfehler: man sollte die Vorteile eines Impfschutz in der Risikobewertung viel deutlicher hervorheben und nicht nur einseitig das Risiko.

    Aktuell ist es so, dass sehr viele Impfstoffe im Kühllager zurückgehalten und nicht verimpft werden – obwohl sehr viele Menschen dringend auf eine Impfung warten.
    Dieses Zurückhalten von Impfstoffen ist ein Grund, wieso viele Maßnahmen der Regierungen mittlerweile nur noch als Schikane betrachtet werden.

  4. Ich sehe es so, wie es der Bundespräsident in seiner Rede vermittelt hat.

    Auch halte ich die Entscheidungen der Regierung in der Pandemiefrage für derzeit praktisch alternativlos. Wir müssen zumindest versuchen uns gegen das Virus zu wehren.

    Dies alles, obwohl mir klar ist, dass sagen wir in 10 Jahren beim „Rückblick“, alles „falsch“ gewesen sein könnte.

    Das wäre dann der Fall, wenn sich herausstellen würde, dass die dem Virus hinterher hechelnden Impfstoffforscher vom immer schneller mutierenden Virus „abgehängt“ wurden und das Virus womöglich immer gefährlicher wurde, die Sterbezahlen letztlich auch explodiert sind.

    In diesem Fall wären „Virenpartys“ vermutlich besser gewesen und man hätte die hohen Sterbezahlen akzeptieren sollen. Es hätte ein „Ende mit Schrecken“ sein können, womöglich wurde es „ein Schrecken ohne Ende“.

    Dies war übriges früher die Strategie bei der Maul und Klauenseuche. Man hat akzeptiert, dass rund 30% der Rinder die Seuche nicht überlebten. Danach war wieder „Ruhe“ für einige Jahrzehnte….

      • @ Titus von Unhold 22.04.2021, 20:16 Uhr

        Zitat: „Menschenverachtend.“

        Das stimmt leider, aber es ist die Realität.

        Noch 1920 bei der letzten Pandemie, war man praktisch hilflos dem Geschehen ausgeliefert. Es blieb den Menschen gar nichts anderes übrig, als alles so hinzunehmen wie es eben kommt.

        Erst wir haben vermutlich die halbwegs realistische Chance den „Kampf“ gegen die Pandemie auf wissenschaftlicher Basis aufzunehmen und hoffentlich zu gewinnen, wie z.B. ehemals den Kampf gegen die Diphtherie.

        Möglicherweise sind die absurd erscheinenden Verhaltensmuster der „Unverbesserlichen“ Relikte früheren instinktiven Verhaltens, damit eine Seuche schnellstes wieder „von selbst verschwindet“, weil es einfach noch keine Impfungen und Medikamente gab?

  5. Ja, das sind überzeugende Simulationen/Projektionen. Allerdings ohne Berücksichtung äusserer gesellschaftlicher und politischer Umstände. In meinen Augen kann nur die Impfung aller Impfwilligen die Pandemiesituation wirklich beenden (für die Impfwilligen beenden). Ich hätte deshalb erwartet, dass in dem Moment als klar wurde, dass in Zukunft wirksame Impfungen zur Verfügung stehen werden, ein ziemlicher harter Lockdown hätte verhängt werden sollen. In der Ärztezeitung gibt es eine Chronologie der Corona-Impfung. Dort liest man

    Veröffentlicht: 09.11.2020, 15:44 Uhr
    Corona-Impfstoff zeigt 90 Prozent Schutzwirkung in Phase-III-Studie

    Nach ersten Ergebnissen einer Phase-III-Studie hat ein Corona-Impfstoff von BioNTech und Pfizer nach Angaben der Unternehmen eine Wirksamkeit von 90 Prozent. Die Vakzine hat sich zudem als sehr sicher erwiesen. Es fehlen zwar noch Details, aber die Zulassung rückt deutlich näher.

    Daraus hätte die Politik Konsequenzen ziehen müssen: sie hätte somit ab Kalenderwoche 46 einen harten Lockdown durchsetzen müssen und das auf sehr lange Zeit hin und nur mit kleinen Unterbrüchen. Allerdings wurde am 2. November bereits ein Teil-Lockdown mit Einschränkungen bei Kontakten und Freizeitaktivitäten verhängt. Dieser hätte meiner Meinung nach ab dem 9. November noch ausgeweitet und verlängert werden müssen.

    Wenn die Politik nicht deutlich auf aktuelle Entwicklungen reagiert, welche bei richtigem Verhalten, bei richtiger Reaktion die Zukunftsaussichten deutlich verändern, dann macht sie einiges falsch.

    Es stimmt aber wohl, dass Massnahmen ab Kalenderwoche 42 – also noch 4 Wochen bevor bekannt wurde, dass eine hochwirksame Impfung im Anmarsch ist – deutlich besser gewesen wären als ähnliche Massnahmen 4 Wochen später, denn auf einen deutlichen Anstieg der Infektions- und Erkrankungsfälle sollte möglichst früh reagiert werden.

  6. Ich hab mich auch gefragt, warum man in die komplett vorhersehbare und vorhergesehene dritte Welle scheinbar mutwillig hineingerannt ist. Mein Verdacht war, dass es seitens der Politik auch mit den anstehenden Landtagswahlen zu tun hatte. “wirtschaftliche Interessen” ist mir ein wenig zu unspezifisch. Es geht auch um Fragen der Grundversorgung und natürlich der Akzeptanz.
    Wie steht es eigentlich um die Eigenverantwortung des Einzelnen? Die Ansteckungsrisiken und Ansteckungswege sollten doch inzwischen jede bekannt sein, oder nicht? In unserer Bäckerei wurde jedenfalls in den kalten Tagen kaum noch gelüftet und schon gar nicht quer. Morgends, beim gössten Andrang war es halt auch am kältesten. Vor dem Laden warte, bis man an der Reihe ist, war für viele auch zuviel verlangt. Ein Lockdown hätte da auch nichts genützt. Ich hab, aus schon aus Prinzip die paar Tage aufs Brot verzichtet.

  7. aktuelle Ergänzung

    Gerade wurde in den 14:00-Nachrichten gemeldet, dass einige Bundesländer den AstraZeneca-Impfstoff für alle Personen ab 18 Jahren freigeben – die sich damit impfen lassen wollen.
    (Offenbar liegt soviel AstraZeneca-Impfstoff in den Kühllagern herum – dass man jetzt die Priorisierung aufgehoben hat.)

    Dass man die bisherige Bevormundung der Bürger endlich beendet und die Menschen selbst entscheiden läßt – ist eine sinnvolle Aktion dieser Landesregierungen (auch wenn sie viel zu lange dazu gebraucht haben)

  8. Den Fehler, ungebremst in eine zweite oder dritte Welle zu rennen, machten sehr viele Länder und machen ihn noch immer, jetzt Indien.

    Tschechien kam sehr gut durch die erste Welle und rannte dann sehenden Auges in die zweite Welle, lockerte vor Weihnachten und es endete in fast 29 000 Toten (erste Welle ca. 500, davon tatsächlich viele mit Corona gestorben).

    Meines Erachtens wäre ein EU-weiter, koordinierter Lockdown das Mittel der Wahl im Herbst gewesen. Aber es fehlte der Wille.

  9. Ich habe mich heute früh mit einer Frau unterhalten – Alter: über 70 Jahre.
    Sie hat sich erst zum Impfen angemeldet, hat aber mittlerweile schon zwei Impftermine abgelehnt – weil sie Angst vor den Nebenwirkungen hat.

    Dieses Beispiel zeigt dass Maßnahmen und Empfehlungen von Politik und Wissenschaft wirkungslos sind – wenn sie nicht oder gar falsch verstanden werden. D.h. hier gibt es ein Kommunikationsproblem

  10. @KRichard

    😏Über 70 Jahre🥴nee, das zeigt ein grundsätzlich falsch vermitteltes Bild vom Leben – systemrational-gepflegte Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und “Individualbewusstsein”, im misstrauischen Glauben an die Sinnhaftigkeit von zufälliger und auch spiritueller Einmaligkeit.😥

  11. Was ich mich bei Betrachtung Ihrer Grafik frage: Die Inkubationszeit von 7-10 Tagen führt doch zu einem abknicken der Zahlen erst nach einem weiteren Anstieg. In sofern stellen Sie doch eigentlich das Szenario eines Lockdowns in der 40. oder 41. Woche dar – in der allerdings aus meiner Sicht eine Entscheidung pro Lockdown eher unwahrscheinlich war.
    Ein Lockdown in der 42. Woche hätte seinen Knick nach unten leider erst im Laufe der 43. Woche gehabt und damit sehr viel mehr Infizierte hinterlassen, als Sie hoffen. Leider.

    • Eine gewisse Verzögerung gibt es da in der Tat; andererseits: Reaktion erst ab der 42. Woche hieße ja, gewartet zu haben, bis der Anstieg sogar noch höher ist als beim Maximum (!) der ersten Welle. Insofern: Bei geeigneten alles andere als unplausiblen Erklärungen wäre aus meiner Sicht ein Handeln auch z.B. ab KW41 nicht unrealistisch gewesen. Zumal Sie die Inkubationszeit recht hoch ansetzen; meist beträgt sie ja offenbar 5-6 Tage. Und ansteckend ist man bereits einige Tage vor der eigentlichen Erkrankung; daher ja auch beim RKI die Rechnung mit den minus vier Tagen.

  12. @hto
    @Pössel hat im einführenden Beitrag angesprochen – welche Effekte von bestimmten Maßnahmen gegen die Pandemie haben könnten.

    Wenn aber eine Frau der Impfgruppe II aus Angst vor Nebenwirkungen mehrere Impftermine nicht wahrnimmt – dann zeigt dieses Beispiel, dass staatliche Maßnahmen nichts bringen wenn es schwerste Kommunikationsprobleme gibt; weil die Leute mehr Angst vor der Impfung als vor dem Virus haben.
    Gestern kam im ntv, dass an manchen Impfzentren bis zu 25 % der angebotenen Impftermine nicht wahr genommen wurden.

    Das sollte endlich zu Denken geben!

    Geschäftsleute, Selbsständige, Künstler, Sportler verlieren durch die aktuellen Einschränkungen nach und nach ihre Lebensgrundlage. Das Fehlen von direkten Sozialkontakten ist für viele Menschen eine sehr großte Belastung bzw. ein Verlust von Lebensqualität.

    Wenn Leute ihre Impftermine nicht wahrnehmen, dann hat dies die direkte Auswirkung, dass die Dauer der Pandemie noch länger hinaus verschoben wird – mit allen negativen Konsequenzen.
    D.h. statt darüber nachzudenken, was und wie man der Bevölkerung noch weitere Beschränkungen auferlegen kann – sollte man versuchen bisherige Kommunikationsfehler/-pannen zu korrigieren

  13. Um den Kurvenverlauf positiv zu verändern, wäre es notwendig (gewesen), jene Personen zuerst zu immunisieren, die ständig körpernahen Kontakt mit wechselnden Personen haben müssen (Pflege u.ä.) Dann wären viele Infektionsketten gar nicht erst entstanden.

  14. Vielen Dank für den sehr anschaulichen Beitrag.
    Haben Sie ihren Ansatz mit einem Epidemiologen besprochen?

    • Nein; die Beziehung zur Epidemiologie hat er durch das direkte Anknüpfen an die entsprechenden RKI-Ausführungen (die ja auch verlinkt sind).

  15. Es gibt jetzt eine Studie über Langzeitfolgen nach Covid-Erkrankung – damit kann man zeigen, wie wichtig die bisherigen Maßnahmen waren und warum man ich an die Empfehlungen der Schutzmaßnahmen halten sollte

    http://www.sciencedaily.com/releases/2021/04/210422123603.htm ´Among Covid-19 survivors, an increased risk of death, serious illness: … ”

    Diese Studie zeigt das Ausmaß von Krankheiten und von Todesfällen – ca 1/2 Jahr nach einer Covid-Erkrankung

  16. gestern stand die dpa-Meldung in der Zeitung – wonach in Israel zum ersten Mal seit Juni letzten Jahres kein einziger Covid-Todesfall innerhalb eines ganzen Tages gemeldet wurde

  17. Es gab recht früh einen Zeitpunkt an dem erkennbar war, dass sich die Ausbreitung dieses Mikroorganismus nicht mehr aufhalten lässt.
    Einige haben damals vorgeschlagen sehr (!) viel Geld in die Hand zu nehmen, um vulnerable Gruppen zu schützen, zu isolieren, und die anderen dem Virus auszusetzen, um sog. Herdenimmunität möglichst zeitnah zu erreichen.

    • Die Diskussion erinnere ich auch; da kam aber schnell die Gegenrechnung, dass rund 40% der Deutschen in Bezug auf Corona zu einer Risikogruppe gehörten. Die sind nicht praktischerweise zu isolieren, beziehungsweise anders herum: hätte man nicht die tatsächlichen Risikogruppen, sondern nur eine kleine Untermenge davon (z.B. Altenheime) zu isolieren versucht, hätte ansonsten freies-Laufen-lassen zu doch sehr hohen Sterbezahlen geführt. Wie man an einigen im Durchschnitt deutlich jüngeren Ländern als Deutschland ja aktuell gerade sehen kann.

  18. So wie ich das sehe (ich hab die Seite mit der genauen Methodenbeschreibung leider nicht gefunden), nehmen Sie ab Woche 42 Maßnahmen an und setzen da sofort den R-Wert herunter. Ich denke, Sie vernachlässigen dabei eine Latenzzeit, weil die gemeldeten Infektionszahlen den realen Infektionen 7-10 Tage (?) nachhinken. Also dürften Maßnahmen ab Woche 42 auch erst den R-Wert ab Woche 43 oder 44 senken. Die Menschen in Woche 42 haben sich ja schon vorher infiziert. Ich würde daher ihre Simulationszahlen für Maßnahmen ab Woche 40 oder 41 sehen.