Bitte begrüßen Sie mit mir: die Shitstorm-Schwalbe

Purpurschwalbe im Flug

Kommunikation auf Social Media, ob in der Wissenschaftskommunikation oder abseits davon, hat eine ganz eigene Dynamik und auch ganz eigene Kommunikationsmuster. Eines, das mich seit längerem nervt, ist das folgende: Mensch macht provokante Aussage. Mensch erntet sachliche Kritik plus unsachliche Anwürfe. Mensch beschwert sich daraufhin darüber, Ziel eines “Shitstorms” zu sein und geht mit dieser selbstdeklarierten Ungerechtigkeit publikumswirksam hausieren. Angenehmer und in einigen Fällen sicherlich auch gewünschter Nebeneffekt für jenen Menschen: mit der sachlichen Kritik muss er oder sie sich dann gar nicht erst mühsam auseinandersetzen. Die Kritik ist in der öffentlichen Darstellung “Mensch X wurde Opfer eines Shitstorm!” pauschal mit-diskreditiert. Für die absichtliche Ausnutzung jener Dynamik bietet sich als griffige Bezeichnung die “Shitstorm-Schwalbe” an.

Purpurschwalbe im Flug. Keine Shitstorm-Schwalbe, aber immerhin.
Wer hätte gedacht, dass es auf Wikimedia Commons kein Foto einer Fußball-Schwalbe gibt? Weibliche Purpurschwalbe im Flug im Montrose Point Bird Sanctuary, USA; Nutzer Peterwchen via Wikimedia Commons unter Lizenz CC BY-SA 4.0.

Die Schwalbenanalogie habe ich aus diesem Tweet hier von Alexander Demling:

Adrian Daub hatte das dann noch weiter ausgeführt:

Ich würde dem gerne als Merkmal einer echten Shitstorm-Schwalbe das Element des Ausbremsens sachlicher Kritik hinzufügen wollen. Das gehört für mich zu der Analogie dazu – zu der Vorteils-Verschaffung, der die Shitstorm-Schwalbe wie ihre Fußball-Namensverwandte dienen soll.

Auch die Vogel-Assoziation dabei ist direkt hilfreich:

Auf den warmen Winden des selbst entfachten oder gar erfundenen Shitstorms gekonnt in die Tagespresse segeln und sich auf diese Weise Reichweite verschaffen. Shitstorm-Schwalbe: the gift that keeps on giving.

Natürlich sind Hass und Hetze im Internet real – genau wie echte Fouls im Fußball, die zu ernsthaften Verletzungen führen können. Die Schutzmechanismen gegen Hass und Hetze im Internet sind mangelhaft, und wo ernstzunehmende Drohungen jemanden “wegbeissen” und nachhaltig an der Meinungsäußerung hindern sollen, ist das scharf zu verurteilen. Nebenan bei Natur des Glaubens hat Michael Blume ja gerade vor etwas mehr als einer Woche etwas zu den rassistischen Drohungen gegen Jasmina Kuhnke geschrieben. Um solche Fälle geht es hier selbstredend nicht. Genau wie im Fußball darf uns Kritik an Shitstorm-Schwalben nicht davon abhalten, Kritik an echten Fouls zu üben.

Griffige Begriffe sind machtvolle Werkzeuge. Egal ob ihr beispielsweise “Cancel Culture” als ernstes Problem oder als herbeigeredetes Pseudo-Problem anseht: dass dieses Konzept in der derzeitigen öffentlichen Diskussion eine so vergleichbar große Rolle spielt, hängt auch damit zusammen, dass der Begriff “Cancel Culture” griffig ist.

Shitstorm selbst ist ein weiteres Beispiel. Dass dieser Begriff so griffig und eingängig ist, hat Shitstorm-Schwalben ja überhaupt erst möglich gemacht. Dort, wo der Begriff verwendet wird, wenn jemandem kritischer Gegenwind entgegenschlägt, ist die Shitstorm-Schwalbe ja fast schon direkt eingebaut. Denn alleine jeder Fall, indem auch sachliche Kritik unter diesem durchaus abfälligen Sammelbegriff verschwindet, ist ja bereits eine ziemliche Frechheit – und das Gegenteil neutraler Berichterstattung.

Klar dürfte auch sein: Einen Begriff einführen zu wollen ist ebenso schwer wie der bewusste Versuch, einen bestimmten Tweet viral gehen zu lassen. Aber vielleicht ist Shitstorm-Schwalbe ja tatsächlich ein Begriff, dessen Zeit gekommen ist. Insofern: Bitte merken und dort, wo es passt, dann nach Gutdünken anwenden. Dass wieder einmal jemand publikumswirksam eine Shitstorm-Schwalbe hinlegt, wird ja mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht allzu lange auf sich warten lassen. Shitstorm-Schwalben konsequent als solche zu benennen, hilft hoffentlich dabei, diese Unsitte einzudämmen.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

23 Kommentare

  1. Ohne Beispiele ist Shitstorm-Schwalbe ein Insider Begriff und ich behaupte einmal, nur wenige der Leser hier können dazu ein selbst erlebtes Beispiel nennen.

    • Ich liefere ja durchaus eine Definition. Leser*innen, die die entsprechende Situation nicht wiedererkennen, benutzen den Begriff dann eben nicht. Leser*innen, die in sozialen Medien oder Tagespresse regelmäßig mitlesen, dürften immer einmal wieder mit passenden Beispielen in Berührung kommen.

  2. Das beschriebene Phänomen hängt natürlich auch mit Presse, Journalismus und “öffentlicher Aufmerksamkeit” zusammen. Es ist auch älter als der Begriff Shitstorm. Mit derben Provokationen ist man sich der Medienaufmerksamkeit sicher. Spontan fallen mir sofort diverse Politiker, Muhammad Ali, Uli Höness ein. Die sachliche “Enttarnung” sollte bei einer Meldung immer auch dabei sein, jedenfalls Ansatzweise, mindestens per Link, falls es komplizierter wird. Ansonsten hielte ich es für gut, anonyme Shiter ohne Sachargument grundsätzlich als Trolle zu behandeln und zu ignorieren. Schon hätte man sehr viel weniger davon.

  3. Bei J.J.L. & Co. sehe ich momentan keine Shitstorm-Schwalbe.
    Da sehe ich nur eine Dummheit die, vielleicht aus schlechter Beratung, den gleichen Mut der Verzweiflung aus Angst und gleichermaßen Bewusstseinsbetäubung der Gewohnheits- und Wohlstandsmenschen zum Ausdruck gebracht hat.

    Allerdings kenne ich nur drei Videos.

    • Shitstorm-Schwalben werden von Politik und ihren populistischen Wasserträgern schon immer als ablenkendes Mittel der etablierten Konfusionierung konstruiert – besonders das Parlament ist ein solches Schwalbennest, was deutlich macht wie schädlich und absurd das zur Idee wirklich-wahrhaftiger Demokratie steht/fliegt!?

  4. mit der sachlichen Kritik muss er oder sie sich dann gar nicht erst mühsam auseinandersetzen

    Der nächste pauschale Begriff wird garantiert auch nicht dazu beitragen, die Empörungsspiralen der sozialen Medien aufzulösen.
    Wer zum Beispiel die Reaktionen auf #allesdichtmachen als Schwalbe abtut, unterschlägt damit die Morddrohungen und die Forderung nach beruflichen Konsequenzen.

    Wer sich mit den Dingen differenziert auseinandersetzen möchte, muss sich halt die Mühe machen, die Dinge auseinanderzuhalten und zu trennen. Nur weil das irgendjemand nicht macht, muss man dann noch nicht das gleiche nur andersherum tun.

    • Howdy!

      Der Shitstorm-Begriff korreliert mit der Einführung der netzwerkbasierten Kommunikation, vergleiche :

      -> books.google.com/ngrams/graph?content=shitstorm&year_start=1800&year_end=2019 (Dr. Webbaer weiß nie genau, ob derart parametrisierte Webverweise überall funktionieren, kann dies auch nicht wissen, wird bei “Nichtfunktion irgendwo” webverweisend nachzubessern suchen)

      ‘Shitstorm’ ist kein guter Begriff, es macht aus diesseitiger Sicht Sinn hier eine grundsätzlich oppositionelle Haltung einzunehmen, die dann sicherlich verallgemeinernd ist.
      Gibt es gute sogenannte Shitstorms ?

      Die Ablehnung einer Abomination ist, auch wenn sie a bisserl pauschal ausfällt, nicht etwas, das in der selben Liga spielt.
      (Denkbarerweise hat der werte hiesige Inhaltegeber diese kürzlich erfolgte satirisch-konzertierte Aktion von bundesdeutschen Künstlern im Visier, dann wäre dies aus meiner Sicht kein so-o guter Anknüpfungspunkt für eine an sich gute Sache.)

      Hierzu kurz :

      Wer sich mit den Dingen differenziert auseinandersetzen möchte, muss sich halt die Mühe machen, die Dinge auseinanderzuhalten und zu trennen. Nur weil das irgendjemand nicht macht, muss man dann noch nicht das gleiche nur andersherum tun.

      Ganz genau, einfach ablehnen und einen ablehnenden Begriff einführen müsste abär gehen.

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

    • Nur weil das irgendjemand nicht macht, muss man dann noch nicht das gleiche nur andersherum tun.

      Korrekt. Wer sich als akademischer Wissensc haftler (oder Wissenschaftskommunuikator) mit Anspruch auf Sachlich- und Redlichkeit auf Sachinhalte einlässt, sollte selbst nicht der Dynamik der Unsachlichkeit verfallen.

      Die Konstatierung einer situativen “Schwalbe” ist praktisch eine solche Unsachlichkeit…auch, wenn es haufenweise analoge Szenerien in der Umgangsdynamik der Menschen gibt.

      Der Ruhm für besondere Erkenntnisse in der Unsachlichkeit anderer Menschen sollten der Sachlichkeit verpflichtete Menschen anderen Menschen nicht abneiden. Also von vornherrein der Abschweifung widerstehen. ist nicht auch sonst immer das Argument selbst beste Aussage über die Wahrhaftigkeit gewesen? So wars mir selbst immer in Erinnerung, wenn ich auf die ernsthaften Akteure traf.

      • Halte ich in mehrerlei Hinsicht für falsch. Öffentliche Diskussion hat eine Meta-Ebene, die unter anderem für die Einschätzung wichtig ist, in welche Richtung sich am geeignetsten konstruktiv weiterdiskutieren lässt. Gerade wem die Sachdiskussion wichtig ist, dem muss doch daran gelegen sein, dass nicht-sachliche Vorgehensweisen (wie die erwähnte Shitstorm-Schwalbe, oder andere Arten von Abschweifungen) auch als solche benannt werden.

        • Geht es statt ‘Shitstorm-Schwalbe’ vielleicht auch anders begrifflich?

          • Ist das eine ernstgemeinte Frage? Falls ja: Selbstverständlich geht es immer irgendwie begrifflich anders, wundert mich, dass ich so etwas explizit schreiben muss und frage mich, ob ich hier veräppelt wäre. Wenn Sie einen vergleichbar griffigen Begriff für denselben Sachverhalt kennen, immer her damit.

          • Die Frage war ernst gemeint, die Idee mit der “Shitstorm-Schwalbe” mag der Schreiber dieser Zeilen, bezweifelt nur ein wenig, dass sich das mit der “Schwalbe” durchsetzen kann.
            “Shitstorm-Fake” und Ähnliches klang mir zu dumm, um es vorzuschlagen, ginge wohl auch am Gemeinten vorbei.
            Es könnte sich lohnen hier einen griffigen Begriff, der Begriff ist immer ein Griff, zu finden, einen griffigeren Begriff?!
            (Ganz ernst gemeint, war alles aus diesseitiger Sicht zustimmungsfähig, no problemo.)

        • Ich meine nur, wenn Wissenschaft sachlich sein (und bleiben) will, darf sie mal schmunzeln oder zucken, aber sich darauf einlassen?

          Das wollte ich einwenden. Das sie als solche benannt werden darf, ist klar.

          Aber ich meine auch, das sie das hier behandeln, lässt mich glauben lassen, das sie sich mehr mit solchen Nebenschauplätzen beschäftigen wollen, als mit dem Sachproblem, weswegen ich eigendlich hierher komme.

  5. Ja, gut, hallo ‘Shitstorm-Schwalbe’ !

    Ist was dran, auch diese Aussage – ‘Ich würde dem gerne als Merkmal einer echten Shitstorm-Schwalbe das Element des Ausbremsens sachlicher Kritik hinzufügen wollen.’ – kann Zustimmung finden.

    Sog. ‘Cancel Culture’ und ‘Shitstorm’ sind ‘griffig’, nette Abhandlung insgesamt, danke.
    Mir persönlich stößt immer auch ein wenig auf, wenn Leutz, die im Web massiv austeilen, empfindlich im Einstecken sind, dann zu skandalisieren suchen; auch bei Androhungen von Gewalt, die natürlich streng abzulehnen sind, prüfe ich dennoch gerne mal, ob vom Klagenden selbst Gewaltandrohung (als politisches Mittel idR) genutzt worden ist.

    ‘Schwalbe’ ist zumindest im Niederländischen ein Germanismus, hat sprachliches Potential sozusagen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  6. Man kann nicht ohne konkretes Beispiel ein Szenario der Unsachlichkeit auch Seitens der Provokateure (aka Primär-Theoretiker) aufstellen.

    Man wollte das wohl manchmal dann, wenn man selbst die Erfahrung machte, das seine sachliche Kritik nicht vollständig oder gar nicht angenommen und/oder anerkannt wurde. Oder eine Wunschideologie zur Geltung verhelfen will, die man für die bessere Erklärung oder die bessere Wahrheit hält.

    Aber sachliche Kritik allein ist noch kein Hinweis auf die Korrektheit im Zusammenhang. Sie ist nur Teil der Komplexität in Wirklichkeit.

    • Diesen Kommentar verstehe ich nicht. Für mich ist er zu vage und umständlich formuliert, als dass ich sehen könnte, was damit konkret gemeint sein soll.

      • So genau weiß ich auch nicht mehr, was ich damit sagen wollte und auf was in ihrem Beitrag ich mich beziehen wollte.

        Vielleicht bezog ich mich, nachdem ich auch noch Kommentare las, auf einen Inhalt darin.

  7. Ich denke, daß der “Rüpel” der jemanden anderen provoziert und dann bei Gegenwehr oder Überreaktion des Anderen “Der hat mich gehauen” schreit, ein schon lange bekannter Fall ist. Den gab es schon lange vor dem Internet.

    Anders sieht es wohl dann aus, wenn in einem “öffentlichen Forum” wie hier oder in Diskussionsbereichen von Zeitungen jemand mit seiner Ansicht andere Menschen zum Widerspruch “reizt”. Denn es gibt ja heutzutage “Reizthemen”, wo es “Extremisten” gibt, die selbst bei “moderaten” Ansichten in Rage geraten. In dem Falle hätte derjenige, der dem “Shitstorm” ausgesetzt ist, schon Grund zur Klage.

    Gruß
    Rudi Knoth

    • Da muss man dann halt die Fälle gesondert betrachten. Bereits das Benennen als “Extremist”, von mancher Seite aus als “Aktivist”, ist ja in einer ganzen Reihe von Fälle schon alles andere als neutral.

  8. Wem es zu aufwändig ist in seine eigene Wohnung einzubrechen und dann Bedauern einzubringen, hat es mit der Schwalbe einfacher..
    Auch in dem von Spahn benutzen ” wir werden uns viel zu verzeihen haben ” könnte schon die Ankündigung einer Schwalbe liegen. Anders ausgedrückt: Ich mache jenseits von Belehrbarkeit immer wieder neue gleiche Fehler und ihr Anderen seid ungerecht, wenn ihr dies nicht verzeihen wollt.
    So oder so: Schöner Kniff aus der Übrigens auch noch Gewinn zu ziehen und auch berechtigte Kritik via Dolchstoßlegende zum eigenen Vorteil zu münzen.

  9. Wer gut austeilt, kann noch längst nicht gut einstecken. Anscheinend ist gerade die Lust am Differenzieren ziemlich aus der Mode. Hört sich ja auch besser an, wenn ich behaupte angegriffen worden zu sein, statt deutliche Kritik eingefahren zu haben.
    Ich habe so manche Leserbriefseite von angeblich Angegriffenen durchforstet und konnte da außer deutlich dargelegter Kritik nichts als Angriff herauslesen.