Einsteins Blinddarm – Der Kern der Relativitätstheorie
BLOG: Quantenwelt
Mit diesem Beitrag möchte ich ein Stöckchen aufnehmen, das Werner Große geworfen hat. In seinem Artikel “Warum haben wir einen Blinddarm” stellt er fest, dass man eine Theorie nicht erklärt, indem man auf die Sensationen eingeht, sondern indem man ihren Kern erklärt. Wir können nicht erklären, warum der Mensch einen Blinddarm hat, wenn wir nicht den Kern der Evolutionstheorie herausarbeiten, und wir können das Zwillingsparadoxon nicht erklären, wenn wir nicht den Kern der Relativitätstheorie begreifen.
Für Evolution bin ich kein Fachmann, vielleicht kann das jemand anderes aufgreifen, aber mit der Relativitätstheorie kenne ich mich aus. Ich habe schon viele Diskussionen über das so genannte Zwillingsparadoxon geführt. Die Tatsache, dass die Zeit für eine bewegte Uhr langsamer vergeht als für eine ruhende und dass diese Tatsache auch noch unabhängig von Standpunkt des Beobachters ist, ist auf dem ersten Blick wenig einsichtig. Obwohl dieses Paradoxon schon lange logisch aufgelöst und nicht wirklich paradox ist, und obwohl es seit Anfang der 70er Jahre auch experimentell bestätigt ist, ist es nach wie vor schwer Laien von der Logik des Zwillingsparadoxons zu überzeugen.
Deutlich einfacher ist es, den Kern der Theorie zu erklären, denn Einstein hat die Relativitätstheorie nicht aus der Luft gegriffen. Sie fußt auf ein viel älteres Konzept, dem Relativitätsprinzip von Galileo Galilei. Auf diesem Prinzip aufbauend ist es möglich, die Relativitätstheorie einzuführen ohne den Boden der klassischen Physik je zu verlassen. Einstein bricht zwar mit der Vorstellung von einer absoluten und vom Raum unabhängigen Zeit, aber wenn man sich die klassische Physik im Licht der modernen Theorien ansieht, war die Annahme einer absoluten Zeit nie nötig. Isaac Newton hat zwar eine absolute Zeit definiert, aber in den physikalischen Theorien wurde stets nur die gemessene Zeit (Newtons relative Zeit) verwendet. Die absolute Zeit war stets nur Metaphysik und nie experimentell zugänglich.
Aufbauend auf den Erfahrungen aus Diskussionsforen habe ich meine Homepage www.Relativitätsprinzip.info geschrieben, auf der ich die Relativitätstheorie von ihrem Kern ausgehend erkläre. Ziemlich willkürlich beginnt die Seite mit der Feststellung, dass es keinen Mittelpunkt der Welt gibt. Die kopernikanische Wende eignet sich gut als Bruchstelle. Führte sie doch weg vom klassischen, erdzentrierten Universum zur modernen Sicht der Welt ohne Mittelpunkt und Fixpunkte. Doch hier ist Vorsicht geboten. Zunächst zeigte Kopernikus nur, dass die Planetenbahnen einfacher werden, wenn nicht die Erde sondern die Sonne im Mittelpunkt stehe. Auch wollte er gerne Kreisbahnen als ideale, harmonische Bahnen für die Planeten annehmen. Wir wissen heute, dass die Bahnen keine Kreise sind. Die Abweichung der Erdbahn von der Kreisbahn ist gering, aber sie ist erkenntnistheoretisch wichtig. Zeigt sie uns doch, dass die Natur nicht nach Perfektion strebt, wie Kopernikus noch annahm.
Der Kern der Relativitätstheorie sollte erst später durch Galilei entwickelt werden. Erst mit der klassischen Relativität kam es zur eigentlichen kopernikanischen Wende, die sowohl die Kreisbahn als perfekte Form als auch ein Rotationszentrum des Kosmos unnötig machte. Der Kern der klassischen Mechanik ist zugleich auch Kern der Relativitätstheorie.
@ Joachim
Lieber Joachim,
indem ich einen kurzen Anlauf genommen habe, dir als Ergänzung hier direkt zu antworten, ist es ein längerer Text entstanden, den ich als eigenen Blockbeitrag bei mir eingestellt habe.
Bisschen spät …
Ich habe mir Ihre o.a. Seite zum Zwllingsparadoxon angeschaut: Eine schöne und nachvollziehbare Rechnung.
Die abschließende Anmerkung “Man sieht also, dass sich die scheinbaren Widersprüche des Zwillingsparadoxons im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie lösen lassen, wenn man nur die Lorentztransformation richtig durchführt. …” ist jedoch ziemlicher …
Mit den angeandten Mitteln der SRT lässt sich das Paradoxon nicht auflösen. Die SRT setzt Inertialsysteme voraus, die in dem Paradoxon nicht vorliegen. Aus dieser Sicht kann man nicht unterscheiden, welcher Zwilling schneller altert. In solchen Systemen würden sich die Zwillinge auch nie wieder begegnen.
Erst die (mehrfache) Beschleunigung zeichnet den einen Beobachter vor dem anderen aus.
Inertialsystem
@Red Baron,
ein Inertialsystem ist ein Koordinatensystem. In solch einem Koordinatensystem lässt sich die ganze Situation problemlos darstellen, einschließlich aller Beschleunigungen. Tatsächlich ist als sogar aus jedem beliebigen Inertialsystem heraus möglich.
@Red baron
Sie sitzen einem recht typischen Irrtum über die SRT auf.
Das ist richtig insofern, als dass die SRT Naturgesetze so formuliert, dass sie in allen Inertialsystem dieselbe Form haben (übrigens muss ein Koordinatensystem nur in guter Näherung ein Inertialsystem sein, um in der SRT als solches behandelt werden zu können).
Oft wird aber angenommen, die SRT könnte beschleunigte Bewegung nicht beschreiben, und das ist ein Irrtum. Die NEWTONsche Physik beschreibt ja auch beschleunigte Bewegung, und sie ist in SRT wie ART als Näherung enthalten.
Vielleicht liegt der Irrtum darin begründet, dass man denkt, im Rahmen der SRT müsse man einen Beobachter unbedingt als ständig ruhend interpretieren. Viele schreiben ja auch „sein Inertialsystem“ oder „sein Bezugssystem“ und meinen in Wahrheit sein Ruhesystem. Das ist aber nicht dasselbe. Als beschleunigt bewegter Beobachter habe ich eine ganze Schar momentaner Ruhesysteme, von denen ich aber keines unbedingt als Bezugssystem wählen muss. Wenn ich eine Kreisbewegung ausführe, ist es praktisch, den Kreismittelpunkt und einen bestimmten Zeitpunkt auf einer dort gedachten Uhr als Ursprung meines Bezugssystems zu beschreiben.
Das Ruhesystem Σ der Erde (oder Raumstation), wo Zwilling A bleibt, ist schon mal näherungsweise inertial. In Σ beschleunigt B zuerst auf v›, bremst am Ziel ab und beschleunigt dann auf -v›, um zurückzukehren.
Darüber hinaus gibt es zwei Inertialsysteme Σ’ und Σ”, von denen jedes zeitweise Ruhesystem des Zwillings B ist:
In Σ’ wird das Szenario anders Beschrieben: Die Erde bewegt sich konstant mit -v›, und B bremst auf 0 ab und lässt den Zielort auf sich zu kommen, um dort auf -v› zu beschleunigen. Für die Rückkehr beschleunigt er weiter auf -2v›/(1+v²/c²), um die Erde einzuholen.
In Σ” wird das Szenario noch anders beschrieben: Die Erde bewegt sich konstant mit v›, und B beschleunigt auf 2v›/(1+v²/c²), um den Zielort einzuholen und bremst dort wieder auf v› ab. Für die Rückkehr bremst er weiter auf 0 ab und lässt die Erde auf sich zukommen.
In jeder dieser Beschreibungen hat B einen Großteil der Koordinatenzeit mit dem Tempo 2v/(1+v²/c²) zugebracht und deshalb insgesamt weniger Zeit erlebt.
Ein Inertialsystem muss keineswegs ständiges Ruhesystem eines Beobachters sein, und ein Wechsel des Bezugssystems ist mitnichten die physische Umkehr von B, sondern die Umrechnung z.B. von Σ nach Σ’ oder Σ”.
Insbesondere verlässt B nicht etwa Σ, wenn er die Reise antritt, oder Σ’, wenn er am Zielort anhält.
Man kann übrigens rein mit dem DOPPLER-Effekt argumentieren: B entfernt sich zunächst von A, beide sehen einander (theoretisch, die Entfernung ist ja groß) mit wachsender Verzögerung und deshalb in Zeitlupe um den Faktor K=√{(c+v)/(c-v)}.
Wenn B am Zielort anhält, sieht er A zuerst normal und dann nach Aufbruch heimwärts im Zeitraffer um 1/K. Davon bekommt A aber erst Δt=Δs/c später etwas mit und sieht dann auch B im Zeitraffer, aber wesentlich kürzer.
Das ZP kann man auch durchgehend in dem Bezugssystem berechnen, in dem der “reisenden” Zwilling dauerhaft ruht.
Während das Rakentriebwerk abgeschaltet ist (inertiale “Flugphasen”), ist in diesem Bezugssystem die Gangrate dτ/dt der Uhr des “nicht-reisenden” Zwillings kleiner als 1.
Während das Rakentriebwerk weit entfernt von der Erde eingeschaltet ist (“Umkehrphase”), ist in diesem Bezugssystem die Gangrate dτ/dt der Uhr des “nicht-reisenden” Zwillings größer als 1, bezogen auf den Ort des “reisenden” Zwillings, aufgrund der “gravitativen” Zeitdilatation im homogenen Schwerefeld des beschleunigten Bezugssystems.
@Anonym_2019
Ich mag diese Lösung ja nicht besonders. Sie verletzt im Grunde das Lokalitätsprinzip, nach dem jeder physikalische Prozess zunächst räumlich begrenzt wirkt und sich Wirkungen mit maximal Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Diese Lösung dagegen postuliert ein globales, homogenes Gravitationsfeld, das instantan durch lokales Einschalten eines Triebwerks erzeugt wird.
@Anonym_2019
Das kann man, es ist aber ein Nichtinertialsystem mit räumlich konstanter, aber zeitlich veränderlicher Gravitationsfeldstärke g›.
In der Zeit, in der dieses „eingeschaltet ist“, verhält sich die Erde wie ein hochgeworfener Ball, der einen Umkehrpunkt erreicht und zurückfällt.
Eigentlich ist das schon ART. Zwar bedeutet ein homogenes Gravitationsfeld noch keine Krümmung der Raumzeit, insofern man die Situation noch als SRT-Domäne bezeichnen kann, aber in der SRT ist ein Nichtinertialsystem nicht physikalisch gleichwertig mit einem Inertialsystem, weshalb man definitiv das mathematische Instrumentarium der ART braucht.
@Joachim Schulz
Nein, das Gravitationsfeld wird im selben Moment (im momentanen Ruhesystem des Reisenden) erzeugt bzw. eingeschaltet, in dem er das Triebwerk einschaltet. Ebensogut kann man aber sagen, der Reisende schaltet das Triebwerk in dem Moment ein, in dem z.B. Gott das homogene Gravitationsfeld einschaltet, um trotzdem an Ort und Stelle zu bleiben.
Eine ursächliche Beziehung lässt sich nicht festmachen. Die Beschreibung ist schon ziemlich schräg, verletzt aber kein Prinzip.
Der Reisende kann nicht wissen, dass Gott das homogene Schwerefeld eingeschaltet hat, solange das Triebwerk noch aus ist. In seinem Ruhesystem bleibt der “Reisende” ohnehin an Ort und Stelle, mit oder ohne Raketenantrieb. Falls es sich laut Hypothese bei dem Reisenden und Gott um zwei unterschiedliche Personen handelt, wird Ockhams Rasiermesser nicht beachtet.
@Joachim Schulz (25. Juni 2019 @ 12:52)
Diese “spukhafte Fernwirkung” kann aber – im Gegensatz zu “richtiger” Gravitation – nicht zur Informationsübertragung benutzt werden, genau wie bei der Quantenverschränkung. Diese verletzt auch das Lokalitätsprinzip.
@Anonym_2019
Die Idee, beim Einschalten des Triebwerks schalte sich schlagartig und simultan ein homogenes Gravitationsfeld ein, ist freilich auch nicht so richtig Occam.
Die freilich ebenfalls akausal ist. Genau deshalb taugt es ja auch nicht zur Informationsübertragung.
@Jens Philip Höhmann (26. Juni 2019 @ 16:04)
… außer, wenn der von @Joachim Schulz (25. Juni 2019 @ 12:52) beschriebene Ursachen-Zusammenhang laut Postulat stimmt:
@Anonym_2019
Genau dies habe ich bestritten:
Der Blinddarm scheint nach neueren Erkenntnissen sinnvolle Funktionen zu haben, z.B.:
Quelle:
https://www.stern.de/gesundheit/blinddarm–drei-aufgaben-des-organs–von-denen-sie-sicher-nichts-wussten-8383958.html
Quelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Blinddarm#Funktion
Naja, meinetwegen. Aber dass der Blinddarm hier nur ein Aufhänger ist, ist klar, oder?
@Joachim Schulz (25. Juni 2019 @ 12:52)
In der Verletzung des Lokalitätsprinzips sehe ich kein Problem, das es keine bekannten Naturgesetze verletzt. Siehe Quantenverschränkung, bei der dieses “Prinzip” auch verletzt wird.
Ich sehe darin kein neues Postulat, sondern nur eine Konsequenz aus den bekannten SRT-Postulaten.
Ich mag SRT-Berechnungen in nicht-Inertialsystemen schon. Grund: Einige GdRT benutzen SRT-Formeln in nicht-Inertialsystemen, ohne z.B. zusätzliche, in nicht-Inertialsystemen auftretende Zeitdilatationseffekte zu berücksichtigen, z.B. bei den Zwillingen oder beim Sagnac-Effekt. Das führt dann natürlich zu falschen Ergebnissen, mit denen wiederum argumentiert wird, die SRT sei falsch. Das kann man am besten widerlegen, wenn man auch im nicht-Inertialsystem rechnet, aber ohne relevante Zusatzeffekte wegzulassen. Ich halte es auch didatisch für gut, zu zeigen, dass dieselben Effekte für inertiale und beschleunigte Beobachter völlig unterschiedlich “aussehen” können.