Ein Loblied auf Koordinaten
BLOG: Quantenwelt
Ich habe kürzlich zwei Mal ganz nebenbei ein paar Gedanken zu Koordinaten geäußert und schulde Ihnen noch einen konkreten Artikel. Wozu brauchen wir eigentlich Koordinatensysteme? Können wir nicht eine koordinatenfreie Physik betreiben? Wäre das einfacher?
In meinem Beitrag zu Vektorräumen habe ich schon angesprochen, dass zwar einige Koordinatensysteme mathematisch durch Vektorräume dargestellt werden können, dies aber keine Voraussetzung für ein Koordinatensystem ist. Ein Koordinatensystem kann, muss aber kein Vektorraum sein. Ich hatte später die Anregung Julia Seeligers aufgenommen und mal ein wenig darüber nachgegrübelt, wie viele Dimensionen eigentlich das Internet hat. Der Artikel deutet den Sinn von Koordinaten an, zeigt aber auch, dass das Koordinatenkonzept nicht für alles brauchbar ist.
Warum also ist das Konzept von Koordinaten in der Physik sinnvoll? Als Fan der allgemeinen Relativitätstheorie könnte ich ja hieran zweifeln. Schließlich besagt das Relativitätsprinzip, dass man zur Beschreibung physikalischer Vorgänge keine absoluten Positionen und Geschwindigkeiten braucht. Der Ausgang eines physikalischen Vorgangs hängt immer nur von den relativen Positionen und Geschwindigkeiten der Objekte zueinander ab, aber nie vom absoluten Ort, wo der Vorgang stattfindet. Auch von absoluten Geschwindigkeiten sind alle physikalischen Vorgänge unabhängig.
Warum also sollte man dennoch globale Koordinaten einführen, die einen absoluten Bezugspunkt und Bezugsrichtungen liefern, wenn diese gar keinen Einfluss auf die Physik haben?
Weil physikalische Rechnungen einfacher werden, wenn man sie in passenden Koordinaten durchführt. Wenn man die Wechselwirkung von verschiedenen Teilchen miteinander berechnen will, kann man die gesamte Szene in einem Koordinatensystem mit drei Raumkoordinaten und einer Zeitkoordinate darstellen. Jedem einzelnen Objekt kann man dann eine Position im Raum zuordnen, die sich im Allgemeinen mit der Zeit ändert. Die Rate der Ortsänderung ist die absolute Geschwindigkeit im Raum.
Mit drei Koordinaten kann man den Raum lokal beschreiben.
Weder die absolute Position noch die absolute Geschwindigkeit eines einzelnen Teilchens hat physikalisch eine Bedeutung, denn Raum und Zeit sind in den Größenordnungen, in denen wir gewöhnlich Physik betreiben, homogen. Aber es macht dennoch Sinn, diese absoluten Positionen und Geschwindigkeiten zu nutzen, weil man aus ihnen alle wichtigen relativen Größen ableiten kann. Also die relativen Geschwindigkeiten, Abstände und die Winkel zwischen den Abstandsvektoren mehrerer Teilchen.
Die Bewegung zweier Objekte, die geradlinig aneinander vorbeifliegen, ist relativ kompliziert, wenn man sie nur durch Abstände darstellt: Ein Objekt kommt dem anderen immer näher, wobei die Annäherungsgeschwindigkeit abnimmt. Irgendwann kommt die Annäherung zum Erliegen und die Objekte entfernen sich wieder voneinander. In einem kartesischen Koordinatensystem (also einem, wie man es im Physikunterricht in der Schule kennenlernt) bewegen sich dagegen beide Objekte einfach auf einer Geraden.
Außerdem braucht man sehr viele Abstände und Winkel, wenn man komplexe Wechselwirkungen vieler Teilchen miteinander nur durch relative Lagen darstellen will. In einer Koordinatendarstellung kommt man mit drei Zahlen pro Objekt aus.
Struktur
Koordinatensysteme haben aber noch eine andere Stärke. Sie helfen uns, ein Bild von der Struktur des Raums zu entwickeln. In einem Kartesischen Koordinatensystem kann man den Abstand zwischen zwei Objekten einfach über den Satz vom Pythagoras berechnen: Man bildet das Quadrat über die Differenz jeder Koordinate, addiert diese Quadrate und zieht die Wurzel.
Dieser Abstandszusammenhang scheint uns so natürlich, dass er lange für selbstverständlich gehalten wurde. Noch heute ruft es bei vielen physikalischen Laien Abscheu hervor, dass der Abstand zweier Objekte in der speziellen Relativitätstheorie vom Bewegungszustand des Beobachters abhängt und dass in der allgemeinen Relativitätstheorie die Gravitation durch eine Krümmung des Raums erklärt wird.
Kann der leere Raum sich krümmen? Das ist gerade das spannende. Offenbar hat leerer Raum Struktur. Schon der klassische dreidimensionale Raum, in dem Abstände mit dem Pythagoras berechnet werden können, hat eine Struktur. Wie man im Artikel Dimension des Internets sieht, ist solch eine Struktur mit langer Reichweite nicht selbstverständlich. Das Internet hat eine Abstandsstruktur, die sich nicht unbedingt in drei Koordinaten ausdrücken lässt. Auch der physikalische Raum könnte eine Abstandsstruktur haben, die nicht überall durch einen dreidimensionalen Vektorraum angenähert werden kann.
Die allgemeine Relativitätstheorie enthält das Postulat, dass an jedem Raumzeit-Punkt ein Koordinatensystem konstruiert werden kann, das sich an einen vierdimensionalen Vektorraum anschmiegt. Das ist eine strenge Forderung. Aber sie ist lange nicht so streng, wie die klassische, nach der der gesamte Raum durch einen einzelnen dreidimensionalen Vektorraum und eine absolute Zeit beschreiben werden kann.
Physikalische Erkenntnis geht nicht immer den Weg vom Allgemeinen zum Speziellen. In Bezug auf unser Raumverständnis ist sie den Umgekehrten Weg gegangen. Im Mittelalter stellte man sich den Raum noch als ein hierarchisches Konstrukt aus Kugelschalen mit der Erdkugel im Zentrum vor. Nach der kopernikanischen Wende war das Bild ein unendlich ausgedehnter statischer Raum mit globalen Vektorraumeigenschaften. Im Jahr 1905 verallgemeinerte Einstein die Konzepte Raum und Zeit zu einer flexibleren Raumzeit. Aus diesem Ansatz schuf er dann das Modell der flexiblen Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie, deren Krümmung so schön die Gravitation erklären kann.
Koordinatensysteme sind ein schönes Mittel, um die Aussagen der allgemeinen Relativitätstheorie zu untersuchen. Die Formeln sind zwar alle koordinatenunabhängig formuliert – sie gelten also unverändert in jedem beliebigen Koordinatensystem – aber wenn man konkret überlegt, was in der Nähe eines Schwarzen Lochs so alles passieren kann oder wie genau ein Lichtstrahl durch die Sonne abgelenkt wird, sind Koordinaten sehr praktisch.
Praktisch sind Koordinatensysteme auch, wenn wir mit GPS-Geräten auf der Autobahn unterwegs sind. Das GPS-System basiert nämlich auch auf ein Koordinatensystem, das Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie berücksichtigen muss. Wir haben auch vor der GPS-Ära meist nach Hause gefunden. Koordinaten sind also nicht unverzichtbar. Aber recht praktisch sind sie schon.
grayordinates
Hörte gerade einen Vortrag von David van Essen, der von “grayordinates” berichtet, einer Standard-Repräsentation grauer Substanz im Gehirn. Vielleicht schreibe ich noch mal über dieses NIH Human Connectome Project.
Gibt es leeren Raum?
Die Relativitätstheorien gibt es wohl leeren Raum und deshalb kann man fragen
Doch mit dem Hintergrund der Quantentheorie ist es problematisch von leerem Raum zu sprechen, da es ja Vakuumfluktuationen gibt und diese Vakuumfluktuationen dem Raum Eigenschaften verleihen, die über die rein geometrischen – der Raumkrümmung – der Relativitiätstheorie hinausgehen.
Wenn man von Raumstruktur spricht, sollte man eigentlich erwarten, dass die Quantentheorie darüber mehr zu sagen hat als die Relativitätstheorie. Es gibt tatsächlich einige Spekulationen in diese Richtung, zum Beispiel hier.
@Martin Hozherr: Quantengravitation
Das ist ein interessanter Punkt. Ich schreibe ja, dass man in der allgemeinen Relativitätstheorie den Raum lokal, also auf einem kleinen Gebiet, mit einem Vektorraum annähern kann. Tatsächlich ist nirgendwo definiert, wie klein dieser Bereich eigentlich sein muss. Mathematisch nimmt man einen infinitesimal kleinen Bereich, also im wesentlichen einen Punkt, der seiner Umgebung gewahr ist.
Und genau hier kommen wir in Konflikt mit der Quantenmechanik, weil wir den Bereich tatsächlich nicht beliebig klein werden lassen können, ohne Quantenprozesse zu berücksichtigen.
Ich muss also Einschränken: Der Bereich, in dem ein Koordinatensystem der allgemeinen Relativitätstheorie durch ein Vektorraum genähert werden kann, muss genügend klein sein ohne zu klein sein zu dürfen.
Das sagt, da ich keine absoluten Zahlen angeben kann, natürlich alles und nichts.
Lob der Ausdrücklichkeit
Joachim Schulz schrieb (05. Juni 2012, 18:24):
> […] Warum also ist das Konzept von Koordinaten in der Physik sinnvoll?
> […] Weil physikalische Rechnungen einfacher werden, wenn man sie in passenden Koordinaten durchführt.
Aha!
(Nicht alle und irgendwelche Koordinaten(-Systeme) haben diese Eigenschaft, sondern nur manche, bestimmte, “passende“.)
> [Und] weil man aus ihnen alle wichtigen relativen Größen ableiten kann. Also die relativen Geschwindigkeiten, Abstände und die Winkel zwischen den Abstandsvektoren mehrerer Teilchen
Nein:
Geometrische Beziehungen zwischen Beteiligten werden nicht aus Koordinaten(-Beziehungen) abgeleitet,
sondern sie werden gemessen, d.h. durch Anwendung nachvollziehbarer, physikalischer, koordinaten-unabhängiger Messoperationen aus gegebenen Beobachtungsdaten ermittelt.
(Oder sie mögen ohne beobachterische Grundlage schlicht angenommen werden.)
Was man aus den ermittelten (oder angenommenen) geometrischen Beziehungen zwischen Beteiligten zusammen mit deren Einordnung in ein bestimmtes Koordinatensystem ableiten kann,
ist dagegen,
ob das jeweilige Koordinatensystem (samt Einordnung der betrachteten Beteiligten) “passend” (und um ganz unmissverständlich zu sein: “skaliert-isometrisch”) wäre,
oder in wie fern nicht.
p.s.
> dass der Abstand zweier Objekte in der speziellen Relativitätstheorie vom
Bewegungszustand des Beobachters abhängt
In der (speziellen) Relativitätstheorie ist (insbesondere) Paaren ein bestimmter
“Abstand” (bzw. “Distanz”-Wert) zu eigen, die zueinander ruhen;
was in den bekannten Gedankenexperimenten z.B. auf Paare von Schwellen eines Gleises zutreffen soll, oder auf Paare von Sitzreihen eines Personenzuges.
Diese geometrischen Beziehungen sind unabhängig von irgendwelchen (weiteren Beziehungen zu) Unbeteiligten; man spricht von “(geometrischen) Invarianten”.
p.p.s.
> Die allgemeine Relativitätstheorie enthält das Postulat, dass an jedem Raumzeit-Punkt ein Koordinatensystem konstruiert werden kann, das sich an einen vierdimensionalen Vektorraum anschmiegt.
Die (allgemeine) Relativitätstheorie ist physikalisch relevant, weil (bzw. sofern) sie koordinaten-frei nachvollziehbar ist; z.B. was Begriffe wie “anschmiegen” betrifft.
Räume und Abbildungen
Wenn man komplizierte Räume und die zulässigen Abbildungen zwischen ihnen studieren will, sind Koordinaten weniger nützlich. Um die Berechnungen, die ein Gehirn beim Erkennen eines “A” anstellt, kann man natürlich das Netzhautbild als Punkt in einem R^n darstellen, und die Berechnungen als dynamisches System modellieren. Bisher hat dieser Ansatz nicht dazu geführt, diese Vorgänge nachahmen zu können oder ein geeignetes Koordinatensystem zu finden, in dem man die Menge aller “A” beschreiben kann.
Raumstruktur?
Mir scheint es zweifelhaft, von einer “Struktur des leeren Raums” zu sprechen.
Zunächst gibt es keinen leeren Raum; wenn das Universum nicht absolut leer ist, so ist der Raum immer erfüllt zumindest vom Gravitationsfeld.
Die Krümmung des Raums ist ein Funktion der vorhandenen Masse: ohne Masse keine Krümmung. Es ist zirkulär, zu sagen, die Gravitation werde durch die Raumkrümmung “erklärt”. Die Gravitation wird in der allg. Relativitätstheorie wie schon bei Newton durch die Masse “erklärt”.
Bedingt die sog. “Vakuumfluktuation” eine “Struktur” des Raums? Zunächst sind die virtuellen Teilchen und die darauf beruhende Vakuumfluktuation ein Konstrukt der Störungsrechnung und – mit viel “arm waving” – der Renormalisierungstheorie. Die Vakuumfluktuation in diesem Sinne verändert die Eigenschaften der “realen” Teilchen und ist nur dadurch meßbar.
Gäbe es in einem absolut leeren Universum Vakuumfluktuationen?
Schuster bleib bei deinen Leisten
@Nörgler
Was soll denn “durch die Masse erklärt” bedeuten? Die Masse ist bei Newton die Quelle von Gravitation. Erklärt wird die Gravitation durch ein anziehendes Fernfeld analog zum elektrischen Feld. In der allgemeinen Relativitätstheorie wird dieses Fernfeld näher spezifiziert. Es gibt Gleichungen, die zeigen, wie sich eine Krümmung im massefreien Raum ausbreitet.
Die berühmte Schwarzschildmetrik ist eine Lösung der Einsteingleichung im massefreien Raum. Wie die Natur es bewerkstelligt, dass nicht nur andere Massen, sondern auch Licht im Raum um eine Masse abgelenkt werden, wird in der allgemeinen Relativitätstheorie aus einfachen Grundannahmen Quantitativ hergeleitet. In dem Sinne erklärt die allgemeine Relativitätstheorie mehr als die Newtonsche Fernfeldtheorie.
Koordinate
bei einem Koordinatensystem ist zu beachten, dass es eine Abszisse gibt und dieser Ordinaten zugeordnet sind, wie der Name schon sagt.
Nun ist die Zeit vom Raum unabhängig und möglicherweise die einzelnen Dimensionen des Raumes ebenfalls.
Was soll dann in einem logischen Konzept der Begriff Koordinaten, welche dimension ist von der anderen Abhängig?
@Joachim
Das ist in der Tat eine gute Frage.
Was soll aber dann „durch eine Krümmung des Raums erklärt“ bedeuten?
Das war gerade die Frage, die ich mir gestellt hatte. Weder die Newtonsche noch die Einsteinsche Gravitationstheorien „erklären“ die Gravitation; sie beschreiben sie nur. In beiden Theorien ist aber die vorhandene Masse der bestimmende Faktor für die Stärke der Gravitationskraft bzw. der Raumkrümmung. Die genauere Beschreibung liefern das Newtonsche Gravitationsgesetz bzw. die Einsteinsche Metrikgleichung.
Die Schwarzschild-Metrik ist keine Metrik für einen „massefreien Raum“, vielmehr eine Lösung der Einsteingleichung für einen Raum mit einer kugelförmigen Masse. Die „äußere Schwarzschildlösung“ beschreibt das Gravitationsfeld außerhalb der Masse, also im Vakuum, die „innere Schwarzschildlösung“ das Feld innerhalb der Masse. Die Newtonsche Gleichung beschreibt selbstverständlich ebenfalls beide Fälle.
Ansonsten habe ich ja gar nicht bestritten, daß die Einsteinsche Gravitationstheorie ein Fortschritt ggü. der Newtonschen ist. Die Ablenkung des Lichts durch das Gravitationsfeld ist aber vielleicht nicht der beste Beleg dafür, denn diese ließe sich grundsätzlich auch durch die Äquivalenz von Energie und Masse „erklären“.
Metrik
Sie irren, liebe Nörglerin, die Schwarzschildmetrik ist tatsächlich eine Lösung der Einsteingleichungen für den massefreien Raum. Wenn Sie mir das nicht glauben, lesen Sie es doch einfach in einem beliebigen Lehrbuch nach.
Auch ist in der allgemeinen Relativitätstheorie die Masse eben nicht die einzige Quelle für Gravitation. Anstelle des Skalars “Masse” tritt dort der Energie-Impuls-Tensor.
@Joachim
Könnte es sein, daß wir uns mißverstehen?
„Raum“ hat ja zwei Bedeutungen: ein Raum als ganzes – in der Kosmologie also das All – und einen bestimmtem Bereich eines Raums. Die äußere Schwarzschildmetrik beschreibt die Gravitation bzw. die Raumstruktur im Vakuum, also im masselosen Raumbereich außerhalb einer Zentralmasse.
Wenn Sie „masselosen Raum“ als dieses Vakuum verstehen, haben Sie natürlich recht. Dann sind wir ja gleicher Meinung, denn ich habe nichts anderes gesagt.
In meinem ursprünglichen Beitrag hatte ich „masselosen Raum“ allerdings im Sinne von „masseloses All“ gemeint. Im masselosen All reduziert sich die Schwarzschildmetrik auf den flachen, euklidischen Raum.
Also setzt die Raumkrümmung eine Masse voraus. Deshalb bin ich skeptisch gegenüber Aussagen, daß „die Gravitation durch eine Krümmung des Raums erklärt wird“.
Das mag ja künftig, etwa in einer Quantengravitationstheorie, anders sein. So weit sind wir aber noch lange nicht.