Abgeguckt ist nicht gestohlen

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Gedanken eines Experimentalphysikers
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Nature berichtete am zweiten September über Paparazzi-Physiker, die Daten veröffentlicht haben, nachdem sie diese auf einer Konferenz abfotografiert haben. Auf dem ersten Blick dachte ich, das sei eine Frechheit. Es sei geradezu Diebstahl, die experimentellen Daten einer anderen Arbeitsgruppe abzufotografieren und zuerst zu veröffentlichen. Aber sehen wir mal genauer hin. Ist das wirklich so schlimm?

Es geht hier um Daten, die die Satellitenmission PAMELA aufgenommen aber noch nicht im Detail veröffentlicht hat. Auf verschiedenen Konferenzen haben die Gruppenmitglieder jedoch schon Einblicke in die vorläufigen Daten gegeben. Nun haben zwei Theoriegruppen Artikel veröffentlicht, in denen sie ihre Theorie mit diesen vorläufigen Ergebnissen vergleichen. In beiden Artikeln ist ordnungsgemäß die Herkunft der Daten angegeben. Keine der Gruppen gibt die Daten als eigene aus und verweist, wie es sich gehört, auf die PAMELA-Kooperation. Wissenschaftlich ist so also kein Schaden entstanden. Experimentelle Daten wurden in ihrer vorläufigen Form, mit großzügigen Fehlerbalken versehen, mit entspechenden Theorien verglichen. Eine Veröffentlichung der vollständig ausgewerteten Daten steht nichts im Wege, die sind ja noch neu. Einen Datendiebstahl hat es also nicht gegeben.

Warum regt sich dann der Leiter der PAMELA-Kooperation, Piergiorgio Picozza, so auf. Nature berichtet, er sei “very, very upset”. Nun, so wichtig experimentelle Daten für die Physik auch sind. Gute Veröffentlichungen brauchen mehr. Experimentalphysik ist nicht das aufnehmen und veröffentlichen von Daten. Dafür gibt es Telefonbücher. Es geht vielmehr um die Interpretation der Daten und das Einordnen in die bestehenden Modelle. Nachdem nun schon zwei theoretische Veröffentlichungen zu den Daten im Raum stehen, wird es für die experimentelle Gruppe schwieriger, eine Veröffentlichung zu schreiben, die nicht nur die Daten schön darstellt sondern auch physikalisch neues zu bieten hat. Die Gruppe hat viel Arbeit in das Projekt gesteckt, sie hat das finanzielle Risiko getragen, deshalb sollte es ihr auch zustehen, die erste Interpretation zu versuchen. Denn die Interpretation ist der Teil an der Experimentalphysik, der sie von einer Ingenieurwissenschaft unterscheidet.

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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

4 Kommentare

  1. Nutzungsrechte?

    Lieber Herr Schulz,

    so wie sich Ihre Analyse und Schlussfolgerung zum Geschehen liest, könnte ich mich durchaus Ihrer Auffassung anschließen.
    Ziehe ich Parallelen zu einem Theater- oder Filmkritiker, der von dem berichtet, was er auf der Bühne oder Leinwand sieht, so bleibt zu erkennen, dass dies legitim und sogar erwünscht ist, weil es Publicity transportiert. So ein Kritiker generiert durch Interpretationsarbeit und Einordnung des Erlebten in den bestehenden Kontext schließlich auch eine eigenständige intellektuelle Arbeit und gibt das Geschehene nicht schlichtweg eins zu eins wider.
    Schwierig wird es, wenn besagter Kritiker, bestimmte Theaterszenen abfotografieren oder Filmsequenzen mit einer Kamera aufnehmen würde. Wir alle haben gelernt, dass so etwas streng verboten ist und mindestens lebenslänglichen Knast nach sich zieht – so will uns das die Filmindustrie mit ihren einschlägigen Beiträgen zu Urheberrechtsverletzungen wohl klar machen. Würden wir im Kino mit abfilmen erwischt, könnten wir uns schlecht rausreden, wir würden uns mit dem abgekupferten Filmaterial an neuen Interpretationen versuchen.
    Warum soll dies nicht auch für Konferenzen gelten? Ohne die Zustimmung der Urheber Material für die eigene Forschung zu verwenden, ist für mich ein starkes Stück und ethisch verwerflich. Auch wenn keine ausdrücklichen Hinweise der PAMELA-Beteiligten hinsichtlich Urheberschutz und Nutzungsrechte erfolgten, heißt dies noch lange nicht, dass solche Daten public domain sind, sobald sie öffentlich präsentiert werden.
    Derartige Aktionen führen nur dazu, dass die Judikativgemeinde von Anwälten, Staatsanwälten und Richtern künftig eine weitere Nische besetzen wird, da auch der Raum zur Präsentation von wissenschaftlichen Ergebnissen, seien sie auch Rohmaterial, immer mehr verrechtlicht werden wird.

    Demnächst werden wir wohl so etwas wie Verzichtserklärungen zur Nutzung von wissenschaftlichem Material unterzeichnen müssen, bevor wir eine öffentliche Präsentation besuchen. Ich danke den perfiden Wissenschaftspaparazzi für diesen Bärendienst!

  2. Grauzonen
    Lieber Herr Bohn,

    Sie haben völlig recht. Auch ich werde es mir in Zukunft überlegen, ob ich bei Konferenzen unveröffentlichte Daten zeigen kann. Dem Nature-Artikel ist zu entnehmen, dass die Theoretiker den Vortragenden gefragt haben, ob sie auf die Ergebnisse verweisen dürfen. Er soll zugestimmt haben. In dem Fall ist ihm die Schuld zu geben, dass er ohne Zustimmung seiner Arbeitsgruppe die Erlaubnis erteilt hat.

    Sie sollten aber auch meinen dritten Absatz nochmal lesen. Ich halte das Vorgehen nicht für Diebstahl, denn die Theoretiker haben sich die Daten nicht angeeignet. Ich halte es dennoch für verwerflich, den Experimentatoren die Chance zu nehmen, einen ersten Deutungsversuch zu veröffentlichen.

    In dem Sinne sind wir uns also einig. Es gibt übrigens Konferenzen, auf denen man tatsächlich eine Verzichtserklärung abgeben muss: Die Gordon-Konferenzen: http://www.grc.org

  3. Daten über Daten

    Ich kann mir ehrlich gasagt nur schwer vorstellen, wie man mit abphotographierten Daten eine vernünftige Veröffentlichung machen soll. Klar, es geht schon, aber es wäre doch wohl weit weniger zeitraubend, wenn man die Originaldaten per eMail anfragt.
    Ich finde es im übrigen schon merkwürdig, dass die Theoriegruppen ihre Interpretationen nicht mit dem PAMELA-Team kommuniziert haben, bevor sie die Veröffentlich geschrieben haben. Weiterhin wundert es mich, dass die PAMELA-Gruppe offensichtlich kein Exemplar einer vorläufigen Version des papers bekommen hat, wo sie doch die experimentellen Daten liefert. In dem Bereich, aus dem ich komme, ist so etwas üblich.

    Ansonsten bleibt mir nur zu sagen, dass ich die Sätze “Experimentalphysik ist nicht das aufnehmen und veröffentlichen von Daten. Dafür gibt es Telefonbücher.” doch sehr lustig fand…

  4. So ein Verhalten..

    … wird dazu führen, dass auf Konferenzen langfristig keine noch nicht veröffentlichten Daten mehr gezeigt werden, dass alle ihren Kollegen gegenüber noch misstrauischer begegnen als bisher schon, und dass langfristig die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Gruppen erschwert wird. Für mich absolut nicht akzeptabel.

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