Bloggewitter: Kinder und der Mittelbau – Die Vergessenen der Reformdebatte
BLOG: Natur des Glaubens
Demokratie braucht Streit. Universitäten brauchen Streit. Und Reformdiskussionen sowieso. Manchmal geschieht es dabei aber leider, dass leisere Stimmen untergepflügt werden. Und das ist auch bei den Debatten um unsere Hochschulen der Fall. Ausgerechnet zwei Gruppen kommen bislang kaum zu Wort, auf die es für die Zukunft unserer Hochschulen entscheidend ankommt: Kinder und der akademische Mittelbau. Für diese möchte ich die Stimme erheben beim ersten Scilogs-Bloggewitter rund um die Zukunft unserer Hochschulen.
Dies ist ein Beitrag zum Bologna-Bloggewitter der Scilogs 2009!
1. Wo Zukunft anfängt: Kinder und deren Eltern
Ganz ehrlich: Wenn wir Akademiker, beispielsweise mit Bezug auf Studiengebühren, die soziale Schieflage an unseren Universitäten beklagen, dann bleiben die Betroffenen meistens außen vor. Denn Kinder aus bildungsfernen Familien werden auch bei gleicher Intelligenz meist schon lange vor den Hochschulen aussortiert, kommen also in Bologna-Debatten nicht wirklich vor. Und dieser Zustand wird durch Maßnahmen allein am Hochschulsystem auch nie verbessert werden können.
Also, seien wir ehrlich: Wenn in Deutschland auch mehr Kinder den Bildungsaufstieg schaffen und Wind in die deutsche Ständegesellschaft (inkl. der Universitäten) bringen sollen, dann muss die Reform der Hochschulen – an den Kindergärten und Grundschulen beginnen. Mehr Erzieher und Erzieherinnen mit besserer Ausbildung und Bezahlung sowie Karrierechancen für besonders Engagierte müßten das Hauptanliegen aller sein, denen es wirklich um Chancengleichheit (und nicht nur die je eigenen Interessen) geht! Und wer Studiengebühren empörend unsozial findet, sollte zuallererst auf die Senkung der Kindergartengebühren drängen, die junge Familien – meist am Berufsanfang – um einen vielfach höheren Betrag belasten, ohne dass die geringste Chance auf einen Eigenverdienst, ein Stipendium oder einen Bildungskredit besteht.
An den Hochschulen selbst ließe sich mit besserer Vereinbarkeit von Familie und Studium zudem viel für die kommende Generation – und deren Eltern tun. Wenn sich in Köpfen und Strukturen durchsetzen ließe, dass man Kinder auch schon während Studium, Promotion etc. großziehen kann, dann würden unsere Hochschulen nicht nur bunter, lebensnäher und zugleich ernsthafter, nicht nur mehr Kinder auch in Akademikerfamilien geboren – sondern auch das bisher vor allem gegen Frauen gerichtete Dilemma entschärft, wonach man sich nach dem Studium nur noch entweder gegen Kinder oder gegen Karriere entscheiden könne. Wer heute Kinder und deren Eltern stärkt, stärkt auch die Gesellschaften und Hochschulen von morgen!
2. Wo Forschung anfängt: Der akademische Mittelbau
"Hach Michael, ich würde auch so gerne erforschen, was mich begeistert. Aber mein Mentor hat mich gewarnt – damit werde ich nie einen Lehrstuhl kriegen!" Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich diesen Satz schon zu hören bekommen habe – und zwar v.a. aus dem Mund von 25 – 45jährigen an Universitäten. Und dieser Satz ist eine Katastrophe! Denn er bedeutet schlicht, dass wir Strukturen geschaffen haben, die Wissenschaftler ausgerechnet in ihren kreativsten Jahren ausbremsen und dazu anleiten, nur nichts Neues zu versuchen, brav jedem Etablierten hinterher zu laufen (denn man weiß ja nicht, wer einem mal in der Berufungskommission gegenüber sitzt) und am Besten nicht aufzufallen. Auch nicht in Bologna-Reformdiskussionen.
Dabei prüfe sich ein jeder selbst: Wie deutlich würden Sie aufbegehren, wenn Sie im betreffenden Alter wären, vielleicht eine junge Familie hätten und sich seit Jahren durch befristete Halbtagesstellen hangeln müßten – immer mit dem vagen Versprechen einer Berufung, wenn Sie sich lange ganz brav und leise verhalten..? Was bliebe von Ihren Idealen und von Ihrer Neugier übrig? Ganz ehrlich: Wahrscheinlich konnte auch ich mein Thema, die Evolutionsforschung zur Religiosität, nur deswegen verfolgen, weil ich mich schnell beruflich unabhängig gemacht und dann von außen an und mit Universitäten gelehrt und geforscht habe. Ob ich als Halbtageskraft an einer Universität den Mut und die Ausdauer gehabt hätte, möchte ich nicht beschwören – denn die o.g. "Warnung" hatte auch ich erhalten…
Ich glaube, die meisten von uns würden sich in der Situation von betroffenen Universitäts-Mittelbauern auch einigeln, klein machen, vielleicht ein bißchen mißgünstig gegen andere intrigieren, die einmal Konkurrenten um die knappen Stellen werden könnten und im Übrigen aufpassen, nur ja nichts zu erforschen oder verfassen, was Fachkollegen zu Widerspruch reizen könnte. Und wenn es dann nach Jahrzehnten tatsächlich zur Berufung gereicht hat, hat man dann selbst schon Jahrzehntelang das Spiel mitgespielt, das man nun unbewusst und bewusst auch den Nachkommenden angedeihen lässt…
Genau "das" ist einer der Hauptgründe dafür, warum immer mehr spannende Forschungen und Veröffentlichungen gar nicht mehr aus den deutschen Universitäten kommen, sondern von Instituten und Gesellschaften, an denen man junge, kreative Wissenschaftler sucht und dazu ermutigt, ihren Weg konsequent zu gehen, auch mal etwas zu riskieren. Bisher machen wir an deutschen Hochschulen oft die besten Jahre der besten Leute kaputt.
Wer also wirklich bessere, forschungsstärkere Hochschulen erleben will, der und die darf nicht nur an den Lehrverpflichtungen der geschätzten Damen und Herren Professoren im bereits lebenslang gesicherten Beamtenverhältnis schrauben. Vielmehr braucht es Studenten, die auch so berufsnah ausgebildet wurden, dass sie nicht wirtschaftlich völlig vom Wohlwollen der Fachvorgesetzten und -kollegen abhängig werden. Es braucht bessere und langfristigere Verträge für Postdoks, Kooperationsprojekte mit Externen wie Stiftungen, Instituten, Unternehmen etc., in denen sich Nachwuchskräfte entfalten können und ein Klima, in dem gerade auch junge, kreativ-fleißige Querdenker als Chance für Institute und Fachbereiche geschätzt werden. Es gibt sogar eine Testfrage, an der sich Hochschulen messen lassen könnten: Hätten Forscher wie die Gebrüder Humboldt, Charles Darwin oder Albert Einstein, die sich zu ihrer Zeit nur außerhalb der Hochschulen entfalten konnten, denn heute an Ihrer Universität eine Chance? Oder sollten wir auch den wirklich guten Köpfen der nächsten Generation empfehlen, nach dem Studium lieber außerhalb der Universität nach Entfaltungschancen zu suchen?
Man hört es oft …
… aber wird es auch angegangen? Die Gesellschaftsschichten werden immer undurchlässiger. Gibt es zumindest mal eine Idee, wie man dagegen steuern kann? Ganztagsschulen sind es wohl nicht, denn die sind eher an den Bedürfnissen der (berufstätigen) Eltern ausgerichtet. Auch frage ich mich, ob dies die Schüler wirklich besser macht. Wäre ja schon, wenn es so wäre. Aber ansonsten fällt mir nichts ein, wie man das Problem angehen will. Da würde ich auch gerne mal im Bundestagswahlkampf etwas zu hören.
Ehrlichkeit
Lieber Martin,
ja, ich halte das für ein großes Problem, das nicht nur “die Politik” betrifft. So wollen auch Eltern ihre Kinder in möglichst leistungsstarken, homogenen Klassen unterbringen, in denen Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen kaum vorkommen. Studenten protestieren lieber unter dem Deckmäntelchen “soziale Gerechtigkeit” gegen Studiengebühren, obwohl sie selbst den Mittel- und Oberschichten angehören. Die Kinder der Unterschichten kommen da gar nicht vor. Und der Reigen reicht bis zu vielen Eltern z.B. türkischer Herkunft, die erwarten, dass “der Staat” ihre Kinder bildet und nach unserem Verständnis noch zu wenig mit anpacken usw.
Die eine Lösung, wie man den Knoten auf einmal durchschlagen kann, sehe ich also nicht. Da müssen viele ihren Beitrag leisten (meine Frau hat z.B. angefangen, einmal die Woche deutschtürkischen Kindern deutsche Märchen vorzulesen, sie diese nacherzählen, Bilder malen zu lassen etc.). Wenn wir als Gesellschaft und gerade die Hochschulen vor lauter Innenfixierung das Problem nicht benennen, verlieren wir auch weiterhin die potentiellen Begabungen von Millionen junger Leute – in einer Zeit, in der es demografisch ohnehin eng wird…
Frühförderung
Mittlerweile geht man davon aus, dass die Frühförderung wesentlich wichtiger ist als irgendwelche Elite-Unis.
Angeblich ist ein Kind und seine wesentlichen Charakterzüge bis zum 10. Lebensjahr im wesentlichen geformt.
D.h. ein Kind welches bis dahin ein gutes Sozialverhalten und Freude an Lernen und Leistung erlernt hat – wird später aus Eigeninteresse seinen Weg von selbst erfolgreich machen.
Das eigentliche Problem für die Zukunft von Kindern ist daher die mangelhafte Frühförderung. Es wird jungen Eltern kaum geholfen, welche Probleme mit Babys/Kleinkindern auftreten können und wie man diese erzieherisch bewältigt.
Wenn der erzieherische Unterbau schwach ist, kann man das später kaum mehr korrigieren.
Problem angehen
Aber wie soll man denn das Problem angehen? Die einen verwöhnen ihre Kinder und andere lassen sie verwahrlosen. Mir kommt es so vor als sei das extremer geworden. Die “normale” Erziehung wird immer weniger. Auch so Spitzen wie die Amokläufer gab es früher nicht. Aber ich will solche Einzelfälle nicht zum Maßstab machen. Dann werden immer mehr Jugendliche mit Medikamenten behandelt, weil sie depressiv oder sonstige psychische Störungen haben. Das kenne ich noch aus meiner Zeit, als ich viel Jugendarbeit mit Gruppen machte. Verhaltensauffällige Personen gab es immer, aber das waren wenige. Es wurden immer mehr und morgens haben sie schon ihre “Psychotropfen” zu sich genommen.
Das ist die eine Geschichte. Die andere ist die Durchlässigkeit der Gesellschaftsschichten.
Vor ein paar Jahren ging das noch recht gut. Es gibt da ja einige Beispiele. Altkanzler Schröder oder ich selbst bin so ein Fall. Heutzutage kommt das weniger vor. Das kann doch nicht nur an diese “Bestien” von Eltern liegen, die nur ihre “Lieben” im Blick haben. Da müßte es doch auch einen systematischen Fehler geben.
Das Problem…
Lieber Martin,
ich denke einfach, dass die Anforderungen gestiegen sind – und dadurch zum einen der Leistungsdruck, vor allem aber die Schere zwischen den Elternhäusern, die ihre Kinder fördern (können) und den anderen, die fast keine Chance bekommen, immer breiter wird. Unser Halbtagesschulsystem (ursprünglich so eingeführt, damit die Kinder nachmittags und in den langen Ferien in Landwirtschaft und Industrie arbeiten konnten! Die Pflege romantischer Familienideale kam erst später und war von Anfang an ein Privileg des begüterten Bürgertums.) hat den doppelten Effekt, dass es begüterten Familien optimale Förderung ermöglicht (Eltern, die Hausaufgaben kontrollieren, Nachhilfe- und Musikunterricht finanzieren etc.), aber Kinder aus schwierigen Verhältnissen zurück wirft.
Ganz klar: Ich sehe Bewegung im System, gerade auch bei den Politikern. Aber ich finde es auch traurig, dass z.B. gerade der sog. “Bildungsstreik” von Schülern und Studenten wieder fast nur auf die Befindlichkeiten derer abzielt, die bereits oben angekommen sind (kein verkürztes Abi, keine Studiengebühren etc.), aber “null” Solidarität z.B. mit den Kindergärtnerinnen erkennen lässt, auf die es m.E. – da stimme ich mit @KRichard überein – ankäme! Ganz interessant und leider typisch für diesen geheuchelten Klassenkampf finde ich dazu diesen Artikel:
http://www.spiegel.de/…sen/0,1518,627628,00.html
Natürlich wollen alle Eltern – ich bin ja selbst Vater – den Status ihrer Kinder sichern. Und alle Leute sind leichter zu mobilisieren, wenn es um die eigenen Interessen geht. Aber wir tun uns m.E. alle keinen Gefallen, wenn wir auf Dauer die Lebensrealität der Unterschichten aus “unseren” Bildungsdebatten ausblenden, damit Millionen Kinder um Bildungschancen bringen – und später wieder darüber jammern, warum es nicht genug Talente auch an den Hochschulen gibt…
Ja da hast du Recht Michael. Die Anforderungen sind gestiegen. Ich kann davon ein Lied singen als Dozent. Nicht nur was Kindertagesstätten, Bildung von Kindern und Jugendlichen betrifft, auch Studenten erleben das. Das betrifft zwar nicht jetzt das Thema, aber wenn ich mir z.B anschaue was der Bologna Prozess anrichtet, dann frag ich mich natürlich, was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich?
Jemand der es aus der Schule in die Universtität schafft, wird sein blaues Wunder erleben sowie ich es bei unseren Studenten erlebe.
@ Serdar: Ja, seltsame Situation
Lieber Serdar,
ja, momentan sieht die Situation so aus: Einerseits werden durch die unzureichende Ausbildung und Bezahlung der Kindergartenkräfte Millionen Kinder nicht für den Bildungsaufstieg fit gemacht – jene (v.a. aus ohnehim bürgerlichem Hause), die es aber dann doch geschafft haben, werden bis an den Rand der Leistungsfähigkeit getrieben und auch z.B. um Räume der Kreativität gebracht… Oben auf Linie getrimmte Mittel- und Oberschichtkids, unten die vergessenen Kinder aus bildungsfernen Familien – so sieht doch auf Dauer keine gesunde Gesellschaft aus.
M.E. würde es viel mehr Sinn machen, Kinder früh optimal zu fördern und damit die Chancengleichheit und Zahl der Talente zu erhöhen – dann aber Studierenden auch Zeit und Ermutigung zu geben, z.B. über ihren Fachbereich hinaus in anderen Wissens- und Lebensbereichen und z.B. im Ehrenamt Erfahrungen zu sammeln, neue Wege zu gehen.
Ich glaube, die Verdrängung der Unterschichtkinder in Bildungsfragen einerseits und eine fast hysterische Konzentration auf die “Optimierung” der Mittel- und Oberschichtkinder bis in die letzten Reserven hinein tun uns allen letztlich nicht gut.