Bewusstseinsstörungen

BLOG: MENSCHEN-BILDER

Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
MENSCHEN-BILDER

NarreteiKarneval ist eine Zeit der Freude. Karneval ist eine Zeit der feucht-fröhlichen Momente. Karneval ist aber auch eine Zeit der Bewusstseinsstörungen. Hervorgerufen durch Alkohol, andere Drogen oder auch nur kollektive Blödelei, kommt es zu einer Veränderung der Bewusstseinsinhalte: Hemmungen sinken und damit auch die Wahrnehmungsschwelle für soziale Normabweichungen. Was sonst peinlich war, wird plötzlich witzig. Alles erscheint in einem anderen Licht, in den bunten Farben der Jecken und Gardisten, den Trommelschlägen der Züge und schließlich im Schweiß der überfüllten Kneipen – bis tief in die Nacht. Aber an Karneval wird einfach gelacht und es macht einfach Spaß. Psychologisch gesprochen handelt es sich um eine Disinhibierung, bei der wahrscheinlich eine verminderte Kontrolle von Bereichen des Frontalhirns erfolgt.

Mögen diese Formen der Bewusstseinsstörungen – man könnte natürlich auch von einer „Erweiterung“ des Bewusstseins sprechen, doch ist das lediglich eine Frage des Standpunktes – noch eher harmlos sein, bleibt es bei manchen nicht bei dieser qualitativen Verschiebung. Es wird nicht nur anders erlebt, sondern schließlich gar nicht mehr. Angefangen im Wachzustand, endet der Tag entlang eines Spektrums der zunehmenden Betäubung in der durch Substanzmissbrauch hervorgerufenen Bewusstlosigkeit. So manch einer mag sich da am nächsten Morgen in einer unangenehmen Lage wiederfinden und dem Rätsel: „Was, das soll ich gemacht haben?“ Vor kurzem ging es hier noch um das Wachkoma und tatsächlich dürften sich in jeder Uniklinik Deutschlands eine Handvoll meist junger Menschen finden, die nach Drogenkonsum erst einmal nicht mehr, schlimmstenfalls gar nicht mehr aufwachen – es ist bei ihnen zu einem kompletten quantitativen Bewusstseinsverlust gekommen. Diesen Zustand mag man zwar philosophisch beschreiben und neurologisch messen können, hilfreich behandeln kann man ihn meistens aber nicht. Ich hoffe, dass für Sie, lieber Leser, Karneval nicht auf der Intensivstation endet (oder einem anderen Bett, in dem man lieber nicht liegt).

Warum hat bisher eigentlich noch niemand das „Karnevalszentrum“ im Gehirn entdeckt?

Denken wir stattdessen an erbaulichere Dinge, beispielsweise unser Gehirn und was es an Karneval macht. (Dort, wo ich herkomme, spricht man übrigens vom „Fasching;“ doch würde das wohl zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen, wenn ich jetzt dieses Wort verwände.) Überraschend ist, dass man bisher noch nicht das „Karnevalszentrum“ im Gehirn entdeckt hat. Das wäre doch eine wichtige Aufgabe einer Köln-Bonner Kooperation, beispielsweise der Professoren Vogeley und Walter. Im kollegialen Umfeld fänden sich genügend Versuchspersonen; ich erinnere mich noch lebhaft an unseren ersten Besuch am Uniklinikum im Februar 2006, als uns Mitarbeiter als Hühnchen verkleidet über den Weg liefen – in der Psychiatrie und Neurologie!

In einer groß angelegten Multi-Center-Studie könnte man durch eine Ausdehnung über das Rheinland hinaus außerdem untersuchen, ob und inwiefern es sich mit dem „Faschingszentrum“ überlappt. Es wäre ohnehin wichtig, mehr Entwicklungsperspektiven in die bildgebende Hirnforschung zu integrieren und auch kulturelle Faktoren gilt es zu kontrollieren. Vielleicht ließe sich damit endlich der Streit, ob es nun „Karneval“ oder „Fasching“ heißt, hirnphysiologisch lösen. Die Idee wäre ganz einfach: Würde man etwa für ersteren, nicht aber letzteren eine stabile neuronale Signatur entdecken, spräche das doch für eine eindeutige neurobiologische Fundierung des Karnevals; und den kölschen Gehirnen traue ich das sogar zu, dass sie den Karneval fest verdrahtet haben. Das ließe sich doch auch mit Zwillingsstudien kontrollieren, bei denen ein Kind von Düsseldorfern adoptiert wird und umgekehrt; aber nein, jetzt wird es wirklich zu absurd.

Das wäre aber ganz sicher nicht mein Blog, würde er an Karneval nicht mit etwas Kulturpessimismus enden. Lebten wir in einem Staat preußischen Kadavergehorsams, ich stünde von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch auf der Straße, feierte bis zum Umfallen und bis der Notarzt käme – beziehungsweise dann der Offizier vom Dienst oder das preußische Pendant der Feldjäger. Nun gibt es den preußischen Staat zur Freude der Bayern aber schon lange nicht mehr, Bismarck ade, und mir scheint es, dass in unserer Gesellschaft Karneval beileibe nicht erst am 11.11. um 11:11 Uhr beginnt, sondern wir doch mit Sportveranstaltungen, den ganzen Festen, Veranstaltungen und Clubs das ganze Jahr lang Karneval haben, eben „einfach nur Spaß“. Sprachgewaltig könnte man von einer „Hypercarnevalie“ sprechen – ein besseres Wort zu finden, das überlasse ich gerne dem Wicht. Ich beende also meine närrischen Gedanken mit der häretischen Frage, wozu unsere Gesellschaft eigentlich noch das Ventil des Karnevals braucht, wenn sich die meisten Menschen ohnehin das ganze Jahr lang der Blödelei übergeben – ob uns darauf die Hirnforschung eine Antwort geben kann?

 

Foto: © Telemarco (Marco Barnebeck) / PIXELIO

Avatar-Foto

Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

1 Kommentar

  1. Skandalös! Sie haben doch in Mainz studiert – dann müßten Sie eigentlich wissen, daß es weder “Karneval” noch “Fasching” heißt, sondern ganz anners. Tsts.

    Wenn der Vorschlag dereinst mal umgesetzt wird, könnte man ihn auch verwenden, um Mainz am Rosenmontag Kölner-frei zu halten. 🙂

Schreibe einen Kommentar