Bachelorstudium und Leistungsdruck: Grund zum Gehirndoping?

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Innerhalb weniger Jahre wurden die Studiengänge in Europa umgekrempelt. Leistungsdruck und Optimierung stehen von Anfang an im Vordergrund, wo früher noch Freiraum für Freiheit und Entwicklung bestand. Wer sich dies heutzutage gönnt, wird schnell zum gesellschaftlichen Kostenfaktor definiert. Doch auch Gehirndoping wird hier nicht weiterhelfen.

Kaum haben sie mit dem Studium angefangen, die zukünftigen Damen und Herren Bachelor, da müssen sie schon an sein Ende denken. Im Dreijahresprogramm in Psychologie meiner Universität ist in diesem Zeitraum sogar noch ein halbes Jahr im Ausland willkommen; und freilich sollte man nicht zu spät nach anschließenden Masterprogrammen suchen. Die Noten optimiert man sowieso, denn sonst wählt die Wunschuniversität womöglich einen Konkurrenten – und dann ist es schnell vorbei mit der steilen Karriere.

Wer fällt auf diesen Gedankengang herein? Eigentlich müssten sich die Studierenden doch freuen: Ihre Schulzeit haben sie mit Erfolg abgeschlossen und jetzt haben sie einen Studienplatz ergattert. Viele sind dafür umgezogen, versuchen zum ersten Mal, auf eigenen Beinen zu stehen, manche haben gar den Gang ins Ausland gewagt. Der Kopf ist frei für Neues und das Unbekannte lädt zu neuen Lebenserfahrungen ein. Doch dann fängt das erste Semester an und ihnen wird eingebläut: Ihr müsst euch um euer Studium kümmern, meldet euch rechtzeitig für die Kurse an, vergesst nicht das Einschreiben für die Klausur, kurz, diszipliniert euch selbst oder geht unter!

Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Semester. Der Gang über den Campus hatte jedes Mal etwas Magisches. In jedem dieser Gebäude arbeiteten schlaue Menschen und abends galt es, die Partygewohnheiten der verschiedenen Univölker auszutesten. Wie feiern die Mathematiker, wie die Juristen, wie die Sportwissenschaftler, wie die Philosophen? Wo gab es die beste Musik und dazu das Bier mit Plopp für eine Mark pro Flasche? Vierzehn Jahre Schule hatte ich hinter mir, die Entscheidung zum Sitzenbleiben war eine der besten meines Lebens gewesen, nun galt es herauszufinden, was es alles zu lernen gibt. An ein Ende, an ein Danach, an einen konkreten Beruf dachte im ersten Semester kaum jemand. Sich selbst kennenzulernen, fortzubilden, den geistigen Horizont zu erweitern, das stand im Vordergrund.

Ich erkenne mich in der Mehrheit der heutigen Kommilitoninnen und Kommilitonen nicht wieder. Klar habe auch ich mich über gute Noten, über bestandene Kurse gefreut, aber bis zum Abschluss war es noch so weit hin – und für diesen zählten auch nur die Noten der Abschlussprüfungen. Vier, fünf Jahre, das schien eine Unendlichkeit, war immerhin nach damaligem Maßstab ein Lebensviertel. Bis zum Abschluss ging es allein um das Wissen, um die Entwicklung und um die gemeinsame Gestaltung des Studierendenlebens. Stattdessen sehe ich heute Studis, die von Prüfung zu Prüfung hechten, die eine Mindestanzahl an Kreditpunkten pro Jahr sammeln müssen, um nicht von der Universität zu fliegen, die von Bußgeldern bedroht sind, wenn sie nicht schnell fertig studieren, und in der Fragestunde nur wissen wollen, ob nun mehr X oder Y in der Klausur drankommt.

Bologna

Der Leistungsdruck ist allgegenwärtig, alles ist standardisiert, wird evaluiert und kontrolliert; und so disziplinieren auch wir Hochschullehrer uns selbst, vor allem dann, wenn wir noch keine feste Stelle haben (Entscheidung für die Wissenschaft: Berufung oder Lebensrisiko?). Dabei ist es ein Widerspruch in sich, dass alle zur Spitze gehören wollen. Denn eine Spitze kann nicht ohne ein solides Fundament stehenbleiben. Man möge versuchen, eine Pyramide auf den Kopf zu stellen. Wenn aber nur die an der Spitze Gewinner sind, dann ist die Mehrzahl der Menschen, dann ist die breite Basis Verlierer; und das tut keiner Gesellschaft gut.

Allein schon deshalb bietet es sich an, mit den Studierenden über den Leistungsdruck und die Leistungsgesellschaft zu reflektieren. Mein Fach bietet erfreulicherweise die nötige Breite, um dies zu tun. In einem sogenannten Café Scientifique lade ich jenseits von Lehrdeputat und Klausurverpflichtung regelmäßig meine Studierenden ein, sich intensiver mit verschiedenen Themen zu beschäftigen. Nicht wie in der Vorlesung, wo nur einer spricht und die Masse zuhört, sondern im kleinen Kreis und Miteinander dürfen hier Ideen besprochen und ausprobiert werden. Ein solches freiwilliges Café hatte ich heute einmal wieder mit Studierenden und diesmal ging es um die Enhancement-Debatte, die hier bei MENSCHEN-BILDER schon mehrmals thematisiert wurde (Cognitive Enhancement).

Erst bildeten die Studierenden zwei Gruppen: Die eine sollte für die technologische Verbesserung des Menschen argumentieren, die andere dagegen. In etwa zwanzigminütiger Gruppenarbeit überlegten sie sich dann Strategien und Argumente für die Diskussion. Ich lud schließlich die Pro-Gruppe zur ersten Stellungnahme ein und konnte mich daraufhin für eine gute Dreiviertelstunde zurücklehnen und beobachten, was passierte, ab und zu ein paar Notizen machen. Viele der Argumente kannte ich natürlich schon: Das Ganze sei nicht neu, Menschen würden sich schließlich schon immer verbessern wollen; Verbesserung müsse man von Wiederherstellung (Therapie) unterscheiden; man müsse erst einmal definieren, was man überhaupt mit Intelligenz meine und verbessern wolle; man stehe Neuerungen nicht prinzipiell negativ gegenüber, doch solle mit den Risiken, mit den Auswirkungen auf die Psyche des Menschen sorgfältig umgehen; und so weiter. Am Ende haben wir die geplante Zeit gut zwanzig Minuten überzogen.

Überrascht hat mich vor allem, dass sowohl in der Pro- als auch in der Kontra-Gruppe der Druck zur Leistung und Konformität, der Wettbewerbscharakter unserer Gesellschaft als Konstante hingenommen wurde; und das, obwohl es ein Bewusstsein dafür gab, dass dieses System viele Menschen zu Selbstzweifeln, in den Burn-out-Zustand oder gar in die Depression treibt (hierzu empfehle ich dringend den Gastbeitrag des Burn-out-Beraters Frank Berndt).

Man könnte die Situation der jungen Studierenden von heute auch anders sehen: Vor ihnen tut sich ein ganzer Horizont von Bildung, Erfahrung und Wissen auf; mit der Entscheidung für ein Studium erhöhen sie bereits ihre Berufschancen im Vergleich zu anderen Gruppen; Geburtenrückgang und Fachkräftemangel deuten darauf hin, dass sich viele in Zukunft ihre Anstellung aussuchen können werden. Freilich, man kürzt in Panik an ihren Möglichkeiten, um ein marodes System am Laufen zu halten (Sparmaßnahmen, Gemeinschaft und Frieden) – aber wer soll denn die Gesellschaft am Laufen erhalten, wer soll denn die Zukunft gestalten, wenn nicht sie? Stattdessen lassen sie sich durch Selbstdisziplinierung, Optimierung und Stromlinienförmigkeit vereinnahmen, oder wie es eine Autorin für den Karriere-Spiegel kürzlich formulierte:

Gute Ausbildung, schrumpfende Geburtenrate, Fachkräftemangel – bei den umworbenen Kandidaten ist nur eines in Gefahr: ihre Einzigartigkeit, vielleicht auch ihr Mitgefühl. Denn wenn alle Power-Point-Kompetenz, Zusatzqualifikationen wie das Praktikum im Top-Konzern und glatte Lebensläufe mit Fremdsprachen haben, sticht keiner heraus. Die Perfektion spült nach Ansicht von Buchautor Klaus Werle uniformierte Bewerber auf den Markt; oft konnten sie Menschenkenntnis angesichts einer Niederlage oder den Mut zu einem ungeplanten Umweg im Leben noch gar nicht entwickeln. (Stefanie Maeck, Karriere-Spiegel)

Ich muss an die Bekannte denken, die vor ein paar Jahren einen hervorragenden Abschluss machte, schon über außergewöhnliche Praxiskenntnisse verfügte, auch noch sehr gut aussah und trotzdem um eine gute Anstellung fürchtete. Was für ein Unsinn. Euer ist die Zukunft: Entweder es gibt eine Zukunft mit euch, oder es wird für keinen mehr eine Zukunft geben! Besinnt euch darauf und gestaltet die Welt nach euren Vorstellungen, anstatt nur den Planvorstellungen der anderen zu entsprechen. Denn wer nur die Wünsche der anderen erfüllen will, der wird auch nie über das hinausgehen, was die anderen von ihm wünschen.

Foto: © Benjamin Thorn / pixelio.de

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16 Kommentare

  1. ..tja

    Tja .. da wird man wohl die Konformitätsverweigerung den ALTEN überlassen müssen. _Ich_ zumindest arbeite hart daran, allerdings vor dem bequemen Hintergrund einer akademischen Dauerstelle. Das war übrigens der Grund, warum ich in Akademia geblieben bin – man verdient hier zwar relativ schlecht, hat dafür aber grosse Freiheiten.

    Meine Medizinstudenten, so habe ich den Eindruck, werden auch von Jahr zu Jahr stromlininenförmiger. Aber wer weiss: vielleicht werde ich auch kantiger. Runzliger auf alle Fälle…

    Mit grosser Sorge schau ich auf das sich verändernde Wesen der Universität. Das Schlagwort scheint mir die “Kontraktualisierung” zu sein. Wo früher noch ein Verhältnis von “Treu und Glauben” war, von selbstverständlicher Subordination des Schülers unter den Lehrer, von selbstverständlicher Protektion und “Promotion” (Voranschieben!) durch den Supraordinierten, da ist heute ein “Vertragsverhältnis” – oder man sucht zumindest, eines daraus zu machen.

    Ganz objektive manifestiert sich das in der tatsächlich ständig steigenden Zahl von juristischen Auseinandersetzungen. Mittlerweile sind sogar die Ergebnisse einzelner mündlicher Teilprüfungen justiziabel geworden – unser Studiendekan säuft in Klagen und Widerspruchsverfahren ab. Es sind mittlerweile Dutzende pro Semester, früher kam so was ein oder zweimal im Jahr vor.

    Und das ist nicht nur in der Lehre so. Selbst in wiss. Angelegenheiten (Berufungen, Kollaborationen) strotzt die Uni neuerdings von “Zielvereinbarungen” und Kontrakten. Ich weiss nicht, ob es schon so weit ist, dass (neuberufenene) Professoren per Vertrag die Produktion von soundsovielen Impact-Faktoren und Papers und die Einwerbung von soundsoviel Millionen an Drittmitteln zusichern müssen – wundern würde es mich nicht.

    Eine wunderbare Lektüre darüber, wie die Uni sein SOLLTE: Karl Jaspers. Die Idee der Universität. Schriften der Uni Heidelberg, Heft 1, Springer-Verlag, Berlin und Heidelberg, 1946 (nur fürchte ich, dass die Uni nie so war und nie so sein wird.)

  2. @Helmut: Konformitätsverweigerung

    Danke, lieber Helmut, für diese Ergänzung eines erfahreneren (und runzligeren) Kollegen. 😉

    Ich habe bisher von einem Fall einer Zielvereinbarung gehört – und die Universität wollte zunächst wirklich einen Teil des Gehalts zurück, da der betreffende Professor nicht genügend Drittmittel eingeworben hat. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sich diese Forderung letztlich durchsetzen ließ.

    Tja – jetzt sage ich mal: tja –, der Konkurrenzdruck überschattet das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Ich habe schon den Eindruck, dass manche es (bei mir allerdings noch nicht per Anwalt) des Versuchens willen einfach mal versuchen, eine bessere Note zu bekommen. Da bleibe ich ganz konform jedoch in der Regel bei meiner (begründeten) Meinung.

  3. P.S. Konkurrenz der Systeme

    Mir ist beim Schreiben noch ein Gedanke gekommen, der allerdings etwas zu weit führte:

    Überall wird Konkurrenz eingeführt, um damit (angeblich) die Qualität zu erhöhen: Studierende konkurrieren miteinander um die besten Noten, Dozierende um die meisten Qualitätspunkte und Universitäten um die Exzellenz.

    Wo man allerdings keine Konkurrenz zuließ, das war auf der Ebene der Bildungsstruktur. Will sagen, wer nicht bis zum Stichtag das BA-/MA-System einführte, der wurde bestraft.

    Warum hat man ausgerechnet hier nicht am Konkurrenzgedanken festgehalten, den Dozierenden und Studierenden die Wahl gelassen, welchem System sie mehr trauen, welchem Weg sie mehr Chancen geben? Über Jahre hätte es sich dann schon abgezeichnet, wer beispielsweise bei Bewerbungen oder in der akademischen Laufbahn die besseren Chancen hätte, wer die besseren Absolventen ausbildete, wer die fähigeren Persönlichkeiten.

    Wer weiß – vielleicht müssen wir dann einfach neue Universitäten nach humboldtschem oder jasperschem Vorbild gründen…

  4. P.S. zur akademischen Freiheit

    Auf den Punkt mit der Freiheit komme ich natürlich auch regelmäßig im Denken – dennoch frage ich mich, ob ich mir da nicht selbst etwas vormache, ob es nicht schlicht die Freiheit ist, die vorgegebenen Ziele zu erfüllen (siehe auch Entscheidung für die Wissenschaft: Berufung oder Lebensrisiko?).

    Wenn ich wieder einmal am Abend eine These korrigiere oder am Wochenende Aufsätze lese oder im Urlaub an einem Paper schreibe, dann wird mir vor allem meine Selbstdisziplinierung vor Augen geführt.

    Was kann einem Arbeitgeber eigentlich besseres passieren, als dass er einmal im Jahr vorgibt, was er von einem will, und man es dann selbstständig durchführt?

  5. Freiheit

    Darf ich mal Jaspers zitieren?

    “Der Freiheit der Lehre entspringt die Freiheit des Lernens. Keine Autorität, keine vorschriftsmässige Lebensführung und schulmässige Studienleitung darf den Studenten beherrschen. Er hat die Freiheit zu _verkommen_. Oft ist gesagt worden: Man muß Jünglinge wagen, wenn Männer entstehen sollen.”

    (Hervorhebung von mir)

    Das ist sehr pointiert, aber meiner Ansicht nach trifft es den Nagel auf den Kopf. Freiheit, Freiraum ist auch: Raum, um zu scheitern. Selbstdisziplin kann man nur dann einüben, wenn man nicht diszipliniert wird.

    Den Studenten und den Lehrern und Forschern sollte der Freiraum zum Erfolg, aber eben auch der zum Scheitern, von der Universität eingeräumt werden. Und man müsste sich in der Folge wirklich überlegen, was man mit denen, die gescheitert sind, macht. Die Studenten kann man noch exmatrikulieren, die sind meist noch jung genug für einen Neuanfang.

    Gescheiterte Wissenschaftler wie mich (gescheitert im Sinne von: nie auf eine ordentliche Professur gekommen) scheidet das universitäre System oft gnadenlos aus – Markus Dahlem weiss ja ein Lied von den Problemen selbst _erfolgreicher_ Wissenschaftler zu singen.

    Was in meinem Falle gelungen ist – die Universität wusste, sich Dinge zu Nutze zu machen, die ich kann, die aber nichts direkt mit Wissenschaft zu tun haben (Lehre, PR, ghostwriting, “social glueing”, “Vorzeige-Schrullenträger”, etc.). Sie liess mir aber zugleich den Freiraum, mich zu diesen Dingen hin – selbstdizipliniert – zu entwickeln.

    Dafür bin ich MEINER Alma mater unendlich dankbar. Und der Prozess, über den hinweg ich in diese komfortable Position kam, war eben wieder kein “kontraktualisierter”. Irgendwann mal fing ich an, Dinge zu tun, die mit meinem Job als Anatom und Wissenschaftler nichts zu tun haben, und dann stellte sich heraus, dass man mich andernorts am Fachbereich damit gut gebrauchen konnte. Und das wurde alles ganz herrlich unbürokratisch geregelt, wirklich auf der Basis eines Vertrauensverhältnisses, von dem ich weiter oben schrieb.

    Und ich frage mich halt, warum das nicht immer so sein kann.

  6. @Helmut: Keine Zeit

    Ach, heute hat man keine Zeit mehr zum Scheitern. Das ist viel zu ineffizient.

    Die Universität ist eine Schule, aber eine einzigartige Schule. An ihr soll nicht nur unterrichtet werden, sondern der Schüler an der Forschung teilnehmen und dadurch zu einer sein Leben bestimmenden wissenschaftlichen Bildung kommen. Die Schüler sind der Idee nach selbständige, selbstverantwortliche, ihren Lehrern kritisch folgende Denker. Sie haben die Freiheit des Lernens. (Jaspers, 1946, Die Idee der Universität, S. 9)

    Danke für den Verweis auf die Anstellung als Vorzeige-Schrullenträger – ich glaube, das kann ich zur Not auch.

  7. Juristische Grabenkämpfe

    Ich als Noch BSc. kann das gut nachvollziehen. Dass ich nicht zum Bloggen komme, kommt auch nicht von nichts. Die Berufschancen im klinischen Feld als BSc. sind nicht vorhanden und da wollen die meisten Psychologie Studis hin. Ich bin nicht begeistert davon, aber ich habe in meiner Fachschaftstätigkeit auch schon Leute gehabt, die sich einen MSc-platz einklagen wollen, weil sie sich in ihre Existenz bedroht sehen. Nichtmal für Studierende mit Kind gibt es eine Masterplatzgarantie oder eine Berücksichtigung der Umstände. Statt juristischer Grabenkämpfe wäre eine soziale Gestaltung dieses Systems freilich wünschenswerter. Aus unterschiedlichen Fächern (Lehrämtler, Medizin, Psychologie) weiß ich von Fällen, wo die Studis in der Prüfungsphase fast jeden Abend weinen weil der Druck so immens ist – und weitermachen. Erschreckender ist nur, dass es so hingenommen wird. Gefühlt kennen viele Studis das, haben aber schnell beim ersten Kontakt mit dem System resigniert und sich eben angepasst: “Da muss man durch.”

  8. @Filusch: Stigmatisierung

    Das tut mir wirklich sehr leid – als die Bologna-Reform diskutiert wurde, wurde vielfach davor gewarnt, dass der Zugang zum bisherigen Diplomniveau für Studierende schwerer werde.

    Ich habe auch schon mehrere Leute kennengelernt, die einen ganz normalen Eindruck machten, und irgendwann erzählten, dass sie in ihren Prüfungsphasen ärztliche Hilfe brauchten. Je nachdem, an wen sie dann geraten, wird schnell eine psychische Störung diagnostiziert, Schlaf-, Beruhigsmittel oder ein Antidepressivum verschrieben. Diese Leute hätten vor fünf oder zehn Jahren beziehungsweise in einem anderen Kontext womöglich ganz normal funktioniert.

    Schlimm ist auch, dass man mit dieser Diagnose sein Leben lang stigmatisiert ist, wenn man beispielsweise bestimmte Versicherungen (->Berufsunfähigkeit) abschließen oder verbeamtet werden will; diese Menschen gelten dann schnell als weniger belastbar und unverantwortbares Kostenrisiko (-> Frühberentung), werden gar nicht oder nur zu schleteren Konditionen akzeptiert.

    Dabei heißt es, Psychologen und Psychiater sollten den Menschen dabei helfen, aufgrund ihrer Probleme nicht stigmatisiert zu werden!

  9. @ Helmuth Wicht: Kontraktualisierung

    Das ist ja nicht nur an der Universität so, sondern überall. Man hat den Eindruck, daß mit dem ersten liberalen Denker, dem der Gedanke in den Kopf kam, das Recht komme daher, daß die Menschen, jeder einzelne wohlüberlegt aus Eigeninteresse, einen Vertrag miteinander schließen, ein Virus in die Welt gekommen ist, der sich seither unaufhaltsam ausbreitet, so lange, bis auch dreijährige Kinder mit ihren Eltern Erziehungsverträge schließen. Ein Fußballtrainer glüht für die paar Monate, die sein Vertrag dauert, für seinen Verein wie einst ein Ritter für seinen König, dem er ewige Treue geschworen hatte. Aber wenn der Vertrag zu Ende ist, ist’s mit der Loyalität und Begeisterung vorbei und man wünscht wie auf Kommando dem Verein, für den man vorher noch gebrannt hat, den Untergang. Ist ja auch kein Problem, die Begeisterung war ja vorher schon nicht echt, sie wurde nur vor der Kamera gespielt. Vor nichts, aber auch gar nichts macht diese Pest halt und macht jede normale Beziehung zwischen Menschen unmöglich.

    Und so geht es in der Wissenschaft halt auch. Professoren müssen jetzt mit Doktoranden Verträge schließen über das, was sie sich gegenseitig anzutun haben, hab’ ich gehört. Was bin ich froh, daß ich diesen Betrieb hinter mir habe.

  10. Burnout bei Medizinstudierenden

    Zum Thema Burnout bei Medizinstudierenden bin ich bei einer Literaturrecherche gerade auf diese neuere Arbeit gestoßen:

    The prevalence and correlations of medical student burnout in the pre-clinical years: A cross-sectional study

    Current research suggests that physician burnout may have its origins in medical school. The consequences of medical student burnout include both personal and professional distress, loss of empathy, and poor health. We hypothesized that burnout occurs prior to the initiation of the clinical years of medical education. … Of the 86 medical students who participated, 71% met criteria for burnout. … Our findings show that burnout is present at the beginning of the third year of medical school, prior to the initiation of the clinical years of medical training. Medical student burnout is quite common, and early efforts should be made to empower medical students to both build the knowledge and skills necessary to become capable physicians, as well as withstand the emotional, mental, and physical challenges inherent to medical school.

    Mazurkiewicz, R et al. (2012). PSYCHOLOGY HEALTH & MEDICINE 17: 188-195.

  11. universitäre und soz. Mittelstand

    Wenig von Bologna-Prozess und Exzellenzinitiativen scheint zu fruchten. V.a. die Hauptziele höhere europäische Mobilität und Verlgeichbarkeit der Studierenden wird durch damit verbundenen Kosten innerhalb zeitlich gestraffter und verdichteter Kurse kontakariert. Wer hat Geld/Zeit für Umzug oder Erlernen von zusätzl. Fremdsprachen. Was ist der Sinn von Bachelor wenn schon jetzt in der Phyisk/Chemie viele Unternehmen schreien, dass sie mit diesen Absolventen nix anfangen können und 50% der Diplom-Abgänger sowieso promovieren um die Ausbildungstiefe zu haben damit sie in diesen Bereichen später produktiv arbeiten können. In Physik gab es schon lange Abbrecherquoten von über 60%. Das wird wohl kaum besser werden jetzt mit Dauerprüfungsstress.

    Wir haben nahezu keine Top-Uni im internationalen Ranking, auch wenig Top-Konzerne. Was D zum Exportweltmeister macht ist der gute unternehmerische und universitäre Mittelstand und Zugang von Studierenden aus eben diesem sozialen Mittelstand und darunter, die Fleiss und Ideen mitbringen. Viele gut ausgestattete Unis in jedem Bundesland, man muss nicht an eine der wenigen Elite-Uni gehen wie in USA um überhaupt ein vernünftig ausgestattetes Labor zu haben, und da wird die meiste Arbeit auch von Ausländern gemacht, weil die soziale Selektion wg. des Exzellenz und Elite Wahnsinns so gross ist.

    Am produktivsten sind kleinere Forschungsgruppen die wir in D an vielen kleineren Unis haben, das Geld hier gleichmässiger zu verteilen bringt mehr als wenige Unis damit vollzustopfen. Die Top-Unis mögen Nobelpreise hervorbringen, aber Deutschland liegt trotzdem in Publikationen und Patenten gleichauf mit Japan und USA. Schon erstaunlich dass man versucht hier ein Bildungssystem ohne hohe Studiengebühren zu verschlimmbessern, dass sich über Jahrzehnte bewährt hat und zwar in einer Weise, die das duale Bildungssystem hierzulande (Ausbildungsberufe die andere Länder versuchen zu kopieren wg. hoher Qualität und FHs) mit dem Uni-Bachelor kontakariert.

    Gerade in D wo man auf dem Arbeitsmarkt für alles ein Jodeldiplom, Ritterschlag und 5 Jahre Berufserfahrung braucht sehen Bachelor-Absolventen kein Land. In einer komplexeren Welt braucht man mehr Generalisten und hochspezialisierte “Fachidioten”, mit Schnellschnuss-Akademikern kann man wenig anfangen. Lebenslanges Bilden klingt ja schön, scheint mir nur etwas romantisch, dass der Mitte 30 und 40er dann nochmal anfängt höhere Mathematik oder Molekularbiologie zu büffeln, weil er es gerade braucht. In solche Sachen vertieft man sich während des Studiums oder nie mehr. Dass die anwachsende Komplexität allein durch mehr Arbeitsteilung und spezialisierte Ausbildung gemeistert werden kann wie es Bologna suggeriert, glaub ich nicht. V.a. wenn diese Bachelorabsolventen nur Grundwissen in entsprech. Fächern gesammelt haben, aber wenig grosse Probleme eigenständig während des Studium lösen mussten. Die Bachelorarbeiten sind ein Witz, zusammenkopierte Wikipedia-Artikel und ein paar Messungen nach Anleitung. Die physik. Fakultäten müssen ja völlig falsch gelegen haben, die Diplomarbeitsdauer in Physik auf EIN Jahr zu setzen, wenn mit 6 wöchigen Bachelor und 6 monatigen Masterarbeiten die gleiche Absolventen-Qualität erreicht werden kann.

    Bevor man versucht in D die Studieninhalte und Abschlüsse zu vereinheitlichen, hätte man mal mit dem Abitur anfangen sollen, denn dass mehr nicht-bayerische Abiturienten an bay. Unis dann dumm aus der Wäsche schauen kommt nicht von ungefähr, wenn Mathe schon im Abi abgewählt wurde. Die haben dann aber keinen zeitlichen Puffer mehr Wissen aufzuholen, wenn alles im Studium von Semester 1 an Zeit und Punktelimits unterworfen ist.

  12. @All: Kontraktualisierung

    Das ist ja nicht nur an der Universität so, sondern überall.

    @Ludwig Trepl kann ich auch aus soziologisch-ökonomisch-religiöser Perspektive nur Recht geben – obgleich ich das bisher nicht als Virus bezeichnen hatte, sondern als Glaube oder als Vision. Und die Universitäten waren mit die Letzten, die sich angesteckt haben.

    Die Vorstellung vom Homo oeconomicus ist das Menschenbild von Virus-Vision-Religion “Kapitalismus” (Deutschmann, Die Verheißung des absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des Kapitalismus). Und der erblüht nur in wettbewerblicher Konkurrenz. Damit muss er alle Menschen möglichst frühzeitig darauf einschwören. Bis Anfang der 90er unterlag er aber – zumindest in Europa – noch dem Zwang, sozialistische Ideen zu integrieren, um dem Ostblock wenig Angriffsfläche zu bieten. Damit konnte die WirtschaftsForm nicht zum GesellschaftsInhalt werden.

    Seitdem aber wird (durch geringeres Wirtschaftswachstum verstärkt) konsequent auf Effizienz getrimmt, werden alle nichtökonomischen Faktoren eliminiert – denn die kosten Geld. Umso breiter man aber diesen Egoismus etabliert, umso mehr muss man auf Vertäge bauen, um doch wenigstens einigermaßen zusammenzuarbeiten. Denn der originäre gesellschaftliche Zusammenhalt wird zertört (Marglin, The Dismal Science: How Thinking Like an Economist Undermines Community).

    Und das gilt nicht erst seit der Griechenlandkrise auch für die Staaten. Und es gilt umso mehr für Staaten, als auch die extrem konservativen Juristen infiziert sind: Man kann dort heute kaum noch publizieren, ohne nicht wenigstens auch die Effizienz als Rechtsprinzip anzusprechen.

    Effizienzdenken erfordert aber (egal in welchem Fach) die Frage nach dem Input und dem Output, man muss beides messen können. Menschlichkeit aber kann man nicht messen. Menschlichkeit muss also wegoptimiert werden, sie ist ein Verlustfaktor. McKinsey & Co. arbeiten für die Wirtschaftsunternehmen schon lange daran. Mittlerweile sind sind sie auch bei Recht und Wissen angekommen.

    Menschlichkeit muss auch dort verschwinden – und damit die Diplomstudiengänge, denn die waren wie @Helmut Wicht erklärte menschlich. Ja selbst die Staatsexamens-Studiengänge waren es und etablieren durch Zwischenprüfungen Konkurrenz und Effizienz. Und das Bedauern von @Stephan Schleim bezieht sich auf das unwichtige, weil nicht Messbare. Effizienz haben wir aber in Europa noch nicht erreicht – denn hier ist der effiziente Vertragsbruch noch nicht (immer) möglich, in den USA ist er Prinzip.

    Dennoch – und auch wenn ich mich über die vielen Nonkonformisten hier freue und viel von ihnen lerne – wo ist unsere Vision? Wo ist unser Virus oder unser Glauben, den wir kommunizieren und leben. Der ansteckend ist? Ich glaube, jeder von uns lebt einen Teil davon, doch haben wir einen gemeinsamen Namen, haben wir ein gemeinsames Ziel – oder sind wir nicht vielmehr Einzelkämpfer?

    Ich will und kann das nicht beantworten, doch ich sehe keine allgemeine Vision, die nicht gegen … wäre. Aber ein Glaube kann nicht gegen sein, ein Virus nicht und auch nicht eine Vision…

  13. beeindruckend

    Da sind ja noch ein paar beeindruckende Stellungnahmen hinzugekommen. Ich kann nicht für mich beanspruchen, zu all dem etwas Intelligentes hinzufügen zu können, und mir steht jetzt nicht der Sinn nach dilettieren.

    Dennoch – und auch wenn ich mich über die vielen Nonkonformisten hier freue und viel von ihnen lerne – wo ist unsere Vision? Wo ist unser Virus oder unser Glauben, den wir kommunizieren und leben. Der ansteckend ist?

    An Ideen herrscht doch kein Mangel: Dass wir zwar nicht alle gleich, doch aber gleichwertig sind? Freiheit, Gleichheit, Brüder- und Schwesterlichkeit? Dass man nicht nur von den Stärksten schwärmt, sondern auch etwas dafür tut, dass die Schwächsten ein Auskommen in Würde haben?

    Ich glaube, jeder von uns lebt einen Teil davon, doch haben wir einen gemeinsamen Namen, haben wir ein gemeinsames Ziel – oder sind wir nicht vielmehr Einzelkämpfer?

    Ja, heute bin ich noch Einzelkämpfer… aber morgen! Ach, wer glaubt den Unsinn eigentlich?

  14. Eine dilettantische Frage

    Dass man nicht nur von den Stärksten schwärmt, sondern auch etwas dafür tut, dass die Schwächsten ein Auskommen in Würde haben?

    Wie angekündigt, nichts von Intelligenz, sondern nur eine dilettantische Frage:
    Haben wir das denn heute???

  15. Kampfsport

    Man kann bezüglich dieses Themas spannende Parallelen zum tatsächlichem Kampfsport ziehen: Da wo besonders heftig zugehauen wird, sind die Abnutzungserscheinungen am größten (bspw. Dementia Pugilistica)…

    Dieses Konkurrenzsystem ist kaputt und macht selbiges mit den Akteuren. Wer nicht spurt, muss Angst haben, dass jemand anderes ihm zuvor kommt, der noch mehr Angst hat, dass ihm jemand anderes zuvorkommt, etc. – und Angst führt ja bekannter Maßen zu Höchstleistung. Ich habe mal gelernt, dass man Ertrinkende nicht zu retten versuchen sollte, weil sie sich mit enormem Überlebenswillen an einem festklammern und mit runterziehen – erst wenn der ertrinkende schon am Absaufen ist, packt man zu. Wir haben also ein Hochleistungssystem, was Verschleiß von Menschen in Kauf nimmt um mehr Leistung zu erzielen. Warum? Keine Ahnung. Es kann in der entwickelten Welt kaum noch um die Steigerung des überbordenden Wohlstandes gehen, denn der Großteil der Menschen ist übersättigt. Es scheint eine perverse Optimierung und Leistungssteigerung zu sein, die allen Akteuren aufoktruiert wird, weil es ja möglich und Wachstum des bestehenden, ach so stabilen und wahnsinnig (toll)en Systems zum Wohle aller notwendig ist.

    Wir bewegen uns weg von Höchstleistung, die aus intrinsischer Motivation herrührt. “Innovative” Höchstleistung, die den Mut hatte bestehende Altlasten über Bord zu werfen und nicht verbessern zu wollen. Losgelöst vom Äußeren und bestimmt durch die Motivation; dadurch, dass man in etwas aufgeht, das man etwas tut und sich dessen bewusst ist und dabei wohlfühlt. (siehe Fromm, “Haben oder Sein”)

    Es scheint mir manchmal so, als wenn viele vor lauter Angst nicht ankommen zu können (im Haus, mit Mann/Frau, Kinder/n, Golf, Schäferhund/Perserkatze, und zwei mal Jährlich Urlaub) aus den Augen zu verlieren, dass der Weg das Ziel ist – denn der Weg ist der ständige Prozess, das Sein, das Leben. Es gibt kein Ziel – nur Achtsamkeit.

    Zurück zum Kampfsport also, besser gesagt der Kampfkunst: man kann auch andere Werte als Kraft und Ausdauer praktizieren – Geschicklichkeit und Feingefühl beim Aikido beispielsweise. Da trainieren die Menschen nicht ohne Grund ein Leben lang und nicht selten sind die Großmeister bis ins höchste Alter aktiv!

  16. Hallo Stephan,

    kann dir nur zustimmen. Der Konkurrenz-Kampf um die Noten wird echt immer schlimmer. Der Gipfel ist, dass es mittlerweile eine Seite gibt, auf der man seine Noten miteinander vergleichen kann. (www.gradeview.de)
    Gehts eigentlich noch??? Die Typen sind doch wohl nicht ganz knusprig? Als wäre der Leistungsdruck nicht schon groß genug.
    Liebe Grüße
    Miri

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