Große Tümmler spüren elektrische Felder – für die Nahrungssuche und vielleicht bei der Orientierung

Viele Tierarten können elektrische Felder wahrnehmen, ob biolelektrische Reize anderer Lebewesen – meist von Beute – oder zur Orientierung im Erdmagnetfeld. Die Meister der Elektrorezeption sind zweifellos die knorpeligen Haie, Rochen und Chimären, die mit ihren Lorenzinischen Ampullen einen sehr feinen Sinn dafür haben. Bei Delphine war ein elektrischer Sinn bisher beim Guayana-Delphin (Sotalia guianensis) entdeckt, jetzt hat ein Forscherteam um Tim Hüttner und Guido Dehnhardt auch den elektrischen Spürsinn der Großen Tümmler (Tursiops truncatus) nachgewiesen.

@newscientist auf dem Kurznachrichtendienst X, einst Twitter: “Bottlenose dolphins can sense electric fields with their snouts”

Bei beiden Delphinarten war bereits früher das Vorhandensein von Elektrorezeptoren auf dem Schnabel (oder Rostrum) anatomisch beschrieben worden. Dort liegen nämlich Relikte der Tasthaare oder Vibrissen. Vibrissen sind die empfindlichen Tasthaare an der Säugetierschnauze, bei Katzen nennen wir sie oft Schnurrhaare. Dicker, fester und länger als gewöhnliche Haare sind sie auf die Wahrnehmung taktiler Reize spezialisiert. Sie sind bei Walen zwar embryonal noch angelegt, die meisten Walarten verlieren sie allerdings bald nach der Geburt, dazu unten mehr. So sind bei neugeborenen Schweinswalen mehrfach auf jeder Seite der Schnauze – sie haben ja keinen Schnabel – je zwei solcher Vibrissen entdeckt worden. Diese Sinneshaare entspringen in einem speziellen Haarbalg (Follikel), einer kleinen Vertiefung, die an zahlreiche Blutgefäße und Nervenenden „angeschlossen“ ist. Die Vibrissen sind in ihrer Sinnesgrube beweglich – werden sie berührt, biegt sich das Haar zur Seite, es entsteht ein Reiz. So kann ein Säugetier meist selbst sehr schwache Bewegungen wahrnehmen, Mäuse spüren so auch Luftströmungen und Seehunde verfolgen Wasserbewegungen wie die feinen Verwirbelungen eines flüchtenden Fisches. Auch wenn erwachsene Delphine die Tasthaare verloren haben, ist die Vertiefung mit den Blutgefäßen den Nervenenden noch vorhanden, als Vibrissenkrypte. Und diese stark innervierten Vibrissenkrypten sind offensichtlich auch Elektrorezeptoren. Soweit die Anatomie.

Das würde einiges erklären: Damit könnten Delphine nämlich auch im Sand verborgene Beute aufspüren, die nur ein schwaches oder gar kein Sonarecho reflektiert. Eine Delphinpopulation in australischen Gewässern jagt im Sand verborgene Fische ohne Schwimmblase, mit bestenfalls schwachem oder keinem Sonarecho. Zum Aufscheuchen der Beute „pflücken“ sie sich einen lebenden Schwamm und stupfen dann damit den Fisch aus dem Sand, darum heißt diese Jagdmethode Sponging. Ohne „Schwammschnabelschoner“ würden sie sich den empfindlichen Schnabel schmerzhaft zerkratzen. Die Schwämme überleben das Sponging nicht, aber die werden ja auch nicht gefragt.
Sponging, Crateer feeding und andere Methoden der Nahrungssuche in schlammigen Meeresböden haben schon länger die Frage aufgebracht, ob die vibrissenlosen Zahnwale vielleicht einen elektrischen Spürsinn haben. 2021 hatten Tim Hüttner, Guido Dehnhardt und Lorenzo von Fersen schon erste Ergebnisse dazu publiziert. Dafür hatten sie die vier Nürnberger Großen Tümmler Kai (subadultes, 5 Jahre altes Männchen) und die drei Weibchen Dolly und Donna, je 2 Jahre alt, sowie die 33-jährige Anke eingesetzt. (Eine genaue Beschreibung der Pool-Situation im Nürnberger Zoo, der seit Jahrzehnten Delphine hält, die sich dort auch regelmäßig fortpflanzen und teils sehr alt werden, ist hier, ebenso wie der Versuchsaufbau. Die Delphine leben dort in einer ganzen Pool-Landschaft, so dass in einem kleinen Innenbecken auch solche Konzentration erfordernden Versuche gemacht werden können).
Dr. Lorenzo von Fersen arbeitet dort seit Jahrzehnten auch mit den Delphinen, er ist außerdem für das Artenschutzprojekt YAQU PACHA verantwortlich. Dass Prof. Dr. Guido in dieser Arbeit auftaucht, ist wenig überraschend, schließlich hat er die Spürsinne der Seehunds-Vibrissen mit entdeckt.

Jetzt haben Tim Hüttner und das Team auch nachgewiesen, dass Große Tümmler definitiv schwache elektrische Felder wahrnehmen und darauf reagieren können. Dafür haben sie wieder mit den Tümmler-Damen Dolly und Donna gearbeitet. Zunächst wurden die beiden trainiert, in eine Versuchsvorrichtung am Beckenrand zu schwimmen und dort den Schnabel abzulegen. Der „Apparat“ ist eine viereckige Metallkonstruktion, an der auch Elektroden angebracht sind. Auf ein elektrisches Signal hin sollten die kleinen Zahnwale diese Vorrichtung sofort verlassen. Wie immer wurden richtige Entscheidungen der Delphine mit einem Danke-Fisch und verbaler Anerkennung belohnt.
In der aktuellen Studie haben die Biologen für eine vergleichende Bewertung der Empfindlichkeit des Delphin-Elektrorezeptionssystems zunächst die Erkennungsschwellen für elektrische Gleich- und Wechselfelder mit den schwimmenden Probanden bestimmt. Sie wurden trainiert, auf elektrische Feldreize nach dem Go/No-Go-Paradigma zu reagieren – also eine klare Ja/Nein-Entscheidung zu treffen: Auf sensorische Reize wie ein Geräusch oder einen Lichtblitz sollten sie wegschwimmen, ansonsten dort bleiben. Im nächsten Schritt kam das Training mit elektrischen Signalen – „Die Delfine haben beim ersten Versuch richtig reagiert“, sagte Tim Hüttner gegenüber der Presse. Die Tiere konnten das Gelernte also übertragen und auch elektrische Felder wahrnehmen. Die beiden Delphine erkannten dabei sehr schwache elektrische Gleichfelder von nur 2,4 bzw. 5,5 µV cm−1. Damit gleicht ihre Erkennungsschwelle der der Guayana-Delphine. Die Erkennungsschwellen für Wechselfelder (1, 5 und 25 Hz) waren etwas höher als die für Gleichfelder.

Auch wenn der Elektro-Spürsinn der Delphine weit hinter dem der Knorpelfische zurückbleibt, denken die Biologen, dass die Wahrnehmung der Meeressäuger die Orientierung sowohl im Mikro- als auch im Makromaßstab ermöglicht: Gerade bei Delphinen, die in schlammigen Sedimentböden ihre Nahrung suchen, ist eine Elektrorezeption zur Erkennung von Beutetieren auf kurze Distanz und das zielgerichtete Zuschnappen hilfreich. Darüber hinaus könnte die Fähigkeit, schwache elektrische Felder zu erkennen, es Delfinen ermöglichen, das Erdmagnetfeld durch induktionsbasierte Magnetorezeption wahrzunehmen und so eine großräumige Orientierung etwa bei Wanderungen zu ermöglichen.

Den Versuchsaufbau mit akustischen, visuellen und elektrischen Signalen vergleicht Sven Hüttner im Gespräch mit der Presse mit einem Hörtest bei Menschen: „Dabei ging es um sehr schwache Gleichstromfelder, die man ohne richtige Rezeptoren nicht wahrnehmen kann“, so Hüttner gegenüber der dpa. „Ich habe da mal meine Hand drunter gehalten. Da passierte gar nichts.“
Schließlich will niemand den Meeressäugern Schaden zufügen oder sie verärgern. In modernen Delphinarien wie Nürnberg kooperieren Zahnwale und Menschen, Versuche werden immer mit positiver Bestätigung durchgeführt. Neben dem Extrafisch genießen Delphine in Gefangenschaft die Aufmerksamkeit und das Lob der Menschen.

Für mich ist jetzt die nächste Frage, welche Rolle das Erdmagnetfeld bei der Orientierung von Zahnwalen und eventuell auch Bartenwalen spielt und in welchem Kontext dann Strandungen stehen.
Ich bin gespannt, ob jemandem dafür passende Experimente einfallen.

Weitere Wale mit „Whiskers“ (Tasthaare)

Haare sind ein basales Merkmal von Säugetieren, im Laufe der Evolution haben sich daraus auch die spezialisierten Tasthaare (Vibrissen) entwickelt. Sie sind ein Bestandteil des taktilen, also Tastsinnes.
Wale haben seit ihrem Übergang zurück zum voll aquatischen Lebensstil vor über 55 Millionen Jahren das Haarkleid wieder zurückgebildet.
Embryonal wird es zwar noch angelegt, bildet sich dann allerdings bereist vor der Geburt zurück. Junge Wale haben manchmal noch einige Haare, wie oben beschrieben.
Erwachsene Wale haben meist gar keine Haare mehr, es gibt allerdings Ausnahmen. So sind etwa an der Schnauze der Botos, der Amazonas-Flußdelphine (Lipotes vexillifer), noch Tasthaare vorhanden.
Da sie in den sehr schlammigen, trüben Flüssen leben, müssen sie ihre Beute anders als visuell finden. Und zum Sonar, was bei Schlamm schwache und verwischte Reflexe zurückwirft, sind die Sinneshaare beim Aufstöbern von Fischen eine gute Ergänzung.

Buckelwale, also große Bartenwale, haben vor allem am Kopf viele gnubbelartige Tuberkel, also Hautverdickungen. Diese Tuberkel sind Haarfollikel, aus denen bei manchen ausgewachsenen Buckelwalen noch einige Haare sprießen. Es wäre sicherlich spannend, auch diese Sinneshaare auf die Wahrnehmung elektrischer Felder zu untersuchen. Allerdings dürfte das ohne Aquarien-Situation schwierig werden, und Bartenwale gibt es in keinem Aquarium.

@Remmer hatte als Kommentar ergänzt: “Grauwale haben sogar sehr gut sichtbare einzelne Haare an der Schnauze, insbesondere die Kälber. Da Grauwale ja ebenfalls im Sediment nach ihrer Nahrung suchen, würde das zu den genannten Erhebungen passen.”
Völlig richtig!
An einem direkt nach der Geburt verstorbenen Grauwalkalb haben Anatomen sogar eine sehr sorgfältige Analyse der zahlreichen Vibrissen (Sensory hair) rund um die Schnauze, auf Ober- und Unterkiefer durchgeführt. Aber auch bei erwachsenen Grauwalen haben noch Tasthaare um die Schnauze herum, die sicherlich mit ihrer Form des Nahrungserwerbs zu tun haben – sie graben regelrecht im Sediment. Dabei sind manche Grauwale linksmäulig, andere rechtsmäulig – wie ich 2019 für Spektrum ausführlich beschrieben hatte.
Weiterhin haben laut einer anatomischen Studie von 2015 auch die gewaltigen Glattwale (Balaenidae) solche Tasthaare: “Diese Wale sind haarlos, mit Ausnahme von zwei Flecken mit mehr als 300 Haaren an der rostralen Spitze der Unterlippe und am Kinn, der rostralen Spitze der Oberlippe und einer beidseitigen Reihe von etwa zehn Haaren kaudal des Blaslochs. Histologische Daten deuten darauf hin, dass es sich bei den Haaren in allen drei dieser Bereiche um Vibrissen handelt: Sie weisen eine äußerste Bindegewebskapsel, ein umlaufendes Blutsinussystem um den Haarschaft und eine dichte Innervation des Follikels auf.”
Und die Literaturrecherche ergab sogar Lebendbeobachtungen von Sinneshaaren auf frei schwimmenden Zwergwalen in der Antarktis. Das war bei der Auswertung von hochauflösendem Bildmaterial herausgekommen. In der Studie zeigen Bilder zwei Reihen von Borsten direkt an der Spitze der Schnauze, auf Ober- und Unterlippe, eine parallel verlaufende Reihe von Borsten: “In der Spalte auf der rechten Seite befanden sich 7–8 sichtbare Haare und in der entsprechenden Spalte auf der linken Seite waren 6–7 Haare vorhanden. […] In den meisten Fällen wirkten diese Sinneshaare steif (relativ gerade) und aufrecht (>45° Elevation von der Hautoberfläche). Die Follikel waren in jeder Reihe gleichmäßig verteilt, wobei der Abstand zwischen den ausgerichteten Follikeln etwa der Länge eines einzelnen Haares entsprach. Die rechte Spalte enthielt immer mehr Follikel und erstreckte sich weiter nach vorne als die linke Spalte; Daher bestand bei den fotografierten Individuen eine konsistente seitliche Asymmetrie bei der Platzierung der Sinneshaare. Beobachtungen der Auftauchkinematik bei vorbeiziehenden Walen stimmten perfekt mit der Platzierung der Sinneshaare in dieser Region überein; Die Durchsicht von Bildern und Videodaten ergab, dass Wale beim Auftauchen zunächst immer wieder die Spannung der Wasser-Luft-Grenzfläche mit der mit Vibrissen bedeckten Spitze des Unterkiefers durchbrachen (Abbildung 2g–h, Video S1). Die Sinneshaare schienen abgeflacht oder zusammengedrückt zu werden, wenn sie gegen die Kohäsionskraft (Oberflächenspannung) des Wassers drückten (Abbildung 2i–j). Andere Bilder zeigten, dass diese Vibrissen aufrecht waren, wenn sie sich vollständig über der Wasseroberfläche befanden (Abbildung 2a–f).”
Die Asymmetrie ist ein interessanter Aspekt. Ich sehe da Parallelen zum asymmetrischen Schädelbau und Gehör, was Walen zuverlässig und schnell eine Rechts-Links-Orientierung vermittelt. Bei Zahnwalen ist sie schon lange bekannt, bei Bartenwalen wurde sie erst in jüngerer Zeit beschrieben.

Manche Vögel haben vibrissenartige Strukturen, die allerdings keine Haare, sondern spezialisierte Federn sind. Bei den neuseeländischen flugunfähigen Kiwis sind sie besonders groß ausgebildet, aber auch andere Vögel haben kleine Tastfedern über dem Schnabel. ein schönes Beispiel für konvergente Evolution.

Quellen:

Tim Hüttner, Lorenzo von Fersen, Lars Miersch, Guido Dehnhardt: Passive electroreception in bottlenose dolphins (Tursiops truncatus): implication for micro- and large-scale orientation

Carolyn Wilke: “This Discovery About Dolphins Isn’t Entirely Shocking”, NYT, Nov. 30, 2023

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

3 Kommentare

  1. Spannender Bericht. Ei e Ergänzug: auch Grauwale haben sogar sehr gut sichtbare einzelne Haare an der Schnauze, insbesondere die Kälber. Da Grauwale ja ebenfalls im Sediment nach ihrer Nahrung suchen, würde das zu den genannten Erhebungen passen.

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