Wenn der Körper sich selbst nicht mehr kennt

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2022 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Theresa Ackfeld, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.


Autoimmunerkrankungen betreffen fünf bis acht Prozent der Weltbevölkerung. Sie schränken maßgeblich die Lebensqualität der Betroffenen ein und dennoch haben wir bisher nur einen Bruchteil ihrer Entstehung verstanden. Die Charakterisierung des Interleukin-23 Rezeptors ist ein weiterer Schritt um effektive und nebenwirkungsarme Medikamente zu entwickeln.

14:42. Lena sitzt in dem Büro von Prof. Matter und starrt auf die Uhr, die nun auf 14:43 Uhr umschlagen wird. Die Zeit will in dem im Stil des 19. Jahrhunderts eingerichteten Büro einfach nicht vergehen. Auf dem massiven Holzschreibtisch vor ihr steht eine handgeschnitzte Tigerfigur aus den 70er-Jahren, vermutlich aus Afrika. In dem voluminösen Regal hinter ihr ergießt sich eine Efeupflanze in den Raum und in der Ecke vor dem Fenster steht eine minimalistische Sitzecke. An den Wänden hängen Urkunden und Preise von Prof. Matter, daneben gerahmte Werbeanzeigen aus dem Frankreich der 60er-Jahre: „Le ski à Paris… Porte de Versailles“. So richtig will hier einfach nichts zusammenpassen. Angespannt wartet Lena auf die Untersuchungsergebnisse.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, das spürt sie schon seit langem. Da waren zum Beispiel immer wieder diese Bauchkrämpfe. Meist kamen sie überraschend und zu den ungünstigsten Zeitpunkten. Wie oft hatte sie schon Veranstaltungen und Termine im letzten Moment absagen müssen, aus Angst, dass ihre Bauchschmerzen unerträglich werden würden. Zunächst hatte sie diese Schmerzen nicht ernst genommen. Immerhin war sie gerade erst Mutter geworden und da stellt sich der Körper nun einmal um. Lena war überzeugt, dass sich das Ganze schnell wieder einpendeln würde. Jetzt war schon ein Jahr vergangen und über die letzten Wochen und Monate waren nicht nur die Bauchkrämpfe häufiger und stärker geworden, sondern es kamen auch andere Symptome hinzu. Symptome, die Lena sich beim besten Willen nicht erklären konnte. So fühlte sie sich seit einigen Wochen immer wieder fiebrig. Manchmal war ihr Stuhl rot gefärbt, doch wenn sie dann beim nächsten Mal darauf achtete, war alles wieder normal. Darüber hinaus hatte sie immer mehr an Gewicht verloren. Der Gewichtsverlust, der zunächst nach der Schwangerschaft noch willkommen war, machte ihr jetzt aber am meisten zu schaffen. Denn wenn sie ihre Symptome googelte, kam sie immer wieder zu dem gleichen Schluss: Darmkrebs. Letzte Woche hatte sie eine Darmspiegelung gemacht und es wurden Proben entnommen. Das Ergebnis sollte sie heute bekommen.

Schließlich ging die Tür auf und eine zarte Frau in ihren 40ern, in einem viel zu großem Kittel kam auf Lena zu: „Matter mein Name, freut mich Sie kennenzulernen Frau Walters“. Sofort entspannte sich Lena. Die energische Ärztin mit dem roten Lippenstift und den wilden grau-schwarz melierten Locken gab Lena sofort ein gutes Gefühl. Die Ärztin sprach mit Lena über ihre Symptome und Ängste und konnte ihr eine große Angst direkt zu Beginn nehmen. Nein, sie hatte keinen Darmkrebs. Als sie fortfuhr wählte Prof. Matter allerdings sorgfältig ihre Worte. Lena hatte zwar keinen Darmkrebs, die Diagnose war dennoch klar: Morbus Crohn. Eine Autoimmunerkrankung, welche die Darmschleimhaut angreift. Aber was sind eigentlich Autoimmunerkrankungen? Zu den bekanntesten Erkrankungen dieser Art gehören neben Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa auch Psoriasis, Multiple Sklerose und Rheumatoide Arthritis. Von diesen Krankheiten gehört haben die meisten, wie diese entstehen wissen hingegen nur die wenigsten. Allen gemeinsam ist die Tatsache, dass das Immunsystem den eigenen Körper angreift, anstatt ihn zu verteidigen – Meuterei sozusagen. Mit anderen Worten, das komplexe Gleichgewicht von der Abwehr schädlicher Eindringlinge und dem Schutz der eigenen Zellen bricht zusammen. Dabei missinterpretiert das Immunsystem körpereigene Moleküle als fremdartig und greift diese Zellen an.  

© Theresa Ackfeld

Eine zentrale Rolle auf kleinster Ebene spielen die sogenannten TH17-Zellen. Dabei handelt es sich um eine Helferzellgruppe, deren Hauptaufgabe die Abwehr von Bakterien ist. Sind diese TH17-Zellen fehlreguliert beziehungsweise überaktiviert, so führt dies dann zu einer überschießenden Entzündungsreaktion und damit zur Schädigung körpereigenen Gewebes. Aber wer reguliert diese Zellen eigentlich? Der Botenstoff Interleukin-23 kontrolliert nicht nur die TH17-Zellreifung, sondern auch die TH17-Zellaufrechterhaltung. Interleukin-23 ist allerdings auch entscheidend an der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen beteiligt.

Um diese Krankheiten besser verstehen und behandeln zu können, ist es also wichtig, die zugrundeliegenden molekularbiologischen Prozesse zu verstehen. Der Aufbau des Botenstoffs Interleukin-23 sowie seines Rezeptorkomplexes wurde bereits in zahlreichen Studien untersucht. Unbekannt blieb bisher jedoch die Aufgabe der 37 Aminosäuren langen stalk– also Stiel-Region des Interleukin-23 Rezeptors. Diese Region kann man sich wie einen Eisstiel vorstellen, der die 3 Bindungsdomänen des Rezeptors wie Eiskugeln an der Spitze balanciert und diese von der Zellmembran trennt.

Ziel unserer Arbeit war es, die Rolle dieses Rezeptorstiels zu untersuchen. Dazu wurde, wie dies in wissenschaftlichen Arbeiten oft der Fall ist, zunächst an einem Zellmodell gearbeitet. Unser Team kreierte Trägerzellen, die den murinen, also Maus-Interleukin-23 Rezeptor ausbildeten und wir untersuchten anschließend dessen Eigenschaften. Die gleichen Untersuchungen führten wir anschließend an den menschlichen Rezeptoren durch. Der beste Weg, um die Funktion einer Struktur aufzuklären ist es, diese zu entfernen und anschließend das neue Verhalten zu analysieren. Wollen wir beispielsweise die Rolle einer Ampel an einer viel befahrenen Kreuzung ergründen und wir entfernen diese, dann werden wir schnell feststellen, dass sich die Anzahl an Unfällen häuft. Damit können wir schlussfolgern, dass die Ampel den Verkehr reguliert und somit Unfälle vermeidet.

Übertragen wir dieses Bild nun auf unsere Forschung: Wir verkürzten schrittweise die Stielregion, indem wir nacheinander jeweils 10 Aminosäuren herauslöschten. Dadurch entstanden verschiedene Rezeptorvarianten unterschiedlicher Stiellänge sowie eine Variante ohne Stiel. Schließlich wurde die Zellaktivierung sowie das Vermehrungsverhalten dieser Varianten untersucht. Interessanterweise zeigte sich im Maus- sowie im Menschmodell, dass die Rezeptoren die keinen Rezeptorstiel enthielten, die Zelle botenstoffunabhängig aktivierten. Die Zellaktivierung sowie die Vermehrung waren also abgekoppelt von äußeren Einflüssen und benötigte kein Signal vom Botenstoff Interleukin-23.

Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass eine 26 Aminosäuren lange murine und eine 27 Aminosäuren lange menschliche Stielregion obligat für eine uneingeschränkte Signalweiterleitung waren. Die Bindung des Botenstoffes blieb hingegen unbeeinflusst von der Löschung der Stielregion.   

© Theresa Ackfeld

Die Ergebnisse unserer Arbeit sind ein weiterer Hinweis auf die Beteiligung des Interleukin-23 Rezeptors an Autoimmunerkrankungen. Weitere Studien sind allerdings notwendig, um dadurch die Entwicklung von neuen, effektiven und nebenwirkungsarmen Therapien zu ermöglichen.

Zurück zu Lena: Was bringt ihr das Wissen über den Interleukin-23 Rezeptorstiel? Oft klingt Grundlagenforschung sehr zäh und trocken. Wer Grundlagenforschung betreibt, erwartet sicherlich nicht, auf der nächsten WG-Party damit im Mittelpunkt zu stehen: Die Musik rauscht leise im Hintergrund, und dennoch spüren wir den Bass unter der Haut, drei bis vier Leute, die sich in die Küche zurückgezogen haben, und der Rest? – lauscht gespannt den letzten PCR und Western Blot Ergebnissen. Wie war das nochmal? Die Zellen proliferieren ohne Zytokinstimulation? Wow, das ist ja unglaublich!

Diese Szene werden wir wohl nicht so schnell erleben. Und dennoch: Die Zellen wachsen ohne dass sie das Signal dazu von einem Botenstoff bekommen haben? Das ist ein „wow“ wert! Vor allem für Lena. Das bedeutet nämlich, dass wir der Entstehung von Autoimmunerkrankungen wieder ein Stückchen nähergekommen sind und damit die Entwicklung von möglichst spezifischen und dabei nebenwirkungsarmen Medikamenten in greifbare Nähe rückt. Der Kampf gegen Autoimmunerkrankungen ist noch nicht gewonnen, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Und dafür stehen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen jeden Tag im Labor.


Theresa Ackfeld ist im Jahr 1991 geboren und in der Nähe von Bielefeld aufgewachsen. Ihr Medizinstudium hat sie an der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf absolviert. Dort hat sie ebenfalls ihre medizinische Doktorarbeit in der Biochemie durchgeführt und sich dabei mit den Eigenschaften der Interleukin-23 Rezeptor stalk Region auseinandergesetzt. Im Anschluss an ihr Studium zog sie in die Schweiz, um ihre klinische und wissenschaftliche Karriere im Hôpital Cantonal in Freiburg fortzusetzen.

2 Kommentare

  1. Eine andere weit verbreitete Autoimmunkrankheit ist die Zöliaki, bei der sich die Zotten des Dünndarmes zurückbilden, wenn sie mit Gluten in Berührung kommen.

    Zum Glück braucht man keine Medikamente, es reicht, wenn man zu 100 % auf Gluten verzichtet.
    Die Lebensmittelindustrie hat sich schon darauf eingestellt und bietet glutenfreie Lebensmittel mittlerweile an, leider noch sehr hochpreisig.

    Ich selbst bin betroffen und seit ich die Diät einhalte habe ich keinerlei Beschwerden mehr.

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