Wasserrinnen im Eis: Viel Wirbel um nichts?

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2022 in der Kategorie Physik veranschaulichte Janosch Michaelis, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Das ewige Eis, schön glatt und weiß? Mitnichten! Wie Wasserrinnen im gefrorenen Ozean an Nord-und Südpol für ordentlich Wirbel in der Atmosphäre sorgen, wie sich das mittels Computermodellen darstellen lässt, und inwieweit das auch fürs Klima bedeutsam ist: Ein Einblick in die Forschung der Polarmeteorologie.

Wenn wir vom derzeitigen Klimawandel sprechen, bezieht sich das auf den Anstieg der Temperatur der Erde seit etwa 150 Jahren. Genauer ist damit der Temperaturanstieg in der Atmosphäre, der uns umgebenden Lufthülle, gemeint. Während zugehörige Messungen einen Blick in die Vergangenheit liefern, können uns Computermodelle zukünftige Entwicklungen aufzeigen. Ein Beispiel hierfür sind die vom Weltklimarat veröffentlichten Projektionen, die angeben, wie sich der Temperaturanstieg entwickeln könnte und welche Folgen das für bestimmte Regionen der Welt hätte.

Viele Eigenschaften unseres Planeten machen es jedoch schwer, genau vorherzusagen, wo sich die Erde wann wie stark erwärmen wird. Wenn von einer bisherigen „Erwärmung von 1,2 Grad im globalen Mittel“ die Rede ist, lässt sich das nicht einfach auf die an jedem Ort vor 150 Jahren gemessenen Werte aufschlagen. Das liegt an der Atmosphäre selbst, die wortwörtlich als chaotisch bezeichnet werden kann, sowie an zahlreichen Wechselwirkungen, beispielsweise mit den Ozeanen und Landmassen.

Bestimmte Regionen auf der Erde erwärmen sich zudem deutlich stärker als andere: In den Polarregionen wird die globale Erwärmung etwa um das zwei- bis vierfache verstärkt. Die genauen Ursachen hierfür sind Teil derzeitiger Forschung, an der sich auch unsere Arbeitsgruppe am Alfred-Wegener-Institut beteiligt. Charakteristisch für die Polarregionen ist das Vorhandensein von Meereis, also von gefrorenem Wasser, das im Ozean schwimmt. Es bildet noch eine weitere Komponente in dem ohnehin schon komplexen Gefüge aus Atmosphäre und Erdoberfläche. Zudem sind die Meereisregionen an Nord- und Südpol keineswegs schön glatte und weiße Flächen, die immer an Ort und Stelle bleiben. Meereis ist durch den Strömungsantrieb von unten (Ozean) und oben (Atmosphäre) ständig in Bewegung. Dadurch bilden sich zahlreiche Risse und Rinnen, und damit sind wir konkret beim Thema unseres Projekts.

Meereisrinnen sind quasi Wasserstraßen im Eis, wenige Meter bis mehrere Kilometer breit und bis zu hunderten Kilometern lang. Teils sind sie komplett eisfrei, teils mit dünnem Eis bedeckt. Speziell im Winter bei sehr tiefen Temperaturen überfrieren sie innerhalb von Stunden, sie können aber auch tagelang offen bleiben. Warum haben wir uns mit etwas beschäftigt, was global gesehen eher kleinräumig ist und meist nur kurze Zeit Bestand hat? Nun, diese Rinnen können den Zustand der Atmosphäre (das Wetter) beeinflussen, nicht nur an Ort und Stelle, sondern auch in Gebieten abseits des Meereises. Gerade im Winter, wenn die Rinnen schnell wieder zufrieren, entstehen über ihnen starke Temperaturgegensätze. So kann die Luft über Meereis durchaus bis etwa -40 °C abkühlen, während die Temperatur eisfreier Rinnen nahe dem Gefrierpunkt von Wasser bei etwa 0 °C liegt. Damit liegt kalte, schwere Luft über von der Rinne erwärmter, deutlich leichterer Luft. Als Ausgleich kommt es zu Konvektion: Unterschiedliche große Wirbel sorgen dafür, dass von der Rinne erwärmte Luft aufsteigt und sich mit der kälteren Luft darüber vermischt. Die kalte Luft ist quasi die Milch, die auf den heißen Kaffee gekippt wird, wodurch sich im Becher alles durchmischt. Regionen über Rinnen mit stark erhöhter Durchmischung bezeichnen wir auch als Plumes. Sie ähneln Abgasfahnen über Schornsteinen (Bild 1), sind aber wegen der oft sehr trockenen Luft in den Polarregionen nicht immer sichtbar.

Wie haben wir diese Plumes nun „sichtbar“ gemacht und untersucht? Wie für Klimaszenarien geht das beispielsweise mit Computermodellen. Wir nutzten gleich zwei verschiedene Modelle, die die Strömung über idealisierten Rinnen unterschiedlich genau nachbilden. In beiden Modellen ist, wie in meteorologischen Computermodellen üblich, ein Gitter durch die Atmosphäre gespannt. Mit einem vorgegebenen Anfangszustand berechnet das Modell dann in jeder Gitterzelle beispielsweise die Temperatur oder den Wind. Je engmaschiger das Gitter, desto höher die Modellgenauigkeit, da kleinere Prozesse dann direkt wiedergegeben beziehungsweise aufgelöst werden können. Das ähnelt einem digitalen Foto, das mit höherer Auflösung an Schärfe gewinnt, da mehr Details sichtbar werden [1]. Die von uns verwendeten Modelle bezeichne ich nachfolgend als fein und grob.

Plumes, die sich über Rinnen im arktischen Meereis (oben) oder über einem Schornstein (unten) gebildet haben. © Janosch Michaelis

In unseren Simulationen waren die einzelnen Gitterzellen wenige Meter (feines Modell) oder wenige hundert Meter (grobes Modell) breit. Übertragen auf die Abgasfahne am Schornstein heißt das, dass das grobe Modell nur die Fahne an sich wiedergibt. Das feine Modell löst hingegen auch die in der Fahne enthaltenen Wirbel auf, zwar nicht die ganz kleinen, wie die im Kaffeebecher, aber die größeren, mit mehreren zehn oder wenigen hundert Metern Durchmesser, auch energietragende Wirbel genannt. So kann das feine Modell die Strömung sehr realitätsgetreu simulieren. Beim groben Modell ist das deutlich schwieriger, da es die energietragenden Wirbel wegen des grobmaschigen Gitters nicht auflöst. Deren Auswirkungen muss es aber zwingend berücksichtigen. Dies geschieht durch Näherungen in Form von mathematischen Gleichungen, die wir dem Modell vorgeben. Diese hängen allerdings sehr von den Strömungseigenschaften, zum Beispiel von der Windgeschwindigkeit, ab. Ebenso spielen die geometrischen Eigenschaften der Rinnen eine entscheidende Rolle. Übertragen auf den Schornstein würde das grobe Modell also am Ende zwar immer eine Abgasfahne simulieren. Bei falschen physikalischen Annahmen in den Gleichungen für die großen Wirbel könnte diese aber komplett unnatürlich aussehen.

Als ein erstes Ergebnis entwickelten wir daher passende Näherungen, mit denen sich die Effekte der großen Wirbel auch im groben Modell physikalisch sinnvoll berücksichtigen lassen. Somit konnten wir die Plumes über den Rinnen für eine ganze Reihe von Szenarien, etwa für schnelle oder langsame Überströmungen sowie für schmale oder breite Rinnen, so realitätsgetreu simulieren wie im feinen Modell. Zudem erzielten wir eine gute Übereinstimmung mit real beobachteten Szenarien. Hierzu verglichen wir die Ergebnisse des groben Modells mit Flugzeugmessungen, also sozusagen mit Messungen von einer fliegenden Wetterstation. Denn so ein Flugzeug ist mit allerlei Sensoren ausgestattet, sodass Luftströmungen über Meereisrinnen in verschiedenen Höhen sehr genau vermessen werden können (Bild 2).

Das Forschungsflugzeug Polar 6 vom Alfred-Wegener-Institut auf dem Rollfeld am Flughafen Longyearbyen auf Spitzbergen (kleines Bild) sowie der Überflug einer Rinne im arktischen Meereis (großes Bild). © Janosch Michaelis

Warum aber nutzten wir überhaupt das grobe Modell und begnügten uns nicht mit dem feinen oder mit den vorhandenen Messungen? Erstens bekommen wir durch die hergeleiteten Gleichungen für die großen Wirbel im groben Modell genaue mathematische Zusammenhänge für bestimmte Prozesse in den Plumes und somit ein besseres Verständnis der Physik dahinter. Zweitens birgt dieses Modell deutliche Kostenvorteile, da es viel weniger Computerressourcen benötigt als das feine. Somit können wir auch sehr viele verschiedene Szenarien in kurzer Zeit simulieren, was mit dem feinen Modell nicht möglich ist und wofür es nicht genügend Messungen gibt.

À propos viele Szenarien in kurzer Zeit: Wir simulierten auch die Überströmung mehrerer Rinnen auf einer Strecke von etwa 100 km. In diesen Simulationen, für die wir das grobe Modell mit der zuvor hergeleiteten Näherung für die großen Wirbel nutzten, haben wir die geometrischen Eigenschaften der Rinnen und ihre räumliche Verteilung im Meereis vorgegeben. Ein Szenario bestand zum Beispiel aus zwei Rinnen von 5 km Breite mit 40 km Abstand zueinander (Bild 3). Dann erstellten wir eine weitere Simulation, in der die Gitterzellen 30 km breit sind. Das ist stellvertretend für eine regionale Klimasimulation, in der nicht einmal sehr breite Rinnen aufgelöst werden können, geschweige denn die über ihnen erzeugten Plumes. Um Rinnen und ihre Auswirkungen trotzdem irgendwie in solch einer Simulation zu berücksichtigen, haben wir für die zugehörigen Gitterzellen eine Meereisfläche mit einem bestimmten Anteil an Wasser vorgegeben. Somit sind die Rinnen indirekt in der Simulation enthalten, aber nicht ihre genaue räumliche Verteilung (ebenfalls Bild 3). Um die Klimasimulation nun mit den rinnenauflösenden Simulationen vergleichen zu können, gaben wir vor, dass nicht nur die Anströmung und die überströmte Fläche in allen Szenarien gleich sind, sondern auch die über diese Fläche gemittelten Anteile von Meereis und Wasser. Durchaus erwartbar wäre dann gewesen, dass im Mittel nicht nur diese Oberflächeneigenschaften sondern auch die Strömungseigenschaften, etwa Wind und Temperatur, in allen Simulationen gleich sind. Wir konnten in dieser Hinsicht jedoch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Simulationsergebnissen zeigen, je nachdem, ob das Modell die Rinnen explizit auflöst oder nicht. Daraus schlussfolgern wir, dass auch Anordnung und Position von Rinnen für eine Klimasimulation wichtig sind, ebenso wie die über ihnen erzeugten Plumes mit den vielen Wirbeln.

Vorgegebene Modellflächen für eine Simulation, in der Meereisrinnen und die über ihnen erzeugten Plumes aufgelöst werden (oben) und für eine Klimasimulation, in der sie durch eine Reduktion des Meereisanteils um einen bestimmten Prozentbetrag und somit nur indirekt und ohne ihre räumliche Verteilung zu kennen berücksichtigt werden können (unten). © Janosch Michaelis

Durch unsere Arbeit konnten wir zum besseren Verständnis der Prozesse über Rinnen im Meereis beitragen und deren Bedeutung auch für Klimamodelle zeigen. Würden Rinnen und ihre Eigenschaften konkreter in solchen Modellen berücksichtigt, könnte das schlussendlich die Genauigkeit von Vorhersagen und Projektionen weiter verbessern.

[1] https://www.spektrum.de/news/simulationen-wie-ein-klimamodell-entsteht/1781331


Janosch Michaelis, geboren 1991 und aufgewachsen im norddeutschen Lauenbrück, begeisterte sich schon früh für die Themen Wetter und Klima. Er studierte Meteorologie an der Universität Hamburg und promovierte anschließend in der Forschungsgruppe Polarmeteorologie am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. In seiner Doktorarbeit befasste er sich mit der Überströmung von Rinnen im arktischen und antarktischen Meereis, überwiegend in Form von Simulationen mit einem Atmosphärenmodell. Für diese Analyse wurden aber auch Flugzeugmessungen aus Forschungskampagnen herangezogen. In seiner derzeitigen Anstellung als Postdoktorand in derselben Forschungsgruppe befasst er sich weiterhin mit solchen Messungen und nahm außerdem an mehreren Flugmesskampagnen in der europäischen Arktis rund um die Inselgruppe Spitzbergen teil.

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