Mein rechter, rechter Platz ist leer – wie hüpfende Elektronen Magnetismus erzeugen

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2020 in der Kategorie Physik veranschaulichte Teresa Feldmaier, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.


Der Ursprung des Magnetismus von Calciumruthenat bei sehr tiefen Temperaturen ist ein in der Fachwelt umstrittenes Phänomen. Eine Forschergruppe macht die strukturellen Veränderungen des Materials beim Abkühlen dafür verantwortlich. Eine andere Erklärung stützt sich auf die Elektronen und ihre quantenmechanischen Eigenschaften. In meiner Doktorarbeit an der Universität Stuttgart konnte ich zeigen, dass die zwei konkurrierenden Erklärungsversuche vereinbar sind.

Was ist Calciumruthenat? Und warum ist sein Verhalten bei tiefen Temperaturen so interessant? Eine Antwort findet sich bei den Supraleitern. Sie leiten den elektrischen Strom verlustfrei und bergen damit großes Potential in der Energieversorgung und -einsparung. Leider sind uns aktuell nur Materialien bekannt, deren supraleitende Eigenschaften erst bei sehr niedrigen Temperaturen von unter -150 Grad Celsius auftreten. Zudem ist immer noch nicht vollständig geklärt, welche physikalischen Prozesse zur Supraleitung führen. Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, untersuchen Physiker*innen Materialien, die ähnlich wie Supraleiter aufgebaut sind. Einer dieser Stoffe ist Calciumruthenat. Es ist selbst kein Supraleiter, aber es zeigt ebenfalls eine Veränderung bei unter -150 Grad Celsius: Es wird magnetisch.
„Dies ist kein ungewöhnliches Verhalten. Es gibt jedoch zwei konkurrierende Erklärungen in der Fachwelt, wie der Magnetismus entstehen könnte.“, erläutert Maria Daghofer, Professorin für theoretische Festkörperphysik an der Universität Stuttgart. „Wir prüfen beide Erklärungsansätze durch Rechnungen am Computer und versuchen, die Widersprüche durch ein neues Modell aufzulösen.“ Doch anstelle eines Bildschirms sitze ich zu Beginn meiner Doktorarbeit vor einem Blatt Papier. Es ist mit vielen Zahlen sowie griechischen und lateinischen Buchstaben beschrieben. Wie lässt sich anhand dieser kryptischen Zeilen der Magnetismus eines Festkörpers wie Calciumruthenat erforschen?

Festkörper sind aus mehreren Atomsorten bestehende Kristalle, wobei die Atome in regelmäßigen Gitterstrukturen angeordnet sind. Calciumruthenat besteht aus Calcium-, Ruthenium- und Sauerstoffatomen. Jedes Rutheniumatom sitzt in der Mitte eines Käfigs aus sechs Sauerstoffatomen. Die Calciumatome liegen wie Abstandhalter zwischen den Schichten aus Sauerstoffkäfigen. Wesentlich für die Physik bei tiefen Temperaturen sind die Elektronen. Sie sind die negativen Teilchen des Atoms. Jedes Elektron besitzt einen sogenannten Spin, der in Form eines Pfeiles dargestellt wird. Für die Spins gibt es zwei erlaubte Orientierungen: Entweder zeigt der Pfeil nach oben oder nach unten. Die Spins sind sozusagen kleine Magnete und damit für den Magnetismus verantwortlich. Es ist ganz einfach mit ihnen zu rechnen. Bei einem Pfeil nach oben wird Eins addiert, bei einem Pfeil nach unten Eins abgezogen. Ist die Summe aller Spins ungleich Null, gibt es Magnetismus. Ist die Summe Null, ist das Material nicht magnetisch.

 

Abb. 1: Skizze des Aufbaus von Calciumruthenat. Je sechs Sauerstoffatome (rot) umgeben ein Rutheniumatom (blau). Die Calciumatome (braun) trennen die verschiedenen Schichten. ©Michael Schmid

Zu jedem Rutheniumatom gehören vier Elektronen und sechs Plätze für die Elektronen. Stellen Sie sich zwei nebeneinanderstehende Stühle vor. Das sind zwei der sechs Plätze. Weiter gibt es zwei Plätze vor den Stühlen auf dem Boden und zwei Stehplätze hinter den Stühlen. Durch die Spins wird eine Sitzordnung festgelegt: Links dürfen nur Elektronen mit Pfeil nach oben, rechts nur die mit Pfeil nach unten sitzen. Außerdem besagt die Physik, dass die vier Elektronen so auf den sechs Stühlen verteilt werden müssen, dass die Summe ihrer Spins maximal wird – zum Beispiel drei Elektronen mit Pfeil nach oben und eines mit Pfeil nach unten. Allerdings bleiben die Elektronen nicht brav auf ihren Plätzen sitzen. Sie hüpfen zu benachbarten Atom-Stühlen und wieder zurück – oder auch weiter zu anderen Atomen. Sie müssen dabei nur die Sitzordnung bezüglich der Pfeilrichtungen einhalten. Freie Plätze gibt es genügend, da ja pro Atom nur vier Elektronen aber sechs Plätze vorhanden sind.

Abb. 2: Das Rutheniumatom wird durch ein Stuhlpaar mit sechs Plätzen dargestellt. Die vier Elektronen befolgen eine feste Sitzordnung aufgrund ihrer Spins (hier als blaue Pfeile eingezeichnet).

Kehren wir zurück zu Calciumruthenat und dem Magnetismus bei tiefen Temperaturen. Die Gruppe um Markus Braden, Physikprofessor an der Universität zu Köln, legt den Fokus ihrer Erklärung auf die Sauerstoffkäfige, die die Rutheniumatome umgeben. Die Sauerstoffkäfige werden beim Abkühlen zusammengedrückt. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Beliebtheit der sechs Sitzplätze am Atom. Durch die Quetschung ist das Sitzen auf dem Boden bei den Elektronen deutlich populärer. Zwei der vier Elektronen belegen die Sitzplätze am Boden. Die beiden anderen tragen jeweils einen Pfeil nach oben und sitzen beziehungsweise stehen auf der linken Seite. Die Summe der Pfeile ist 1-1+1+1=2 und das Atom besitzt Magnetismus. Weil das auf jedem Rutheniumatom passiert, wird der Kristall bei -163 Grad Celsius magnetisch.

Bisher haben wir eine wichtige Theorie vernachlässigt – die Quantenmechanik. Sie ist immer dann relevant, wenn man es mit so kleinen Teilchen wie den Elektronen zu tun hat. In unserem Fall vermischt der quantenmechanische Effekt die sechs Sitzplätze mit den vier Elektronen. Es ist, als hätten wir eine Brille mit beschlagenen Gläsern auf und könnten nicht mehr zwischen Elektronen und Stühlen unterscheiden. Da wir nun keine Pfeile mehr sehen, gibt es an diesem Atom auch keinen Magnetismus. Bernhard Keimer und sein Team vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart können ihn aber in Experimenten nachweisen! Wie also kommt der Magnetismus zustande? Eine mögliche Erklärung liefert Giniyat Khaliullin, Physiker am gleichen Institut: Die Hüpfbewegungen der Elektronen zu anderen Atomen und wieder zurück, müssen berücksichtigt werden. Auf komplexem Wege sammeln sie dabei doch ein bisschen Magnetismus ein und das Material wird magnetisch. Welche der beiden Erklärungen – Quetschung der Sauerstoffkäfige oder hüpfende Elektronen – beschreibt die Realität nun besser?

Zurück zu meinem Blatt Papier voller kryptischer Zeilen. Was dort auf mathematisch elegante Weise steht, ist nichts Anderes als unser Modell von Calciumruthenat: Die sechs Sitzplätze, die vier Elektronen, das Hüpfen der Elektronen zwischen den Plätzen, die Quetschung der Sauerstoffkäfige und der quantenmechanische Effekt. Glücklicherweise muss ich diesem Ungetüm nicht mit Stift, Papier und Taschenrechner entgegentreten. Über Jahrzehnte hinweg haben Maria Daghofer und ihre Kolleg*innen ein Computerprogramm geschrieben, das ich benutzen und weiterentwickeln kann.

Um herauszufinden, welche Effekte für den Magnetismus verantwortlich sind, variiere ich jeweils die Stärke der Quetschung der Sauerstoffkäfige und den Einfluss des quantenmechanischen Effekts. Dabei ergibt sich eine Art Magnetismus-Landkarte mit vier Bereichen: einer ohne Magnetismus, zwei mit Magnetismus, in denen jeweils ein Effekt überwiegt und schließlich einer, in dem beide Effekte eine Rolle spielen. Um herauszufinden, wo sich Calciumruthenat auf dieser Landkarte befindet, nutze ich die experimentellen Ergebnisse meiner Kolleg*innen vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung. Und siehe da – Calciumruthenat liegt in dem Bereich, in dem beide Effekte wichtig sind! Wie kann das sein? Schließen sich die beiden Erklärungen doch nicht aus?

Lassen Sie uns nochmal mein theoretisches Modell betrachten. Wir nehmen zunächst einmal an, dass es in unserem Kristall nur vier Rutheniumatome mit insgesamt 16 Elektronen gibt. Daraus ergeben sich jedoch 735.469 Möglichkeiten, wie die Elektronen hüpfen können! Bei 35 Rutheniumatomen sind es bereits mehr als 1056 Möglichkeiten, das ist eine 1 mit 56 Nullen. Eine unvorstellbar große Zahl und immer noch nicht nah dran an der Wahrheit, denn selbst in einem kleinen Brösel Calciumruthenat gibt es Billionen mal mehr Rutheniumatome. Diese unglaublich große Zahl an Elektronen, an möglichen Bewegungen und Aufenthaltsorten machen die exakte Berechnung des Magnetismus unmöglich.

Wenn exakt nicht machbar ist, dann müssen wir Näherungen und Vereinfachungen anwenden, um zu verstehen, wie der Magnetismus entsteht. Und hier liegt auch die Lösung des Streits: Die beiden debattierenden Forschergruppen haben verschiedene Schwerpunkte in ihren Erklärungen gesetzt. Dadurch ergeben sich die Widersprüche zwischen ihren Ergebnissen. Das bedeutet noch lange nicht, dass nur eine Gruppe recht hat oder ein Ansatz falsch ist. Es bedeutet lediglich, dass auf der Suche nach der richtigen Antwort nicht alles berücksichtigt wurde. In meinem Modell konnte ich jedoch beide Erklärungen gleichzeitig in Betracht ziehen. Es hat sich gezeigt, dass sie beide wichtig sind, um die Entstehung des Magnetismus in Calciumruthenat zu verstehen.

 


Teresa Feldmaier wurde 1993 in Waiblingen geboren. Sie studierte von 2011 bis 2016 Physik an der Universität Stuttgart und promovierte dort 2019 in theoretischer Festkörperphysik. Ihre Begeisterung für die Physik teilt sie gerne auf vielfältige Weise – zum Beispiel 2019 als Science Slammerin. Heute arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektmanagerin bei der AKAD University.

 

1 Kommentar

  1. Calciumruthenat Ist also eine spezielle Spezies, ein eigenwilliger Stoff ohne Verwandte (?) oder mit noch unbekannter Verwandtschaft. Das macht ja unsere Welt, sogar die makroskopische Welt so interessant. Das nämlich, dass zwar vieles bis fast alles mit den bereits bekannten Theorien und Modellen beschrieben werden kann, allerdings nur prinzipiell, nicht ohne weiteres im einzelnen konkreten Fall. Forscher, aber auch Praktiker wissen zwar wo sie suchen müssen, aber sie wissen nicht wieviel Arbeit auf sie wartet und wo sie fündig werden.

    Den Magnetismus eines Materials auf die Spins der beteiligten Elektronen zurückzuführen, das tönt prinzipiell zuerst einmal einfach, muss doch am Schluss nur eine Art Summation vorgenommen werden. Doch eine Summation von was genau? Scheinbar eine Summation von etwas nicht völlig Statischem, sondern eine Summation von etwas was gewisse Freiheitsgrade hat. Eine Summation also vom durchschnittlichen Elektronenverhalten – und das über Myriaden von möglichen Konfigurationen. Das erinnert mich etwas an die in der QFD so wichtigen Renormierung wozu man in der Wikipedia liest: Explizite Rechnungen sind in diesem Formalismus jedoch sehr kompliziert.

    Das Renormierungsverfahren wurde ursprünglich sogar von Paul Dirac abgelehnt, vielleicht weil er an Einfachheit glaubte und nicht glauben wollte, dass man es im Kleinsten auch mit Gestrüpp zu tun hat. Doch es hat sich gezeigt: Einfache Prinzipien bedeuten nicht, dass es im konkreten Fall einfach bleibt.

    Komplexität bleibt uns allen also nicht erspart.

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