Begabtenförderung ist keine Elitenförderung

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Vom “Unsinn der Elitenförderung” schrieb Bernd Kramer letzten Freitag im Spiegel Online. Dem Wunsch, die Kommentarsektion unter strittigen Artikeln im SpOn zu lesen, sollte man ja dadurch begegnen, dass man nach Quokkas, Eulen oder auch niedlichen Kätzchen googelt; in diesem Fall lohnt sich die Lektüre der Anmerkungen jedoch, denn der Autor bekommt für seine wenig differenzierte Darstellung reichlich Gegenwind.

Auch wenn ich etwas in dem Zwiespalt stand, dem Beitrag durch meine Kommentierung möglicherweise mehr Ehre zuteil werden zu lassen, als er verdient, oder solche fragwürdigen Äußerungen einfach kommentarlos in der Welt stehen zu lassen, habe ich mich doch dafür entschieden, im Einzelnen abzuhandeln, was genau ich daran fragwürdig und falsch finde.
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  1. Begabtenförderung unterstützt diejenigen, die es am wenigsten brauchen (an anderer Stelle auch in der Variante “Begabtenförderung geht auf Kosten derer, die am meisten Unterstützung brauchen”). Mit Diversität und Differenzierung tun sich Lehrkräfte nach wie vor schwer – und zwar an beiden Enden der Begabungskurve. Systematisch vorbereitet wurden sie darauf nicht; das ändert sich glücklicherweise nach und nach, aber bis die nächste Kohorte im Schuldienst ankommt, dauert es noch. Insofern ist es auch im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen eigentlich ganz sinnvoll, wenn Lehrkräfte sich vor allem am Mittelfeld orientieren: Damit erreicht man nun mal die meisten Schülerinnen und Schüler. Wenn überhaupt differenziert wird, liegt der Fokus meist am unteren Ende der Verteilung – das zeigt auch die aktuelle Inklusionsdebatte, wo man teilweise auf völlige Verständnislosigkeit stößt, wenn man auch das Thema Hochbegabung unter diese Perspektive subsumiert.

    Ich illustriere Ihnen das Problem mal anhand der IQ-Verteilung. Dieser zufolge liegen Hochbegabte ebenso weit weg vom Durchschnittswert von 100 entfernt wie Menschen mit geistigen Behinderungen. Von den Hochbegabten wird jedoch erwartet, dass sie sich an den Regelunterricht anpassen. Böse Zungen würden sagen: Dumm stellen geht immer, umgekehrt ist’s schwieriger. Würde man vorschlagen, durchschnittlich Begabten denselben Unterricht zuteil werden zu lassen, den auch geistig behinderte Kinder erhalten, wäre die Hölle los erschlösse sich mit einem Mal die ganze Absurdität des Gedankens, dass Hochbegabte keine besonderen Anforderungen brauchen, sondern sich doch mit dem regulären Angebot zufrieden geben sollen – in IQ-Punkten ist der Abstand nämlich in beiden Fällen gleich. Ich würde mir nicht herausnehmen wollen zu beurteilen, wer Unterstützung “am meisten” oder “am wenigsten” braucht. Und schon gar nicht würde ich mir anmaßen wollen, bei dieser Entscheidung eine ganze Gruppe derart undifferenziert über einen Kamm zu scheren. Wenn der Unterricht am Mittelfeld ausgerichtet ist, brauchen Kinder um so mehr Förderung, je weiter weg sie von diesem Mittelfeld liegen. Egal, in welche Richtung die Abweichung geht.

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  3. Begabte sind Spitzenschüler. Auch wenn hohes Potenzial hohe Leistung insgesamt sehr gut vorhersagt: Hier muss man zwischen statistischen Zusammenhängen auf Gruppenebene und dem Einzelfall unterscheiden. Insgesamt betrachtet liegt der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Noten bei ungefähr .60 – das ist ein sogenannter Korrelationskoeffizient, der maximal den Wert 1 erreichen kann – das wäre ein perfekter Zusammenhang zwischen Intelligenz und Noten. Nun wissen wir aber, dass Noten auch durch andere Faktoren bedingt sind. Wer schlau ist, aber faul, bekommt unter Umständen schlechtere Noten als jemand, der nicht so schlau ist, aber fleißig. (In einem Wertesystem, das Arbeitsmoral schätzt, ist es auch vertretbar, diesen Faktor in die Note einfließen zu lassen.) Auch wenn der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulleistung insgesamt also substantiell ist, ergibt sich daraus keine Garantie, dass das in jedem Einzelfall auch so ist – dazu ist der Einfluss anderer Faktoren neben der Intelligenz viel zu groß. (Genau gesagt beträgt er bei der genannten Korrelation exakt 64 %. Das ist nicht eben wenig.) Eine Variante dieses Missverständnisses ist das “Statistiken besagen, dass”-“Aber mein Kind”-Phänomen, das einem öfters mal bei Vorträgen begegnet. Man muss die verschiedenen Analyseebenen differenzieren. Aber dass Hochbegabte allesamt Spitzenschüler sind, ist einfach falsch.
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  5. Es ist gut, dass der Begriff “Elite” verpönt ist. Hier würde ich dem Autor sogar mal zustimmen. Einen derart negativ konnotierten Begriff braucht kein Mensch. Denn genau um eine “Elite” geht es bei der Begabtenförderung doch gar nicht. Es geht darum, den individuellen Lernbedürfnissen eines Menschen besser gerecht zu werden.
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  7. Gymnasiasten sind die Spitze im Bildungssystem (und damit gleichzusetzen mit Hochbegabten?). Hier wird’s dann etwas diffus. Einerseits wettert der Autor gegen die Hochbegabten, führt dann als Argument aber den bestbesuchten Schultypus an. (Vielleicht werden am Ende ja doch noch alle Elite, wenn der Trend zum Gymnasium anhält?) Was er allerdings verschweigt, ist, dass die Ausgaben für Gymnasiasten vs. Hauptschüler sogar eher zu Gunsten der Hauptschüler ausfallen: Laut Tabelle 2.5.1 in der von ihm verlinkten Statistik (S. 121) liegen die Ausgaben pro Schuljahr Gymnasium bei 7055,55 €, pro Schuljahr Hauptschule bei 7260,00 €. (BTW: Studierende (ohne Medizin) schlagen pro Jahr nur mit schlappen 6818,18 € zu Buche, stehen dieser Logik folgend also wohl eher nicht an der Spitze.)
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  9. Stipendiengeld fließt nicht nur in Bildungsmaßnahmen, sondern geht als “Taschengeld” an die Stipendiaten. Ein Unding. Sagen Sie jetzt bloß, die Verwendung von Kindergeld würde durch die Eltern bestimmt, die damit beispielsweise auch mal eine neue Kaffeemaschine kaufen? (Dabei haben die doch schon ihr Elterngeld abkassiert, diese Gierschlunde!) Oder Sozialhilfeempfänger dürften ihr Geld auch mal für Sachen ausgeben, die einfach nur Spaß machen, ohne dass das jemand kontrolliert? Für Stipendiaten soll es ein Leben außerhalb der harten Arbeit an der Umsetzung ihres Potenzials in Hochleistung geben, wo sie ihr Stipendiengeld am Ende in Bier, Kinokarten oder schöne Schuhe investieren? Nicht zu fassen! Dieses dekadente Geschmeiß! 😉
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  11. Akademikerkinder profitieren überproportional von der Begabtenfördermaßnahmen; deshalb befördert Begabtenförderung soziale Ungerechtigkeit. Das Problem liegt hier doch viel weniger darin, dass tatsächlich leistungsstarke und begabte Kinder gefördert werden, sondern darin, dass es augenscheinlich nicht gelingt, das Potenzial in denjenigen zu identifizieren, die keine Akademikereltern haben. Dafür können aber doch die Akademikerkinder nichts. Ebensowenig dafür, dass ihre Eltern versuchen, sie zu unterstützen. Statt begabte Akademikerkinder von Fördermaßnahmen gezielt fernzuhalten, sollte die Konsequenz doch eher lauten, das Suchraster über den engen Radius der subjektiven Vorstellungen, wie ein begabtes Kind zu sein hat, hinaus zu erweitern. Und wir müssen realistisch sehen, dass es nicht damit getan ist, den Kuchen anders aufzuteilen. Wir müssen noch ein paar Kuchen mehr backen.
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  13. Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass es sich vor allem lohnt, die Schwachen zu fördern. Eine verwegene Schlussfolgerung. Eine Interpretation wie “Schwache fördern ist die beste Bildungspolitik” (weil sich die Begabten im Gegenzug dazu ja nicht gesteigert haben) ist meines Erachtens eher witzlos, wenn der Fokus der Förderung ja eben auf den Schwachen und nicht auf den Starken lag. Ich würde das Ergebnis entsprechend eher so interpretieren, dass eine Steigerung der Leistung dann zu erwarten ist, wenn adäquat, also dem individuellen Fähigkeitsniveau entsprechend, gefördert wird. Das scheint bei den Hochbegabten weniger der Fall zu sein als bei den geringer Begabten (und auch bei denen ist sicherlich noch Luft nach oben). Wer weiß, welche Ergebnisse die Hochbegabten erzielen würden, wenn man sie mal allesamt richtig fördern würde? Das werden sie aktuell nämlich nicht – von den sehr wenigen Ausnahmen, die das Glück haben, in einer Begabtenfördermaßnahme gelandet zu sein, mal abgesehen.
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  15. Wir wissen nicht, ob ein Elfjähriger in 10, 20 Jahren tatsächlich zum Wirtschaftswachstum beitragen wird. Vorhersagen sind ja bekanntlich generell schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. So, wie der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulnoten nicht perfekt ist, bedeutet auch Förderung nicht, dass es im Einzelfall immer eine Erfolgsgarantie gäbe. Förderung erhöht insgesamt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass Potenzial umgesetzt wird. Denn was bietet Begabtenförderung? Zunächst doch einmal Anforderungen auf einem Niveau, das dem Fähigkeitsniveau des Kindes angemessen ist. Man sagt, ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss. Wie hoch ein Pferd allerdings überhaupt springen kann, findet man nur heraus, indem man die Latte höher legt, das Pferd also fordert. Die Gefahren, die mit einer Nichtförderung einhergehen – Demotivation, Langeweile, Schulunlust, negative Einstellungen zum Lernen, von möglicherweise resultierenden psychischen Folgen dieser Nichtpassung mal ganz abgesehen –, sind meines Erachtens überproportional höher als die Gefahr, mal das eine oder andere Kind zu fördern, das am Ende keinen Nobelpreis gewinnt.

    Ob das Wirtschaftswachstum tatsächlich das Maß der Dinge sein sollte, sei außerdem mal dahingestellt – ich bin von diesen einseitig ökonomisch ausgerichteten Argumentationen ja kein Fan. Sein Potenzial umsetzen zu können in einer Umwelt, die das anerkennt, ist nicht zuletzt ein ganz wichtiger Baustein für das persönliche Lebensglück. Wieso sollte man Kindern, die nun mal schlechter ins reguläre Schulsystem passen, diese Erfahrung vorenthalten? Am anderen Ende geht’s doch auch.

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  17. Die Förderung, die Begabten zuteil wird, wird anderen vorenthalten. Ich bin seit langem auf der Suche nach konkreten Zahlen, wieviel Prozent des Bildungsetats in die Förderung schwächerer Schülerinnen und Schüler gesteckt wird und wieviel Prozent in die Förderung der Hochbegabten. Wenn ich mir die vielen Förderschulen anschaue, beschleicht mich da ein ganz schrecklicher Verdacht, dass die Begabtenfördermaßnahmen finanziell vielleicht gar nicht so sehr ins Gewicht fallen.

    Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist die nach der Gerechtigkeit; und hier herrscht meines Erachtens immer noch das große Missverständnis, dass Gerechtigkeit dann gegeben ist, wenn man alle über denselben Kamm schert. Genau das ist aber falsch. Gerecht wäre ein Bildungssystem dann, wenn es den Besonderheiten eines jeden Kindes so entgegenkäme, dass es sein individuelles Potenzial entfalten kann. Und dabei ist es völlig egal, ob das Potenzial nun am unteren Ende, am oberen Ende oder irgendwo mittendrin liegt. Das sollte das eigentliche Ziel sein; aber mit denjenigen anzufangen, die auf beiden Seiten am weitesten vom Durchschnitt weg liegen, erscheint mir ein sinnvoller Ansatzpunkt.

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  19. Es ist unklar, welche Begabungen man überhaupt fördern sollte – Hochbegabte oder Hochleister. Das ist im Gegenteil ganz klar: beide! Denn auch die durchschnittlich begabten Hochleister bringen doch Potenzial mit: Fleiß, Ausdauer, Frustrationstoleranz, Gründlichkeit, lauter Tugenden, die der Potenzialentwicklung sehr förderlich sind. Man muss sie nur nicht mit denselben Methoden fördern. Hochbegabte sind an sich schon eine sehr heterogene Gruppe; und nicht jede Hochbegabtenfördermaßnahme trifft genau den Bereich, in dem ein hochbegabtes Kind am stärksten profitieren würde. Hochleister brauchen eine Förderung ebenso – aber sie brauchen mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere Förderung als talentierte, aber von der Schule frustrierte Underachiever.
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  21. Begabtenklassen schaden möglicherweise denen, die nicht davon profitieren. Man kann sein Leben ja bekanntlich nur einmal leben; insofern ist die Alternativhypothese (was wäre gewesen, wenn Kind X doch in die Begabtenklasse gekommen wäre?) eher schwierig zu überprüfen. Aber nicht die Begabtenklassen schaden diesen Kindern, sondern die Tatsache, dass ihnen nicht die Förderung zuteil wird, die sie bräuchten. Das ist aber kein Argument gegen Begabtenklassen generell. Kurzsichtige profitieren von Sehhilfen. In armen Ländern haben Menschen weniger Chancen, an eine Brille zu kommen. Soll man deshalb auch denjenigen ihre Brillen wegnehmen, die das Glück haben, eine zu besitzen? Das wäre doch absurd. Im übrigen sehe ich es keineswegs als die Verantwortung der hochbegabten Kinder und Jugendlicher, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern “Nachhilfe” zu geben und so Defizite zu beheben, die vielmehr im Bildungssystem insgesamt zu verorten sind.

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Insgesamt ärgert mich bei diesem Artikel, dass er wieder nur den alten Grabenkämpfen, wer nun eine Förderung am meisten braucht und verdient, Vorschub leistet, das eigentliche Problem dabei aber völlig ignoriert: Menschen sind verschieden und brauchen ganz unterschiedliche Bedingungen, um sich optimal zu entfalten. Künstliche Fronten zwischen “Hochbegabten” und “Nichthochbegabten” zu eröffnen und Missgunst zwischen den Gruppen zu schüren, ist dabei nur wenig zielführend. Hochbegabung ist einer von vielen Aspekten der menschlichen Vielfalt insgesamt und somit letztlich auch nur eine Spielart der Normalität. Sie als eine von vielen Besonderheiten zu akzeptieren und in ihren Stärken zu fördern, ist nur die logische Konsequenz für ein Bildungssystem, das einen konstruktiven Umgang mit Diversität insgesamt anstrebt.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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