“Ich bin nicht da”: Dissoziative Störungen

Der Tag läuft ganz gut. S. sitzt an ihrem Schreibtisch, sie ist gerade am Lernen, als ihre Gedanken langsam anfangen zu wandern. Sie denkt an die Dinge, die sie vielleicht lieber tun würde, und ihr fällt auf, dass sie Nackenschmerzen hat. „Das kommt bestimmt vom Stress“, denkt sie sich. Eigentlich ist S. immer gestresst und immer angespannt, fällt ihr auf. Die Gedanken schweifen weiter ab, sie bemerkt, dass es ihr schon eine Weile nicht ganz gut geht, dass sie das viele Lernen sie zwar ablenkt, am Ende des Tages in der Stille ihres dunklen Schlafzimmers aber trotzdem unangenehme Bilder auf sie warten werden. Immer diese Bilder… Und dann ist sie weg. Sie sitzt nicht mehr an ihrem Schreibtisch, spürt nicht ihre Nackenschmerzen oder bemerkt, dass ihre Stirn kraus liegt. Sie ist weg. Wenn S. dissoziiert, fühlt sich das an, als würde sie aus ihrem Körper herausfallen und in kaltes Wasser abtauchen. Alles wirkt dumpf. Der Schreibtisch ist ganz weit entfernt, ihr Körper auch. Sie spürt ihre Gliedmaßen nicht mehr, es ist, als hätte jemand ihre Wahrnehmung einfach ver-rückt, sie aus ihrem Körper herausgezogen. Ihre eben noch rasenden Gedanken verlangsamen sich, Gefühle verschwinden. Sie kann sich nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen, nicht mehr fühlen oder da sein. Wie gelähmt sitzt sie da und spürt nur noch den Zustand ihrer eigenen verdrehten und verknoteten Wahrnehmung, ihrer eigenen Abwesenheit und ganz, ganz weit unten die aufsteigende Angst.

Was S. uns hier beschrieben hat, nennt sich Depersonalisation. Das Gefühl, sich selbst fremd zu sein. Ein Phänomen, welches häufig dem Überbegriff der „Dissoziationen“ zugeordnet wird.

Was sind Dissoziationen?

Dissoziationen umschreiben das Auseinanderfallen sonst zusammenhängender psychischer Funktionen. Von dieser „Abspaltung“ können z.B. Bereiche der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gedächtnisses oder auch die Motorik betroffen sein. Als Menschen kennen wir alle Dissoziationen. Vielleicht kennst du folgenden Moment: Du bist nach einem anstrengenden Tag auf dem Nachhauseweg und plötzlich findest du dich zu Hause wieder und bist dir gar nicht sicher, wie genau du angekommen bist. Du warst irgendwie abwesend, mit den Gedanken wo anders und hast deine Umgebung nicht bewusst wahrgenommen, sondern wie automatisiert gehandelt. Dieser Zustand lässt sich als ein leichtes dissoziatives Phänomen beschreiben. Andere erleben ähnliche Symptome auch bei starker Müdigkeit oder nach Drogenkonsum. Generell bewegen sich Dissoziationen auf einem Kontinuum von alltäglichen, ganz normalen Erscheinungen bis hin zu schwer einschränkenden Störungen.

Was sind Dissoziative Störungen?

Als kategoriales Diagnosesystem gruppiert die ICD-11 (das neue System der WHO zur Diagnosestellung) verschiedene Störungsbilder. Es gibt die Gruppe der psychischen Störungen, Verhaltens- und neurologischen Entwicklungsstörungen. In diese Gruppe fallen alle psychischen Störungen, z.B. affektive Störungen, zu denen die depressiven Störungen zählen, Angststörungen oder eben auch die dissoziativen Störungen, vorher auch als Konversionsstörungen bekannt. Innerhalb der dissoziativen Störungen gibt es wiederum weitere Untergruppen. Im Folgenden werden ausgewählte dissoziative Störungen beschrieben.

Depersonalisations-/Derealisationsstörung

Wie sich Depersonalisation anfühlt, hat uns S. weiter oben geschildert. Die Depersonalisation tritt häufig gemeinsam mit Derealisation auf. Hier erleben Betroffene ihre Umwelt als fremd, künstlich oder unwirklich. Häufig wird das Phänomen so beschreiben, als würde man durch einen Schleier oder eine verzerrte Linse schauen. Tritt das Gefühl, vom eigenen Körper und den eigenen Gedanken losgelöst zu sein (Depersonalisation) oder das Gefühl einer fremdartigen, losgelösten Umwelt (Derealisation) ohne ersichtlichen Grund sehr häufig auf, hält es auffällig lange an/wird es gar zum chronischen Zustand und wird von Betroffenen als störend und einschränkend erlebt, dann kommt die Diagnose einer Depersonalisations-/Derealisationsstörung infrage.

Funktionelle neurologische Störung

Diese Untergruppe psychischer Störungen war früher auch als Konversionsstörung bekannt. Die Symptome sind neurologischer Natur – jedoch ohne neurologische Grundlage. Es können alle Sinnesmodalitäten und Körperfunktionen betroffen sein. So können dissoziative neurologische Symptome das Sehen, Hören oder Fühlen einschränken. Betroffene können wiederholt auftretenden Schwindel, Gleichgewichtsstörungen oder starke Schmerzen empfinden, ohne dass dem eine körperliche Störung zugrunde liegt. Ebenso kann die Fähigkeit des Sprechens, Laufens, der Bewegung oder insgesamt der Muskeltonus betroffen sein. Dies kann in vereinzelten Zuständen oder chronisch auftreten, manche Betroffene sind so auf Gehhilfen oder auch Rollstühle angewiesen und sind in ihrem Alltag schwer eingeschränkt. Dissoziative Krampfanfälle ähneln epileptischen Anfällen, so gehen auch dissoziative Krampfanfälle mit einem Verlust der Kontrolle über den Körper und der Willkürmotorik einher und Bewusstseinsfunktionen sind stark eingeschränkt.

Dissoziative neurologische Störungen beginnen häufig im Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter. Die Symptome sind ernst zu nehmen und nicht Resultat von „Einbildung“, sie können daher nicht einfach „abgestellt“ werden.

Dissoziative Identitätsstörung

TW: Aufkommen des Themas Kindesmissbrauch

Die dissoziative Identitätsstörung (kurz: DIS) ist eine Störung, die als Reaktion auf schwere frühkindliche Traumatisierungen entwickelt wird. Betroffene entwickeln verschiedene voneinander abgrenzbare Persönlichkeitszustände, die abwechselnd die Kontrolle des Menschen, seiner Kognitionen und seines Verhaltens übernehmen. Früher war diese Störung als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt, heute wissen wir jedoch, dass es sich bei der dissoziativen Störung weder um eine Persönlichkeitsstörung noch um Einbildung oder eine psychotische Symptomatik handelt.

Die Beschreibung der DIS und ihrer Entstehung ist komplex. Kinder und ihre sich entwickelnden Gehirne werden mit vielen Entwicklungsaufgaben konfrontiert und eine von diesen ist die Entstehung einer integrierten Identität. Die Integration verschiedener innerer Anteile erfordert ein funktionierendes Gedächtnis, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und vieles mehr. Wird ein Kind bereits vor seinem sechsten Lebensjahr wiederholt schwer misshandelt oder missbraucht, ist das so einschneidend und überfordernd, dass das Kind die Erinnerung an die Traumatisierungen und die damit zusammenhängenden Bedürfnisse und Persönlichkeitsanteile abkapselt. Das Gehirn entwickelt sich sozusagen mit internen Mauern weiter und es entstehen Persönlichkeitsanteile, die Zugriff auf bestimmte Erinnerungen und Funktionen haben und andere, die dies nicht haben. Ist die Person mit einem Trigger, einem starken Anspannungszustand oder verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, treten verschieden Persönlichkeiten zutage. Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler können in bildgebenden Verfahren unterschiedliche Muster von Hirnaktivität sehen, verschiedene Persönlichkeiten haben unterschiedliche Zugriffe auf bestimmte (Teil-)Systeme des Gehirns. So trägt jede Persönlichkeit nur die Erinnerungen, die sie erlebt, während sie Kontrolle über den Körper hat. Betroffene leiden so meist an sich wiederholenden Phasen von Amnesie. Häufig kommen Symptome einer Post-traumatischen Belastungsstörung hinzu.

In populären Filmen oder anderen Medien wird die DIS leider immer wieder als schockierende Krankheit dargestellt und es wird die Existenz von „bösen“ Persönlichkeiten oder „Monstern“ impliziert. Es ist wichtig zu verstehen, dass Betroffene sehr viel wahrscheinlicher Überlebende, als Täter von Straftaten sind. Die DIS geht mit schwerer Traumatisierung einher, die die Betroffenen viel eher anfällig für Ausnutzung und Manipulation macht. Es gibt keinen Grund, vor Menschen mit einer DIS Angst zu haben und es ist immer sinnvoll, die Hollywood-Darstellung psychischer Störungen zu hinterfragen.

TW Ende

Ursache und Entstehung Dissoziativer Störungen

Persönlichkeitseigenschaften und Veranlagungen wie z.B. Verträumtheit können die Tendenz zu dissoziativen Phänomenen verstärken, sind jedoch nicht alleiniger Auslöser der psychischen Störungen. Dissoziative Störungen stehen im engen Zusammenhang mit Traumatisierungen. Zwar erleben nur 8% von Menschen mit traumatischen Erfahrungen schwere dissoziative Symptome, jedoch berichten ganze 90% von Menschen mit dissoziativen Störungsbildern von traumatischen Erfahrungen. Wie bei allen psychischen Störungen gilt die Vulnerabilitäts-Stress-Annahme: Bei genügend Anfälligkeiten (=Vulnerabilitäten), z.B. Persönlichkeitsmerkmale + Traumatisierung + Defizite in der Emotionsregulation, kann unter hinzukommendem akutem Stress eine psychische Störung ausgelöst werden. Dissoziation kann als eigenes Störungsbild auftreten oder Symptom anderer Störungen sein. So können auch Individuen, die an PTBS, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder an Angststörungen leiden, Dissoziationen erleben.

Neurobiologische Grundlagen

Die dissoziativen Störungen sind eine diverse Gruppe an Störungsbildern, die sich auch in ihrer Neurobiologie unterscheiden. Hier soll ein kurzer Einblick in die Forschung von PTBS mit Dissoziationen gegeben werden, der bei weitem nicht umfassend ist.

Frühe Studien beschreiben physiologische Veränderungen, die mit dissoziativen Zuständen einhergehen. So sinkt bei dem Eintreten von Depersonalisation die Hautleitfähigkeit, die im weitesten Sinne Stressreaktivität widerspiegelt. Werden Individuen mit Depersonalisations- und Derealisationsphänomenen emotionalen Stimuli ausgesetzt, reagieren sie weniger erregt als andere Menschen, die Reaktivität ihres autonomen Nervensystems im Zusammenhang mit der Verarbeitung emotionaler Reize ist ähnlich ihres inneren Zustandes wie gedämpft.

Bildgebende Studien zielen auf die Identifikation von Hirnarealen, die in Zusammenhang mit den beschriebenen Symptomen stehen, ab. Eine wichtige Rolle scheint die Inselrinde zu spielen, eine Hirnregion, die mit unserer Selbstwahrnehmung, der Umschaltung unserer Aufmerksamkeit von innen nach außen und der bewussten Wahrnehmung von Emotionen in Verbindung steht. So geht eine geringere Aktivierung der Inselrinde z.B. mit Gefühlen der Entfremdung und dem Gefühl geringerer Bewegungskontrolle einher. Regionen des Frontalhirns scheinen des Weiteren dämpfend auf Regionen der emotionalen Wahrnehmung und der Emotionsregulation einzuwirken.

Lokalisation Inselrinde im Gehirn
Lokalisation der Inselrinde, engl. Insula (Bildquelle)

Wenn wir versuchen, die neurobiologischen Grundlagen psychische Störungen besser zu verstehen, reicht es nicht, sich einzelne Hirnareale zu betrachten. Eine Zuordnung von Störung x zu Hirnareal y ist zu kurz gedacht. Die beschriebenen Areale sind Teile größerer Hirnnetzwerke, die sich gegenseitig beeinflussen. Aus einer Hirn-Netzwerk-Perspektive betrachtet, hängen dissoziative Störungen mit Abweichungen in den Verbindungen zwischen zentralen Knotenpunkten zusammen. So scheint die Inselrinde stärker mit der Amygdala verbunden zu sein, was durch Veränderungen in verwandten Netzwerken im weiteren Verlauf zu für Veränderungen von Aufmerksamkeitsprozessen, einer veränderten Selbst- und Körperwahrnehmung sowie zu veränderter Verarbeitung emotionaler Reize führen kann.

Therapiemöglichkeiten

Der bevorzugte Behandlungsansatz für dissoziative Störungen ist die Psychotherapie. Begleitende Störungen können unterstützend medikamentös behandelt werden. Wenn die dissoziative Symptomatik Folge einer Traumatisierung ist, ist die Stabilisierung, das Vermitteln des Gefühls von Sicherheit und schließlich die Behandlung und Konfrontation des Traumas zentral. Die Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung zielt auf die Re-Integration der verschiedenen Anteile ab. Da dies jedoch lange dauern und nicht immer erreicht werden kann, wird in der Therapie häufig vor allem die Kommunikation innerhalb des Systems der verschiedenen Persönlichkeiten und der Umgang mit der Traumasymptomatik gestärkt. Um die Dissoziationen selbst bewältigen zu können, können Entspannungsverfahren oder sogenannte Skills eingesetzt werden. Häufig setzten sich Betroffene gezielt ungefährlichen starken Reizen aus, die stark genug wirken, um die Wahrnehmung zurück ins Hier und Jetzt zu holen.

S., die ihre dissoziative Symptomatik als Teil ihrer Traumafolgestörung besser zu verstehen gelernt hat, schätzt vor allem Kühlpacks, Chilli-Schoten oder stark riechendes Ammoniak. So unangenehm die Erfahrung auch manchmal sein kann – am Ende ist man nie so hilflos, wie man sich fühlt, sagt sie.

Quellen

WHO. (2023, January). ICD-11 for mortality and morbidity statistics. ICD-11. https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f334423054

Briere, J. (2006). Dissociative symptoms and trauma exposure. Journal of Nervous & Mental Disease194(2), 78-82. https://doi.org/10.1097/01.nmd.0000198139.47371.54  

Dorahy, M. J., Brand, B. L., Şar, V., Krüger, C., Stavropoulos, P., Martínez-Taboas, A., Lewis-Fernández, R., & Middleton, W. (n.d.). Dissociative identity disorder: An empirical overview. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry48(5), 389-489. https://doi.org/10.1177/0004867414527523 

McKinnon, M. C., Boyd, J. E., Frewen, P. A., Lanius, U. F., Jetly, R., Richardson, J. D., & Lanius, R. A. (2016). A review of the relation between dissociation, memory, executive functioning and social cognition in military members and civilians with neuropsychiatric conditions. Neuropsychologia90, 210-234. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2016.07.017 

Sierra, M., & David, A. S. (2011). Depersonalization: A selective impairment of self-awareness. Consciousness and Cognition20(1), 99-108. https://doi.org/10.1016/j.concog.2010.10.018 

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Mein Name ist Lea Anthes und ich studiere Klinische Psychologie und Psychotherapie im Master an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ich interessiere mich schon lange für Themen rund um das menschliche Gehirn und konnte mich während meines Bachelorstudiums der Psychologie sowohl umfangreich mit der kognitiven Neurowissenschaft auseinandersetzen als auch praktische Erfahrung im Bereich der klinischen Neuropsychologie sammeln. Gerne teile ich diese Begeisterung mit interessierten Leserinnen und Lesern.

30 Kommentare

  1. Bei einer Traumatisierung spaltet sich meiner Ansicht nach die Angst ab(Dissoziation) Sie ist dann also nicht mehr Folge ihrer Wahrnehmung sondern die Wahrnehmung an und für sich. Letztere bestimmt primär dann jede Reizverarbeitung und dominiert wahrscheinlich über die Ratio (Verstand) die diesen Zustand beobachtet und als abgetrennt wahrnimmt was wiederum mit
    -nun “eigenen” Gefühlen- bewertet wird. So kann es passieren dass die Angst die Angst bewertet was depersonalisiert , also eine Abtrennung vom ICH beinhaltet.
    Der abgespaltene Teil (durch die Traumatisierung) sollte dann erkannt werden.

    • Sehr geehrte Frau Anthes,

      vielen Dank für den interessanten Beitrag. Bzgl. der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) fänd ich eine zumindest kurze Erwähnung der Kritik an dem Konzept wichtig (bspw. Piper & Merskey (2004) oder auch der entsprechende Absatz im englischsprachigen Wikipedia-Artikel). Ich glaube, dass es kaum eine andere Diagnose in den aktuellen Klassifikationssystemen gibt, deren Fundament regelmäßig von methodisch sorgfältig Arbeitenden in Frage gestellt wird (bspw. Scott Lilienfeld und Irving Kirsch (Lilienfeld et al., 1999). Anekdotisch habe ich in meinem klinischen Alltag wiederholt die Erfahrung gemacht, dass mir Patient:innen (mit der Diagnose DIS in der Anamnese) berichtet haben, dass sie zum Teil den Behandelnden zuliebe Symptome/Hypothesen beschrieben oder bestätigt haben. Während den entsprechenden Therapien habe ich dann die diagnostischen Kriterien der Diagnose nie erfüllt gesehen, weshalb ich diesbezüglich persönlich sehr skeptisch bin. Ich möchte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass es keine Befürworter:innen des Konzepts gäbe, sondern lediglich sagen, dass es ein in der Fachwelt umstrittenes Konzept ist.

      Herzliche Grüße

      Walid Talasch

      Quellen:

      Lilienfeld, S. O., Lynn, S. J., Kirsch, I., Chaves, J. F., Sarbin, T. R., Ganaway, G. K., & Powell, R. A. (1999). Dissociative identity disorder and the sociocognitive model: recalling the lessons of the past. Psychological bulletin, 125(5), 507–523. https://doi.org/10.1037/0033-2909.125.5.507

      Piper, A., & Merskey, H. (2004). The persistence of folly: a critical examination of dissociative identity disorder. Part I. The excesses of an improbable concept. Canadian journal of psychiatry. Revue canadienne de psychiatrie, 49(9), 592–600. https://doi.org/10.1177/070674370404900904

      • Hallo Herr Talasch,

        vielen Dank für diese sehr wichtige Anmerkung und die Literaturverweise, darüber freue ich mich immer sehr. Sie haben absolut Recht, dass die Diagnose häufig diskutiert wird. Ich bin selbst eher mit der Literatur zur Forschung bildgebender Verfahren vertraut, die für das Vorhandensein mehrer Seins-Zustände spricht, und war durch die erneute Aufnahme in die ICD-11 der Ansicht, dass die Diagnose den aktuellen wissenschaftlichen Standards entspricht. Es wäre aber wahrscheinlich auch Wunschdenken anzunehmen, dass die Erneuerungen der Klassifikationssysteme frei von Voreingenommenheit wären, vor allem wenn die kategoriale Diagnostik selbst nicht mehr gänzlich dem aktuellen Standard entspricht. Was ich mir auf jeden Fall auch mitnehme, ist wie wichtig es zwar ist, Patientinnen und Patienten in ihrem Erleben zu validieren, gleichzeitig aber nicht suggestiv oder geschlossen nach diesem zu fragen. Vor allem weil die DIS leider keine Diagnose ist, die leichtfertig vergeben und in Akten eingetragen werden sollte… Ich finde dissoziative Phänomene sehr interessant und vieles ist noch nicht gut verstanden oder wirklich geklärt. Man kann gespannt sein, welche Erkenntnisse wir aus der Forschung gewinnen werden.

        Liebe Grüße!

  2. “Ich denke also bin ich” (nicht da, oder …!?)

    “Dissoziative Identitätsstörung” – Ich denke, in den 70ern war Wissenschaft mir Ursachenforschung schon ziemlich nah/klärend dran (zu nah / zu klärend!?).

  3. Nach soviel Stress mit der Dissoziation die positive Seite.
    Wer zwei Dinge gleichzeitig erledigen kann ist im Vorteil.
    Eine Frau kann einen Kuchen backen und gleichzeitig über ihren Ex nachdenkenken.
    Ein Mann tut sich schwer dabei. Wenn der an seine Freundin denkt, dann brennt der Kuchen an.

    Dissoziation im Straßenverkehr ist auch lebensgefährlich. Wenn da neue Verkehrsschilder auf dem Weg zur täglichen Arbeit auftauchen, gibt es Unfälle.
    Es gibt sogar Warnschilder , die vor dem neuen Verkehrschild warnen.

    Und wie ist es mit den Smartphonenutzern , die gedankenverloren die Straße überqueren ? Sind die gestört oder nur gefährdet ?

    Spaß beiseite, ich könnte mir aber vorstellen, dass Spaß einem Disso-Opfer hilft.

  4. Ja, dissoziative Zustände sind bis zu einem gewissen Grade normal und auch beim Gesunden zu beobachten.
    Psychologisch betrachtet kann Dissoziation eine Distanzierung von sich selbst bedeuten, eine Abtrennung von Teilen des Selbst. Diese Beschreibung zeigt bereits, dass Dissoziation in gewissen Fällen auch therapeutisch eingesetzt werden kann, denn wenn ich Erinnerungen, Empfindungen und Gefühle von mir selbst abtrennen kann, dann kann ich im günstigsten Fall auch traumatische Erlebnisse und Gefühle von mir abtrennen, was mir erlaubt frei zu werden von traumatischem Wiedererleben einer schlimmen Erinnerung.
    Ein chemischer Stoff, der schon längere Zeit in der Anästhesie eingesetzt wird, begünstigt dissoziative Zustände. Ketamin nämlich. Zunehmend zeigt sich, dass ketamininduzierte dissoziative Zustände auch in der Behandlung psychischer Störungen eingesetzt werden können. Besonders grosse Hoffnungen hat man bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen mittels Ketamin. Im Artikel Ketamin ist Hoffnungsträger bei der chronischen posttraumatischen Belastungsstörung liest man dazu:

    Wiederholte Ketamin-Infusionen können nach einer neuen Studie bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) eine schnellere Erholung fördern. Die Ergebnisse wurden im Januar 2021 im American Journal of Psychiatry online veröffentlicht.

    • Dissoziation im Sinne des sich Distanzierens von traumatischen Inhalten ist durchaus therapeutisch wertvoll, ich bin mir aber nicht sicher, ob dieser Begriff in der Traumatherapie dafür verwendet wird, hier spricht man eher von sogenannten Containment-Techniken. Die beschriebenen Dissoziativen Zustände können im Sinne der Traumabehandlung eher kontraproduktiv wirken. Einerseits sind solche Symptome meist funktional: Sie verhindern, dass Betroffene von Gedanken oder Bildern “überflutet” werden und gelten als Schutzmechanismus. Wenn es in der Therapie allerdings um die Konfrontation geht, können Dissoziationen zu Vermeidungsstrategie werden und aufrechterhaltend wirken, das muss individuell erörtert werden. Neue Ansätze zur Behandlung sind auf jeden Fall sehr spannend.

      • ja, dissoziative Prozesse werden in der Medizin und Psychotherapie sehr schnell mit krankhaften Prozessen in Verbindung gebracht. Andererseits gibt es keinen Zweifel daran, dass Ketamin dissoziativ wirkt. Es ist sogar so, dass die dissoziative Wirkung von Ketamin mit ein Grund für seinen Einsatz in der Anästhesie ist. Dazu liest man in einem NZZ-Artikel:

        Die Wirkung des Narkosemittels Ketamin wird als «dissoziative Anästhesie» beschrieben. Das heisst, der Patient befindet sich während des Eingriffs in einer Art Trancezustand, kann aber nicht reagieren.

        Doch Ketamin wurde in den letzten Jahren auch zur Behandlung der Depression und der posttraumatischen Belastungsstörung eingesetzt. Und das mit teilweise verblüffendem Erfolg und auch hier wird die dissoziative Wirkung von Ketamin mitverantwortlich für den Erfolg gemacht. Im Artikel Posttraumatische Belastungsstörung –Behandlung mit Ketamin, EMDR, Biofeedback und rTMS wird über den Einsatz von unter anderem Ketamin bei der posttraumatischen Belastungsstörung berichtet.

  5. Wir/man dissoziieren ja nicht aus Langeweile. Wer sich von seinen Gedanken und Gefühlen ablenken läßt ist meiner Ansicht noch lange nicht dissoziiert da dieses der Normalfall ist denn unser Geist funktioniert so in dem er laufend wie ein Affe im Käfig hin und her springt..
    Diese Distanzierung von sich selbst (M. Holzherr) scheint mir die Folge der Traumatisierung zu sein und wir distanzieren uns in dem Sinne nicht sondern werden distanziert durch den abgespaltenen Teil der in unserem Körper “eingefroren” ist. In Form von Achtsamkeit meiner Meinung nach auch erkennbar. Dieser Teil scheint mir ein Eigenleben zu führen und dieses hat er im traumatischen Erlebnis als Urknall selbst erst bekommen.( Konditionierung)

    • Skeptiker
      gut das Stichwort Konditionierung.
      Bei einem Geburtstag waren auch zwei Polizisten. Als ein Luftballon laut platzte gingen bei den beiden Polizisten beide Hände blitzartig, ja ruckartig zur Pistole.
      Mein Gedanke war, “meine Güte, sind die nervös.”

      Dabei kann diese Form der Konditionierung überebenswichtig sein.
      Unser Verhalten ist also von den Erfahrungen geprägt, die wir gemacht haben.
      Und das ist notwendig und natürlich. Und so denke ich, ist es nur die Stärke dieser Konditionierung die darüber entscheidet, ob unser Verhalten als normal angesehen wird oder nicht.
      Wo jetzt die Grenze zwischen Konditionierung und Dissoziierung liegt, das weiß ich nicht.

  6. Eine psychische Störung ist meist Gesundheit in Überdosen, und eine Störung nur dann, wenn sie stört. Die leider seltenen Momente, wo ich vergesse, wer ich bin und wo ich bin, empfinde ich als recht angenehm, sie sind im Grunde der einzige Urlaub, den ich habe, sonst muss ich mich ja überall mitschleppen. Das permanente Gefühl, die Welt durch eine Glasscheibe zu sehen, aus einer Raumstation im Orbit zu beobachten, hält mich zwar von ihr fern, lässt mich aber das Leben und mich selbst besser ertragen.

    Und in seinen eigenen Gedanken zu leben, ist auch nicht das Schlimmste, da sind die gleichen Archetypen drin wie in Ihrem, Fantasiefiguren werden aus den gleichen Rohmaterialien gebastelt, wie echte Menschen – natürlich sind sie weniger vielfältig, da sie alle dasselbe Hirn benutzen müssen, dafür aber reiner, näher am genetisch programmierten Original, also dem, was Sie auch an einem echten Menschen anzieht, der Inhalt, der die vom Leben spontan zusammengeschusterte Fleischpuppe erst interessant macht, aber schnell langweilig wird, wenn Sie ihn ohne die Fleischpuppe ertragen müssen. Und Sie können ihre Gedanken lesen und Gefühle empfinden, so lernen Sie viele Leute, die auch in der Realität rumwieseln, in den Grundzügen kennen. Die SIMS sind wie Romanfiguren – ersetzen kein echtes Leben, aber es erträglich. Schätze mal, Dissoziation plus Talent ergibt Buchautor. Leider sind die Leute in meinem Kopf seit ein paar Jahren alle weg, vielleicht habe ich den Fehler gemacht, sie doch in mein Ich zu integrieren. Wie langweilig. Oder sie hatten auch genug von mir und haben sich zu Staub dissoziiert. Nur ich muss noch hier hocken und auf den Körper aufpassen, bis das Licht ausgeht, wie ein Gott, der von Teufeln gefangen wurde, weil sie eine Bewusstseins-Quelle als Kraftwerk brauchen, um ihre Hölle zu betreiben.

    Was nervt, sind das geschredderte Gedächtnis und die strategisch platzierte Bösartigkeit der Gedankenflucht. Sie passiert gezielt in dem Moment, wo ich die Kaffeemaschine anmache, sodass dann eventuell kein Wasser drin ist, oder wenn ich das Haus verlasse, sodass ich das Telefon vergesse – Verstand und Wahrnehmung werden gezielt lahmgelegt, damit die Hände was falsch machen können. Die Logik ist, ich hasse mich selbst und tue mir weh aus Rache dafür, dass ich mich selbst hasse und mir ständig weh tue. Wie die meisten Dämonen, die uns das Leben zur Hölle machen, ist es bloß eine simple, elektrische Schaltung, damit zu diskutieren hat so viel Sinn, wie auf eine Steckdose einzureden. Und wenn Ihre Gefühle von solch sturem Schwachsinn dominiert werden, wollen Sie mit sich selbst nichts mehr zu tun haben.

    So ist Dissoziation in meinem Falle so was wie der Nahostkonflikt – wenn sich zwei Asis fetzen, gehen die Friedliebenden raus. Dann schmeißen allerdings die beiden die Show ganz alleine, und schaffen es trotzdem immer wieder, die Friedliebenden in ihren Bullshit reinzuziehen. Im Hirn weiß ich, dass das die Höllentür ist – ich kämpfe ständig gegen den Dämon auf der anderen Seite, der mich nicht rauslässt, der durchzukommen versucht, aber auf beiden Seiten der Tür stehe ich selber, der Dämon bin ich. Vielleicht ist es ein Krieg der Hirnhälften, die auf Polarisierung statt Verschmelzung setzen, vergleiche Epilepsie, wo die interne Kommunikation auch eher so Bibi-Hamas abläuft. Also bin ich in den Orbit abgehauen, ins Flüchtlingslager Stirnlappen emigriert und beobachte mein Hirn durch ein Fernrohr. Und weil ich die Welt nur als virtuelles Abbild sehen kann, das auf dem Bildschirm meines Hirns erscheint, erlebe ich auch sie bloß durch ein Fernrohr.

    Was sich allerdings eher empfiehlt, wäre eine Flucht in die Realität – wenn Sie es doch schaffen, sich durch die Glasscheibe durch emotional mit der Welt zu vernetzen, sind Sie Teil eines größeren Hirns, in dem mehr Gedanken und Gefühle eine Rolle spielen, da sind die allmächtigen Asis in Ihrem Hirn plötzlich ganz klein. Und mithilfe von Außen haben Sie auch mehr brutale Gewalt auf Ihrer Seite, die es schafft, sie zu unterdrücken, zu versklaven und vielleicht sogar zu brechen. Das nennt man dann, je nach Kontext, Nervenzusammenbruch oder Therapiedurchbruch. Die Dissoziation schützt beide, den Besessenen vor den Dämonen, und die Dämonen vor dem Exorzismus. Sind Kompromisse nicht was Schönes.

    • @Paul S.: “… Hirns, in dem mehr Gedanken und Gefühle eine Rolle spielen …”

      Gefühle, wenn es denn das richtige Wort ist, sind es nicht, sondern ein “Gefühl” – Gedanken ist wahrscheinlich auch das falsche Wort, bei all der “Erleuchtung”.😇

  7. In früheren Zeiten war das Leben wesentlich schwerer und traumatischer. Es war als Kind normal den Tod von Geschwistern zu erleben und als Eltern den Tod mehrerer Kinder, bevor diese das Erwachsenenalter erreicht haben. Hunger, Elend und Krieg war nicht nur aus Erzählungen bekannt.

    Trotzdem scheinen psychische Störungen gerade in unserer heutigen Wohlstandgesellschaft mit deren first-world Problemen zuzunehmen. Traumatisierungen als alleinige Ursache scheint mir etwas kurz gegriffen. Das passt aber zum Trend, sich als Opfer der Umstände oder der Gesellschaft zu stilisieren.

    • Die Prävalenz psychischer Störungen ist relativ konstant geblieben, sie nehmen tendenziell nicht zu. Während es stimmt, dass sich die Art der Stressoren sicherlich verändert hat, bedeutet es nicht, dass diese weniger schädlich sind, man kann Traumatisierungen oder Leid nicht gegeneinander aufwiegen. Was sich verändert hat, ist die Akzeptanz psychischer Störungen und das Hilfesuchverhalten. Psychotherapie wird zunehmend als legitime Behandlung akzeptiert und Betroffene trauen sich trotz anhaltender Stigmatisierung Hilfe zu holen. Während Leid früher normalisiert wurde, was sich bis heute in vielen Familien transgenerational zeigt, wissen wir mittlerweile, dass es nicht notwendig ist, sich “zusammenzureißen” und dass psychische Störungen erst zu nehmen sind und nicht nur First-World Probleme abbilden. Sie entstehen nicht alleine durch Traumatisierung, sie entstehen durch bestehende Anfälligkeiten (durchaus auch transgenerational weitergegeben), anhaltende Belastungen und akuten Stress, der das metaphorische Fass zum Überlaufen bringt (Siehe Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Psychisch erkrankte Menschen sind keine Opfer und sie zeigen sich auch meiner Erfahrung nach nicht in der Opferrolle. Die Meisten würden gerne auf diese Belastung verzichten, wenn sie könnten.

      • Dann fragen Sie mal bei den Krankenkassen nach, ob psychische Krankheiten zunehmen.

        “Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen hat laut Zahlen der Krankenkasse KKH im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Die Kasse registrierte bundesweit rund 57.500 Krankschreibungen mit 2,3 Millionen Fehltagen wegen seelischer Leiden. Im Vergleich zu 2021 ist das ein Plus von rund 16 Prozent. “

        • In der Prävalenzforschung wird zwischen allgemeiner Prävalenz (wie häufig tritt die Störung in der Gesellschaft auf) und der administrativen Prävalenz entschieden (dem Anteil der Menschen, die im Gesundheitssystem vorstellig werden). Von letzterem lässt sich nicht auf die allgemeine Prävalenz schließen. Es stimmt, dass die administrative Prävalenz psychischer Störungen und die Krankmeldungen deutlich zugenommen haben . Das liegt allerdings nicht daran, dass z.B. Depressionen zugenommen hätten, sondern dass Menschen mittlerweile lieber Hilfe in Anspruch nehmen (z.B. aufgrund geringerer Stigmatisierung). Dass darauf Arbeitsunfähigkeit oder Klinikaufenthalte resultieren, sagt nichts weniger die Menschen selbst aus, als vielleicht über die Arbeitsbedingungen oder die Veränderungen der Gesellschaft. Laut einer Studie aus 2014 ist die steigende administrative Prävalenz übrigens am höchsten für Menschen ab 60 und nimmt mit Zunahme des Alters weiter steil zu. Es sind also genau die Menschen, die die von ihren als “schwerer und traumatischer” beschriebenen Zeiten miterlebt haben und wahrscheinlich aufgrund der Akzeptanz und Versorgungslage nie professionelle Hilfe bekommen haben, die heute am häufigsten Hilfe brauchen. Junge Menschen (die Minderheit in den Krankenkassen Berichten), die sich frühzeitig in Therapie begeben, gerne auch ohne dass die schlimmsten Traumatisierungen durchlebt wurden, wirken damit einem Trend entgegen, der bisher der eigenen Gesundheit, der Gesundheit der folgenden Generationen und auch der finanziellen Belastung des Gesundheitssystems geschadet hat. Es gilt, präventive Arbeit zu verstärken, mehr ambulante Psychotherapieplätze zu schaffen und die Stigmatisierung von Psychotherapie weiter abzubauen – das würde an erster Stelle den Menschen, aber auch der Gesellschaft, der Ökonomie und dem Gesundheitssystem zugleich helfen.

        • Und wie wundervoll, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen auch mit ihren psychischen Belastungen zu einem Arzt gehen und sich eine Auszeit von der Arbeit nehmen können, anstatt sich durch Überarbeitung zunehmend zu instabilisieren. Ist ja mit der Grippe nichts anderes, die wird auch nicht besser davon dass ich zur Arbeit gehe. Ich finde toll dass bei gleicher Prävalenz mehr Krankschreibungen ausgestellt werden – ein Schritt zur Entstigmatisierung!

      • Ja, psychische Störungen waren auch früher schon häufig, nur hat man sie nicht so wahrgenommen und sie anders interpretiert. Auch heute gilt das noch wenn wir entwickelte, wohlhabende Länder mit Entwicklungsländern vergleichen. Hier im Westen etwa nehmen viele an in Afghanistan gebe es wenig psychische Störungen, vor allem im Vergleich zum Westen. Doch viele Zeichen und statistische Daten sprechen gegen diese Sicht. Auf einer Seite von Amnesty International etwa liest man dazu:

        Aus einem Bericht der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass damals rund 3.000 Afghan*innen jedes Jahr versuchten, sich selbst zu töten. Weltweit betrachtet begehen mehr Männer als Frauen Suizid. In Afghanistan jedoch werden schätzungsweise 80 Prozent der Suizidversuche von Frauen un­ternommen. Die Dunkelziffer ist hoch, denn in den religiös geprägten ländlichen Gebieten werden Suizidversuche verschwiegen – psychische Erkrankungen und deren Folgen sind stigmatisiert und gelten als unislamisch.

        Das wäre also ein Land ohne westliche Psychiatrie und Psychologie wo allenfalls Menschenrechtsorganisationen etwas über die Lage der Menschen dort berichten.

        Ähnliches gilt aber auch für unsere eigene Vergangenheit. Auch früher schon gab es sehr viele depressiv Erkrankte, nur keine Psychologen und Psychiater, die sich dieser Erkrankten angenommen haben. Der Artikel Study: Half of All Presidents Suffered From Mental Illness zeigt, wie häufig psychische Erkrankungen selbst unter US-Präsidenten waren. Dort liest man:

        Laut einer Studie von Jonathan Davidson vom Duke University Medical Center und Kollegen, die biografische Quellen für die ersten 37 Präsidenten (1776-1974) überprüften, war die Hälfte dieser Männer von psychischen Erkrankungen betroffen – und 27% erfüllten diese Kriterien während ihrer Amtszeiten, was ihre Fähigkeit, ihre Arbeit zu erfüllen, eindeutig hätte beeinträchtigen können.

        Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, dass 24% Prozent der Präsidenten die diagnostischen Kriterien für Depressionen erfüllten, darunter James Madison, John Quincy Adams, Franklin Pierce, Abraham Lincoln und Calvin Coolidge. (Die Depression schien sich für die Gruppe vor etwa einem Jahrhundert zu beruhigen, zufällig um die Zeit, als Strom und Sanitäranlagen die Nation fegten. Ich sage nicht, dass die beiden miteinander verbunden sind, aber ich habe meinen Verdacht.)

        Davidson und sein Team fanden auch Beweise für Angststörungen, die von sozialer Phobie bis hin zu generalisierter Angststörung reichen, unter 8% der Präsidenten, darunter Thomas Jefferson, Ulysses S. Grant, Coolidge und Woodrow Wilson.

        Im Ernst, das Team kam zu dem Schluss, dass 8% der Präsidenten Anzeichen einer bipolaren Störung hatten, darunter Lyndon Johnson und Theodore Roosevelt. Tatsächlich riecht Theodore Roosevelts Entscheidung, auf eine zweijährige Expedition in unerforschte Gebiete des Amazonas zu gehen, nach manischem Denken. (Nur 16 der 19 Expeditionsmitglieder überlebten die Tortur.)

        Fazit: Historische Studien und Insiderberichte aus Entwicklungsländern unterstützen ihre obige Aussage Die Prävalenz psychischer Störungen ist relativ konstant geblieben, sie nehmen tendenziell nicht zu.

  8. “Laut einer Studie aus 2014 ist die steigende administrative Prävalenz übrigens am höchsten für Menschen ab 60 und nimmt mit Zunahme des Alters weiter steil zu. Es sind also genau die Menschen, die die von ihren als “schwerer und traumatischer” beschriebenen Zeiten miterlebt haben…”

    @Leah Antes – Die Menschen “ab 60” sind Kriegsenkel, keine Kriegskinder.

    Was aber ihre Aussage eher bestätigt – auch ohne den zweiten Weltkrieg, bzw. die Nazizeit selbst erlebt zu haben, bekam man eine Prägung, die auf den Annahmen der Eltern, bzw. der damaligen Zeit beruhte.
    Bei solchen Prägungen geht es ja nicht um bewusste Inhalte, sondern um das “Überleben in der Gruppe”; darum, nicht aufzufallen.

    @Peter Müller – “Das passt aber zum Trend, sich als Opfer der Umstände oder der Gesellschaft zu stilisieren.”

    Man ist nicht krank, weil man sich Hilfe holt; man holt sich Hilfe, um Verantwortung für sich zu übernehmen.

    Und diese Verantwortung für sich und das eigene Leben konnte man früher eben nicht im gleichen Maße übernehmen, da ging es ums nackte Überleben – wie sie richtig bemerken.
    Aber versuchen sie doch mal, es im Kontext “selbstverschuldeter Unmündigkeit” zu sehen, statt hier Opferbashing zu betreiben.
    ————————
    @Leah Anthes – Danke für den Text und das Einsortieren unter Aufmerksamkeit (“Generell bewegen sich Dissoziationen auf einem Kontinuum von alltäglichen, ganz normalen Erscheinungen bis hin zu schwer einschränkenden Störungen”), bzw. den Hinweis auf die Inselrinde (“der Umschaltung unserer Aufmerksamkeit von innen nach außen”).
    Kennen sie Sensorische Integration und den “Wahrnehmungsbaum” (von Jean Ayres https://www.ergotherapie-rahmann.de/index.php/kinder/26-wahrnehmungsb)?
    Das macht den Teil, wo es uns alle betrifft noch etwas plastischer.

    • Danke für die Anmerkung! Die Prävalenz war zum gemessenen Zeitraum steigend, umfasste also z.B. auch Menschen im Alter von 85+, die durchaus Kriegskinder waren und darunter litten. Tragödien, die eine ganze Generation betreffen, haben noch so lange Auswirkungen auf die Kinder und Enkel usw. Deswegen finde ich es auch als angehende Psychotherapeutin schön zu wissen, dass sich immer mehr Menschen Hilfe holen und das Stigma langsam abgebaut wird… Wenn wir jetzt noch genug Therapieplätze hätten, wäre das noch erfreulicher. Liebe Grüße

  9. Resilienz gegenüber Abgleiten in psychische Störung?
    Heute weiss praktisch jeder was eine Depression, eine Manie, was Narzissmus oder was eben eine Depersonalisations-/Derealisationsstörung ist. Doch geändert hat das an der Erkrankungshäufigkeit wenig bis nichts. Die Menschen haben also nicht gelernt, Situationen und psychoziale Umgebungen zu erkennen und zu vermeiden, die für ihre psychische Gesundheit nicht gut sind.
    Es scheint resilientere und weniger resiliente Menschen zu geben, allerdings mehr von der Veranlagung her, nicht dass sie das gelernt hätten. Falls man aber Resilienz lernen kann, so wäre es für sehr viele sinnvoll, sich das zugehörige Wissen und Verhalten anzueignen.
    Im Artikel Resilience: A psychobiological construct for psychiatric disorders bin ich auf folgende Aussagen zur psychischen Resilienz gestossen:

    Resilienz ist ein psychobiologischer Faktor, der die Reaktion des Einzelnen auf unerwünschte Lebensereignisse bestimmt. Resilienz ist eine menschliche Fähigkeit, sich schnell und erfolgreich an stressige/traumatische Ereignisse anzupassen und in einen positiven Zustand zurückzukehren. Es ist grundlegend für das Wachstum der positiven Psychologie, die sich mit Zufriedenheit, Anpassungsfähigkeit, Zufriedenheit und Optimismus im Leben der Menschen befasst. In letzter Zeit hat es einen Paradigmenwechsel im Verständnis der Resilienz im Kontext der Stressrisiko-Verwundbarkeitsdimension gegeben. Es ist ein neurobiologisches Konstrukt mit signifikanten neuroverhaltensbezogenen und emotionalen Merkmalen, das eine wichtige Rolle bei der Dekonstruktion des biopsychosozialen Modells psychischer Störungen spielt. Resilienz ist ein Schutzfaktor gegen die Entwicklung psychischer Störungen und ein Risikofaktor für eine Reihe von klinischen Erkrankungen, z.B. Selbstmord. Verfügbare Informationen aus wissenschaftlichen Studien deuten darauf hin, dass Resilienz ein veränderbarer Faktor ist, der Möglichkeiten für eine Reihe neuerer psychosozialer und biologischer Therapien eröffnet.

    • Martin Holzherr
      Die Menschen werden älter als früher. Das kann man auch seiner Fähigkeit sich anzupassen zuschreiben.
      Wollen die Menschen älter werden, ich denke schon.

      Nehmen die psychischen Störungen zu ? Frau Anthes verneint das.
      Was zunimmt sind die Menschen, die sich behandeln lassen. Und wenn es mal hipp wird einen Tick zu haben, dann werden die Psychotherapeuthen Zulauf bekommen.
      Es ist natürlich auch eine Frage der Bezahlbarkeit.
      Mit “Ich bin nicht da” wird das Problem gut umschrieben.
      Hape Kerkeling hat darauf geantwortet mit “Ich bin dann mal weg”.
      Man sollte dieses Buch gelesen haben und nicht die Kirche ausklammern, wie Frau Anthes das gerade tut.

      • Nimmt man sich mal einen Moment Zeit, um sich in die Lebensrealität von Menschen mit einer solchen Erkrankung hineinzuversetzen, müsste schnell klar werden, mit welcher Einschränkung diese belastet sind. Stellen Sie sich unzählige schlaflose Nächte vor, Tage an denen Sie Ihr Haus nicht verlassen können, stellen Sie sich vor, Sie können ihr Auto nicht mehr selbstständig fahren, stellen Sie sich vor, Sie können nicht arbeiten gehen oder tiefere zwischenmenschliche Kontakte führen. Stellen Sie sich vor, aufgrund einer Einschränkung, die Sie sich nicht selbst zuzuschreiben haben, ihr Leben lang schlechtere Lebensumstände zu haben.

        Oft ist das Letzte, was Betroffene wollen, als Opfer gesehen zu werden, da dies keinen einzelnen Vorteil mit sich bringt, im Gegenteil, es bringt Einsamkeit, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, Unverständis von anderen, im schlimmsten Fall wird man diskriminiert oder gerät an Menschen, die die Erkrankung ausnutzen und erneut Grenzen überschreiten.

        Dass Menschen an psychischen Erkrankungen/Störungen leiden, vorallem, dass so viele Menschen dies am eigenen Leib erfahren, ist kein Trend, sondern war schon immer so.
        Falls es ein Trend wäre, dass Menschen Tabus brechen und über Themen wie Missbrauch und daraus folgende Erkrankungen sprechen, ist dies bei mir eindeutig willkommener als dysfunktionale Verhaltensmuster von Genertion zu Generation weiter zu geben und dass Menschen sich suizidieren, weil sie von der Hilflosigkeit überrannt werden.
        Es wäre erfreulich wenn es ‘hipp” wird, ”einen Tick zu haben”, in dem Sinne, dass wir mehr Aufklärung über das Thema erreichen, mehr Therapieplätze und ein besser aufgestelltes Gesundheitssystem hätten, die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen gemindert würde und somit mehr Menschen besser geholfen werden kann.
        Hape Kerkelings Buch ”Ich bin dann mal weg” gibt sicherlich interessante Einblicke, jedoch würde ich tatsächlich davon abraten, es als Ansatz einer Antwort auf einer der vielen Fragen, die das spannende Thema ”Dissoziation” beeinhaltet, zu interpretieren.
        Moralische Leitsätze wie: ”Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst” sowie Prinzipien wie Vergebung und Sünde etc. können auf jeden Fall eine sehr wohltuende Stütze in Zeiten der Orienterungslosigkeit sein.
        Jedoch wiegt der Machtmissbrauch vieler kirchlicher Instutitionen, die als Ort der Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft und Vertrauen fungieren sollten, leider inwischen so schwer, dass die Kirche immer mehr an Bedeutung für die Gesellschaft verliert und sich selbst vernichtet. Als Folge daraus wenden sich immer mehr Menschen der Kirche ab und praktizieren ihren Glauben für sich.
        Therapie gibt Menschen die Möglichkeit, zu lernen, wie sie sich selbst helfen, anstelle den Frust und den Balast an andere abzugeben.

        Liebe Grüße, Thomas

  10. @Martin Holzherr – “Resilienz”

    Was ist “gesünder” – es in einer kranken/kränkenden Umgebung auszuhalten oder es nicht auszuhalten?

    Ist es gesünder, das dysfunktionale Verhalten anderer ignorieren/tolerieren zu können – oder ist es vielleicht doch eher gesund, dass man es nicht aushält, es nicht will?

    Es gibt Situationen, wo es wichtig ist, Resilienz zu besitzen – aber was ist mit Kindern, die traumatisiert werden, wo sollen die diese “Resilienz” her haben?
    Die haben Vertrauen – und wenn das missbraucht wird, wirkt sich das negativ auf deren potentielle Resilienz (als Erwachsene) aus.

    Resilienz ist so etwas wie “ein dickes Fell haben” – es ist ein Schutz.
    Aber ein Schutz schützt; er dient weder der Verteidigung und schon gar nicht dem Angriff auf einen Aggressor.

    Resilienz kann einem helfen, nach einem Angriff, einer Niederlage wieder auf die Beine zu kommen.
    Aber sie schützt nicht vor dem potentiellen Angriff.

    Die Menschen haben also nicht gelernt, Situationen und psychoziale Umgebungen zu erkennen und zu vermeiden, die für ihre psychische Gesundheit nicht gut sind.

    In meinen Augen ginge es weniger um den individuellen Schutz, sondern um einen zivilisierten/menschlichen Umgang aller miteinander.

    • @Viktualia(Zitat):“In meinen Augen ginge es weniger um den individuellen Schutz, sondern um einen zivilisierten/menschlichen Umgang aller miteinander.“
      Beides gehört doch zusammen, denn wenn Individuen erkennen würden, was ihnen psychisch nicht gut tut, dann könnte sich auch etwas wie eine „psychische“ Ergonomie am Arbeitsplatz ausbilden. Es könnten also Leitlinien erarbeitet werden wie die Arbeitsumgebung beschaffen sein muss, so dass es weniger psychische Erkrankungen gibt. Doch scheinbar fehlt das Wissen und auch das Empfinden dafür, was etwa eine Arbeitsumgebung gefährlich macht in Bezug auf die psychische Gesundheit.

      • Die Arbeits- und Organisationspsychologie sowie die Sozialpsychologie wissen und kommunizieren auch ganz genau wie supportive Arbeitsbedingungen aussehen sollten. In der Wirtschaft richten sich leider nur die wenigstens Arbeitsgeber danach weil der vermeidliche Profit im Vordergrund steht. Dabei würden sich angepasste Arbeitsbedingungen und ein gesundes Betriebsklima langfristig deutlich besser auf die Situation der Konzerne auswirken (weniger Krankmeldungen, produktiveres Arbeiten, Profitsteigerung bei gleichzeitiger besserer Gesundheit der Mitarbeitenden). Gesellschaftlich ist hier noch viel zu tun und das liegt keineswegs an der Forschung in dem Bereich.

  11. Ich bin erstaunt von den Diskussionen unter diesem Beitrag und manche der Aussagen sind fast erschreckend. Manchmal vergesse ich, dass nicht jeder Ort so akzeptierend und wohlwollend ist, wie mein Umfeld.

    Machen wir ein paar Späße, um “Disso-Opfern” zu helfen. Zweifeln wir ihre Lebensrealität an. Oder einzelne Symptome. Sprechen wir davon, dass sie nicht stark genug sind, um mit Dingen umzugehen – super, wirklich. Tolle Einstellungen.

    Ich bin schockiert.

    Und unter anderem bin ich schockiert, weil ich davon ausgehe, dass wir uns hier mit interessierten und gebildeten Menschen unterhalten – eine Subgruppe der ich gerne unterstelle, weniger Vorurteile zu haben oder diese zumindest kritisch zu hinterfragen und aufzuarbeiten.

    Mit persönlichen Anekdoten zu kommen ist immer fragwürdig, aber in so einem persönlichen Thema fällt es mir schwer, das nicht zu tun – also der Disclaimer an dieser Stelle: ich kann die beschriebenen Themen aus dem Beitrag sehr gut nachempfinden. Und die Unterstellung, dass Menschen mit dissoziativen Symptomen einfach nicht mit erste-Welt-Problemen klarkommen finde ich so unglaublich, weil alleine über meine Situation X nachzudenken mich so viel Trauer und Ekel und Wut empfinden lässt.

    Und als Psychologin an der Stelle auch ganz explizit: über etwas Bescheid zu wissen reicht eben nicht. Ich hatte mein Wissen über Traumata und Störungsbilder und Resilienz. Das ist nicht genug. Die Unterstellung “wir wissen ja jetzt alle was das für Störungen gibt also müsste es uns besser gehen” ist so krass ungerechtfertigt. Was wir brauchen ist zusätzlich zu aktuellen Angeboten grade bzgl Trauma akute Nachbetreuung. Das Debriefing ist bei Naturkatastrophen schon relativ etabliert – wenn wir einen Raum schaffen würden, in dem Kinder sicher genug sind um sich Menschen anzuvertrauen, in dem Jugendliche sich öffnen können, in dem nach Gewalt egal welcher Form eine Anlaufstelle existiert, die einen weitervermitteln kann, dann ist das das hilfreich. Aber wenn Anlaufstellen kalt sind oder einen stigmatisieren, die Glaubwürdigkeit in Frage stellen, die in so krassem Zeitdruck sind dass sie einen nicht unterstützen kommen, dann ist das ein Problem.

    Ich sage nicht, dass mit einer solchen Unterstützung niemand dissoziative Symptome entwickelt. Ich bin trotzdem der Meinung dass in solchen Umfeldern ein Trauma besser abgefangen werden kann. Und schnelle Hilfe ist so wertvoll.

    Natürlich weiß ich, dass hier genügend Leute sind, die nicht solche negativen und abwertenden Meinungen zu dem Thema haben. Die Hemmschwelle, im Internet zu schreiben, ist natürlich von neutral bis leicht positiv gestimmten Menschen anders als von Menschen mit einer extremen Ansicht.

    Aber einfach falls noch jemand von Menschen liest, die über meinen Kommentar vielleicht nur lachen können: Macht bitte irgendwas besser. Ich weiß nicht was, aber ihr habt echt zu tun. Oder einfach Mal nicht seinen Senf dazu geben wenn man nicht bereit ist, respektvoll zu kommunizieren. Wenn ich mir die Frage stelle “Könnte etwas, das ich sage, beleidigend oder verletztend für Betroffene sein”, und mit “ja” antworte, dann kann ich es halt auch einfach lassen.

    • Lea Karoza,
      mit diesem Satz habe ich Sie schockiert: “Spaß beiseite, ich könnte mir aber vorstellen, dass Spaß einem Disso-Opfer hilft.”
      Erst jetzt ist mir bewusst geworden, wie gefühlsarm dieser Satz auf Menschen wirken muss, die beruflich mit Kranken zu tun haben.
      Entschuldigung !

      “Oder einfach Mal nicht seinen Senf dazu geben wenn man nicht bereit ist, respektvoll zu kommunizieren.”
      Ich werde mich jetzt daran halten. Danke für die klaren Worte.

  12. @Martin Holzherr – “denn wenn Individuen erkennen würden, was ihnen psychisch nicht gut tut, dann könnte sich auch etwas wie eine „psychische“ Ergonomie am Arbeitsplatz ausbilden.”
    (Lea Anthes – Danke für die sachliche Richtigstellung, ich hab echt “Puls gekriegt”-)
    Da sind diverse Zwischenstufen zu erledigen – die Individuen, die letztlich von “psychischer Ergonomie” profitieren würden sind nicht die Gleichen, deren Problematik in einer Klinik validiert wird und (wegen des volkswirtschaftlichen Schadens – so ganz langsam über Jahrzehnte hinweg) zu einem Umdenken der Arbeitgeber/Vorgesetzten führt.
    Dazwischen liegt ein unglaublich langer Weg.

    (Außerdem ist das ja auch eine grundsätzliche Frage der Psychiatrie: ob es darum geht, dass das Individuum “funktioniert” (berentet wird oder nicht) oder ob es glücklich sein soll/darf.)

    “Zusammen gehört”, dass wir nicht nur soziale Wesen, sondern auch Säugetiere sind, alle Miteinander.
    Und daraus folgt, dass, wenn wir bemerken, dass uns etwas “psychisch nicht gut tut”, wir normalerweise unsere Resilienz einschalten – so lange es eben geht.
    (Die, die sofort den Klassenkampf ausrufen, sind zum einen dünn gesät, zum anderen bekommen sie dafür gewöhnlich nicht nur Zuspruch, sondern Gegenwind.)

    Darum habe ich ja versucht zu erläutern, dass Resilienz nur “dickes Fell” bedeutet; zwar bei den Folgen schützen,. aber nicht die Ursachen beseitigen kann.

    (No front, Martin Holzherr, der Gedanke an sich ist o.k..
    Ich hab lange in der Psychiatrischen Instituts-Ambulanz gearbeitet und den Kunden genau das gesagt: “Sie tun hier was für die ganze Gesellschaft. Wir müssen alle lernen, worauf zu achten ist, um gesund bleiben zu können. Und sie tragen hier wichtige Informationen bei”.
    Ich hab ihnen nur nicht versprochen, dass sie davon unmittelbar profitieren würden. Sondern versucht, ihnen ein “dickes Fell” gegen die Stigmatisierung zu verschaffen.)

    @Lea Karoza – Zustimmung auf ganzer Linie!
    “Ich hatte mein Wissen über Traumata und Störungsbilder und Resilienz. Das ist nicht genug. “
    Auch das unterschreibe ich.

    “Heilung” funktioniert nur, wenn sie echt ist. Sprich, es geht nicht nur darum, etwas abstrakt zu wissen, man muss es auch dann anwenden können, wenn man es wirklich braucht. Dann, wenn man vor lauter Verzweiflung eigentlich an gar nichts mehr glauben kann, schon gar nicht an sich selber.
    Dann braucht es Vertrauen, also sozusagen die Basis der “Resilienz”.

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