Falsche Erinnerungen: Wie verlässlich ist unser Gedächtnis?

Wie gut erinnerst Du Dich an gestern? Was ist mit letzter Woche, an diesen einen wichtigen Moment in den letzten Jahren? Was ist mit wichtigen Momenten, wie gut erinnerst Du Dich an den Moment, an den der Covid-Lockdown 2020 verkündigt wurde? Oder einen Schritt weiter: Wo warst Du, als Du von 9/11 erfahren hast? Woher erreichte Dich die Info, wo warst Du, wer war dabei? Und wie sicher bist Du Dir darüber? Wie verlässlich ist unser Gedächtnis wirklich?

Verloren im Einkaufszentrum

Chris ist 14 Jahre alt, als er von einer Forscherin eingeladen wurde, um über seine Kindheit zu reden. Seine Mutter und sein älterer Bruder Jim erzählen ihn drei Dinge, die in seiner Kindheit geschehen waren, und er bekommt den Auftrag, für fünf Tage über diese Erinnerungen zu schreiben, sie so genau wie möglich zu beschreiben und dann einzuschätzen, wie gut seine Erinnerung an dieses Erlebnis sei. Chris konnte sich über die Zeitspanne der fünf Tage zunehmend gut an das Geschehene erinnern, beschrieb immer mehr Details. Am zweitbesten erinnerte er sich daran, dass er mit fünf Jahren in einem Einkaufszentrum verloren gegangen sei. Er erinnerte sich an den Laden, in dem er war, als er bemerkte, dass seine Mutter nicht mehr bei ihm war, an seine Gedanken und an den „wirklich coolen“ Mann, der ihm geholfen und ihn beruhigt hatte (er trug ein blaues Flanell-Hemd, war alt, hatte eine Glatze und trug eine Brille) und daran, wie ihn seine Mutter im Nachhinein getadelt hatte. Das Spannende: Chris ging nie in einem Einkaufszentrum verloren. Nur zwei der drei Geschichten, die ihm sein Bruder erzählt hatte, stimmten und diese Geschichte war ausgedacht. Chris kann es kaum glauben, so genau sind seine Erinnerungen und so echt fühlen sie sich an.

Chris ist kein Einzelfall. Elisabeth Loftus, eine der leitenden Forscherinnen im Bereich Gedächtnis, führte dieses Experiment mit weiteren Menschen durch und ein Viertel konnte sich daran erinnern, in einem Einkaufszentrum verloren gegangen zu sein, obwohl dies nie passiert war.

Was sind falsche Erinnerungen?

In einer weiteren Studie zeigen Forschende ihren Teilnehmenden ein Bild von einer Heißluftballonfahrt, in denen sich die Teilnehmenden selbst mit einem Verwandten sahen. Das Foto war eine Montage, die Heißluftballonfahrt hatte nie stattgefunden. Im Verlauf erinnerten sich 50% der Teilnehmenden an das Ereignis und konnten überzeugt Details und Sinneseindrücke wiedergeben, die grundsätzlich falsch waren.

Diese Phänomene werden unter dem Begriff „Implantierte Erinnerungen“ gesammelt. Sie gehören zu den falschen Erinnerungen. Falsche Erinnerungen sind Erinnerungen, die sich nicht auf ein reales Ereignis zurückführen lassen. Ebenso können auch Verfälschungen vorkommen, in denen eine echte Erinnerung nachträglich geändert wird.

Unser Gedächtnis

Unser Gedächtnis und das Erinnern lassen sich in drei Phasen unterteilen:

  • Speicherung
  • Konsolidierung
  • Wiederabruf

Wenn wir etwas im Moment erleben, gelangt das Erleben unseres Umfelds in einen kurzzeitig lebenden Teil unseres Gedächtnisses. Im sensorischen Gedächtnis werden Sinneseindrücke für eine extrem kurze Zeit gehalten. Bereits hier ist das Gedächtnis nicht allumfassend, wir nehmen nur die Reize auf, denen wir unsere Aufmerksamkeit zugewandt haben. Wenn etwas außerhalb unserer aktuellen Wahrnehmung geschieht oder wir weniger aufpassen, gelangen diese Informationen bereits nicht mehr in unser sensorisches Gedächtnis. Im nächsten Schritt gelangt das Erlebte ins Arbeitsgedächtnis oder ins Kurzzeitgedächtnis. Es wird jedoch auch hier nicht die gesamte Fülle an Reizen und Information weitergegeben, sondern nur das, was unser Gehirn als relevant bewertet. Im Langzeitgedächtnis, dem langfristigen Speicherort unseres Gehirns, wird dieser Prozess wiederholt.

Im Langzeitgedächtnis bleiben Erinnerungen nicht gleich lang und gleich gut bestehen. So können wir zwar wiedergeben, was wir gestern oder vorgestern gefrühstückt haben, aber nicht, was wir Dienstag vor zwei Wochen zum Abendessen hatten. Hätte ich Dir vor zwei Wochen jedoch die Aufgabe gegeben, jeden Tag aufzuschreiben, was Du jenen Dienstag gegessen hast, dann könntest Du dich daran wahrscheinlich noch erinnern. Dieser Prozess heißt Konsolidierung. Durch das wiederholte Abrufen einer expliziten Erinnerung festigt sich diese in unserem Langzeitgedächtnis. Auch dieser Prozess ist fehleranfällig. Wie bei einer stillen Post können sich Details über die Zeit ändern oder wegfallen, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, denn Unwichtiges wird vergessen. Werden wir gefragt, uns zu erinnern, ist das der Wiederabruf. Wir holen die Erinnerungen aus dem Speicher hervor. Aus herausstechenden Details, die besonders gut konsolidiert wurden, wird eine Geschichte zusammengebaut und wiedergegeben.

Diese Geschichte baut jedoch nicht nur auf dem tatsächlich Erlebten auf: Auch Erzählungen anderer, Bilder, Wissen, Filme und nicht zuletzt auch andere Erinnerungen beeinflussen unsere Wiedergabe. Lücken werden so gefüllt, dass wir uns im Hier und Jetzt möglichst gut orientieren können. Erinnerungen sind also nicht wie einzelne Karteikarten in einem Aktenschrank. Sie sind viel eher lose zusammengebundene Reize, die miteinander in Verbindung gebracht werden und diese verschwimmen problemlos und unbemerkt mit anderen Inhalten. Dieser Prozess wird retroaktive Interferenz genannt. Später dazukommendes interagiert mit, stört und ändert die ursprüngliche Erinnerung, ohne dass wir dies bemerken. Das Implantieren und Manipulieren von Erinnerungen klappt besonders gut bei bereits unsicheren Erinnerungen. Wir können uns nicht mehr an alles aus unserer Kindheit erinnern, klar könnte es sein, dass wir mal im Einkaufszentrum verloren gegangen sind. Und feste Aussagen wie „Ihre Mutter hat mir erzählt, dass…“ oder „Wir haben hier ein Bild von…“ reichen bei genügender Unsicherheit, dass unser Gehirn Infos aus allen verfügbaren Quellen zusammensucht und uns eine Erinnerung als wahr präsentiert.

Das Problem falscher Erinnerungen

Als Individuen sind wir von unseren Erinnerungen überzeugt, wir merken nicht, wie fehleranfällig unser Gedächtnis ist. Wir gehen davon aus, dass unser Gedächtnis wie ein Archiv sei- im besten Falle wird alles am richtigen Ort abgespeichert und kann, wenn nötig, wieder aus den Schubladen herausgeholt und wiedergeben werden. Die Kapazität unseres Gehirns ist begrenzt, es gestaltet Prozesse so effizient wie möglich. Würden wir uns an jedes Detail unserer Umgebung jederzeit gleich gut erinnern können, wären wir von der Informationsflut schnell überfordert. Dieser Prozess ist in der Regel also unproblematisch und wir alle unterliegen ihm. Schwierig wird es jedoch z.B. in Bereichen von Recht und Zeugenaussagen. Straftaten passieren oft unerwartet und unsere Aufmerksamkeit ist nicht von Anfang an darauf eingestellt, möglichst viele Informationen zu behalten, was in Zeugenaussagen jedoch verlangt wird. Bereits das Formulieren von Fragen kann beeinflussen, welche Inhalte wir wiedergeben. So wird die Frage „Haben Sie das rote Auto gesehen?“ viel häufiger mit „Ja“ beantwortet als die Frage „Haben sie ein rotes Auto gesehen?“ oder die Frage „War da ein Auto?“. Die erste Frage suggeriert, dass das rote Auto eine relevante Information darstellt und so bilden wir uns wahrscheinlicher ein, dieses bestimmt auch gesehen zu haben, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind.

Rechtliche Implikationen

Julia Shaw ging in ihrer Forschung einen Schritt weiter: Ihr gelang es ihren Studienteilnehmenden falsche Erinnerungen an eine Straftat einzupflanzen. In einer Studie unter dem Deckmantel, verschüttete Kindheitserinnerungen aufzudecken, berichtet sie ihren Teilnehmenden zuerst von einer echten Erinnerung und dann von einer falschen Erinnerung, die echte Details beinhaltete. Dafür holte sie sich Informationen von der Familie der Teilnehmenden. Shaw erzählt den Teilnehmenden unter anderem, dass sie mit elf Jahren von einem Jungen auf dem Schulhof geärgert wurden und die Betroffenen irgendwann zugeschlagen hätten und dem Jungen die Nase gebrochen hätten. Danach sei die Polizei zu ihnen nach Hause gekommen. Nach nur drei Sitzungen erinnern sich 70% die Teilnehmenden in überraschenden Details an die Straftat, obwohl sie noch nie in ihrem Leben Kontakt mit der Polizei hatten.

In einzelnen Fällen können falsche Erinnerungen fatale Folgen haben: So sagte eine Zeugin nach Jahren aus, einen bis jetzt ungeklärten Mord beobachtet zu haben, ohne dies je getan zu haben oder Menschen gestehen Morde, die sie nie begangen haben. Stress oder häufige Befragungen können das Entstehen falscher Erinnerungen unabsichtlich fördern.

Es gibt Fälle, in denen sich ganze Gruppen von vermeidlichen Opfern an Missbräuche erinnern, die nie stattfanden. So ist auch in Psychotherapien, die aufdeckend vorgehen oder Traumatisierungen hinter Symptomen vermuten, aufzupassen: All zu leicht werden Erinnerungen eingepflanzt, die sowohl das Leben der vermeidlich Betroffenen als auch der Täterinnen und Täter nachhaltig beeinflussen können.

Fazit

Unser Gedächtnis ist anfällig für Suggestion, Manipulation und funktioniert besonders in Bereichen, die wir schwer erinnern oder auch unter Stress schlechter, als wir es meist glauben. Wir denken immer wieder, dass wir uns besonders an die wichtigen Momente besonders genau erinnern können, doch gerade solche Erinnerungen, die emotional sind, medial stark behandelt werden, Grundlage vieler Gespräche sind oder weltpolitische Relevanz haben, wie z.B. der Covid-Lockdown oder 9/11, sind anfällig für Verfälschungen. Also… wie gut erinnerst Du Dich wirklich?

Quellen

Loftus, E. F. (2003). Our changeable memories: legal and practical implications. Nature Reviews Neuroscience4, 231-234.

Loftus, E. F., & Pickrell, J. E. (1995). The formation of false memories. Psychiatric Annals25(12), 720-725.

Mdr.de. (2023, April 11). Falsche Erinnerungen: Wie uns Unser Kurzzeitgedächtnis Schon nach Sekunden trügen kann. mdr.de. https://www.mdr.de/wissen/gehirn-erinnerung-falsche-wahrnehmung-kurzzeitgedaechtnis-100.html

Shaw, J., & Porter, S. (2015). Constructing rich false memories of committing crime. Psychological Science26(3), 291-301. 

Straube, B. (2012). An overview of the neuro-cognitive processes involved in the encoding, consolidation, and retrieval of true and false memories. Behavioral and Brain Functions8(35).

SWR2. (2020, April 23). Falsche Erinnerungen – Warum Unser Gedächtnis lügt. swr.online. https://www.swr.de/swr2/wissen/falscher-erinnerungen-warum-unser-gedaechtnis-luegt-100.html

Wade, K. A., Garry, M., Read, J. D., & Lindsay, D. S. (2002). A picture is worth a thousand lies: using false photographs to create false childhood memories. Psychon Bull Rev9(3), 597-603.

Wie verläßlich sind Erinnerungen? (1999). Spektrum.de – Nachrichten aus Wissenschaft und Forschung. https://www.spektrum.de/news/wie-verlaesslich-sind-erinnerungen/342016

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Mein Name ist Lea Anthes und ich studiere Klinische Psychologie und Psychotherapie im Master an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ich interessiere mich schon lange für Themen rund um das menschliche Gehirn und konnte mich während meines Bachelorstudiums der Psychologie sowohl umfangreich mit der kognitiven Neurowissenschaft auseinandersetzen als auch praktische Erfahrung im Bereich der klinischen Neuropsychologie sammeln. Gerne teile ich diese Begeisterung mit interessierten Leserinnen und Lesern.

7 Kommentare

  1. Die Implantation von falschen Erinnerungen kommt auch im Film „Blade Runner“ (2019) vor. Dort glaubt die Replikantin [Menschenkopie mit begrenzter Lebensdauer] Rachael, sie sei die Nichte von Eldon Tyrell. Als sie über ihre Rolle in der Firma Tyrell Corporation befragt wird, geht sie so weit zu sagen, sie sei mehr als eine Angestellte, ja sie sei, sie repräsentiere Tyrell Corporation.
    Klar fällt sie aus allen Wolken als ihr klar gemacht wird, dass sie kein Mensch, sondern eine Replikantin sei.

    Dieser Extremfall zeigt, dass das Implantieren einer falschen Erinnerung sogar die Identität einer Person verfälschen kann: man glaubt man sei jemand anders, als man wirklich ist.

    Dieses Beispiel wirft auch die Frage auf, was die Identität einer Person ausmacht. Die Antwort ist wohl tatsächlich, dass die eigene Erinnerung eine zentrale Rolle beim Aufbau einer Identität spielt.

  2. Aus meiner Sicht ist das Hauptproblem, dass unser Gehirn als Überlebensmaschine evolviert ist und das Gedächtnis daher nicht als geschriebenes Buch oder moderner als beschriebene Festplatte funktioniert. Die Informationen werden in Bezug auf ihre ( vermeintliche ) Wichtigkeit im Hinblick auf das aktuelle und zukünftige Wohlergehen abgespeichert und beim Wiederaufruf mit anderen, zwischenzeitlich abgelegten Informationen unter Bewertung der aktuellen Situation in Bezug auf die Relevanz zur Erhaltung des Lebens bewertet.
    Da niemals sämtliche Umstände beim ursprünglichen Erwerb der Informationen, noch bei den zwischenzeitlichen Umständen und der aktuellen Herausforderung bekannt sind, ist einer Aussage “genauso war’s” immer mit Vorsicht zu begegnen, es kann so gewesen sein, muss es aber nicht.

    • Richtig Karl Maier,
      wenn wir etwas erlebt haben, dann speichern wir nicht nur den Tathergang ab, sondern auch unsere Interpretation (Sinngebung) ab.

      Und ein paar Tage später sehen wir die Tat “in einem anderen Licht”.

      Die Änderung der Fakten ist also Teil eines ErkenntnisFortschrittes.
      Das unterscheidet den Mensch von einer künstlichen Intelligenz.

      Ja , und was realer Fakt ist und was wir hineininterpretiert haben, das zu unterscheiden, das ist die Kunst der Beobachtung. Darin unterscheiden sich die einfachen Charaktere von den scharfsinnigen Beobachtern, die man aus der Kriminalliteratur kennen.

    • Ich bin mir meiner Erinnerungen extrem sicher. Die wo ich mir nicht sicher bin, sind mir auch bewusst.

      Vor Jahren erzählte ich meiner Mutter von einer der kurzen Erinnerungen (Bilder) aus dem Säuglingsalter, die bei ihr eine sehr erschreckte Reaktion und die Frage “wie kannst Du das wissen” auslöste. Die Reaktion wiederum löste bei mir Erstaunen und die Frage aus “hat diese klare Erinnerung einen besonderen Grund”. Ich habe die Frage aber nicht in den Raum gestellt. 🤏😇

      Schon oft habe ich erlebt / beobachtet, dass Leute etwas sagten und behaupteten es wäre von ihnen, wo ich genau wusste woher es wahrhaftig stammt, allerdings verflüchtigt solch …, wie die meisten “Erinnerungen” der … Zeitgenossen, “schade eigentlich”. 👋😇

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