Die “Super-Bowlisierung” der Wissenschaft

Im Herbst 2019 las ich einen Artikel im renommierten Science Magazine, der mich ziemlich irritierte (1). Dort wurde berichtet, dass nach Jahrzehnten zäher, kleinschrittiger Forschung nun ein groß angelegter Wettbewerb endlich klären solle, welche der zahlreichen Bewusstseinstheorien endgültig die Richtige sei. Vor kurzem erschienen die ersten Ergebnisse des Wettbewerbs. Diese sind nun tatsächlich sehr lehrreich – allerdings nicht so, wie die Beteiligten es sich erhofft hatten. Sie bieten vor allem eine gute Gelegenheit für etwas wissenschaftliche Selbstkritik.

Eine simple Idee

Finanziert wurde der 20 Millionen US-Dollar schwere Wettbewerb von der Tempelton World Charity Foundation, nachdem 14 Forscherinnen und Forscher das fünfjährige Vorhaben in einem Workshop konzeptualisierten. Unter diesen waren Anhänger verschiedener Bewusstseinstheorien, die zusammen über Experimente nachdachten, die in Kombination je für und/oder gegen eine der Theorien sprächen. Nachdem die Theoretiker solche Experimente entworfen hatten, sollten diese in sechs verschiedenen, neutralen Laboren in den USA, Deutschland, China und Großbritannien durchgeführt werden.

In einer ersten Runde sollten dabei nur die zwei stärksten Theorien verglichen werden. Das heißt, es gab zwei Kandidaten, die im klaren Gegensatz zueinanderstanden und nun experimentell überprüft werden sollten. Die Idee ähnelt einem Duell zwischen zwei Hürdenläufern, bei dem erwartet wird, dass nach mehreren Hürden der Schwächere an einer bestimmten Hürde scheitern müsste.

Eine Wette zwischen Neurowissenschaft und Philosophie

Das Konzept war so simpel, dass der berühmte Neurowissenschaftler Christof Koch und der nicht weniger berühmte Philosoph David Chalmers den Ausgang einer alten Wette am Ergebnis dieses Wettbewerbs festmachten (2). Sie hatten im Jahr 1998 um eine Kiste Wein gewettet, ob die neuronalen Mechanismen des Bewusstseins bis zum Jahr 2023 wissenschaftlich erklärbar sein würden. Der Hirnforscher wettete optimistisch dafür, der skeptische Philosoph dagegen. Beide gehörten zu den 14 Personen, die den Wettbewerb planten, waren jedoch, wie alle Parteiischen, von der Datengewinnung und -analyse ausgeschlossen.

Information Integration Theory vs. Global Neuronal Workspace Theory

Welche zwei Theorien traten nun gegeneinander an? Die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) besagt, dass Bewusstsein das Ergebnis eines Prozesses sei, bei dem Informationen, z.B. Sinneseindrücke, aber auch eigene Gedanken, von einem allgemeinen ‚Workspace‘ an mehrere nachgeschaltete, spezialisierte Untereinheiten weitergeleitet werden (3). Bewusstsein entsteht dieser Theorie nach in jenem Moment, in dem die Informationen durch einen Selektionsfilter an die nachgeschalteten Spezialeinheiten von Nervenzellen ‚durchgeschoben‘ werden. Vertreter dieser Theorie, wie Stanislas Dehaene, vermuten den globalen Workspace im vordersten Teil des Gehirns, dem präfrontalen Kortex.

Die Information Integration Theory (IIT) ist ihr Gegenspieler (3). Sie besagt, dass Bewusstsein eine Eigenschaft aller hinreichend komplexen, hinreichend integrierten Systeme sei. Es käme lediglich auf die Komplexität des Netzwerks an. Philosophisch wurzelt diese Theorie im Panpsychismus, d.h. der Idee, dass alle Dinge einen Grad von Bewusstsein hätten, vom Stein bis zum Menschen. Tatsächlich sprechen Vertreter der Theorie, z.B. Giulio Tononi davon, dass Maschinen einen sehr geringen Grad von Bewusstsein hätten, da sie einen Reiz-Reaktions-Prozess ausführen können. Auch dem Internet wird in dieser Theorie die Möglichkeit zugesprochen, ein Bewusstsein zu entwickeln. Vermutet wird, dass Netzwerke im hinteren Teil des Gehirns den Zeitpunkt bestimmen, zu dem etwas ins Bewusstsein eintritt.

Abb. 1: Studiendesign für die experimentellen Vergleiche von GNWT und IIT. Das Schema zeigt, wann die Theorien als bestätigt, widerlegt oder “herausgefordert” gelten. Quelle: PLoS One

Die Experimente umfassten die gängigen high-tech Methoden der modernen Neurowissenschaft: Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), Magneto- und Elektroenzephalographie (M/EEG) und sogar intrakranielle Elektroenzephalographie (invasive Elektroden messen direkt am Gehirn von Patienten, die gerade neurochirurgisch operiert werden). 250 Personen wurden vier Jahre lang in diversen Wahrnehmungsexperimenten mittels dieser Methoden untersucht.

Was also ist nun das Ergebnis dieser ersten Runde?

Eine Enttäuschung mit Ansage

Die Antwort: nichts. Die Resultate sind ‚mixed‘, wie in allen Berichten über die Studien zu lesen ist, keiner der Theorien kann ein klarer Sieg zugesprochen werden (4). Geht man rein nach der Anzahl der Vorhersagen, so hatte die IIT ein Quäntchen öfter recht, was dazu führte, dass sie von ihren eigenen Vertreterinnen und Vertretern natürlich sofort als klare, große Siegerin verkündet wurde. So kommentierte IIT-Vertreterin Melanie Boly von der University of Wisconsin: „Die Ergebnisse bestätigen die allgemeine Behauptung der IIT, dass posteriore kortikale Areale für das Bewusstsein ausreichen und weder eine präfrontale Beteiligung noch eine globale Übertragung notwendig sind.“ (4) Andere IIT-Vertreter wie Christof Koch waren zurückhaltender und gaben zu, dass die Ergebnisse so mehrdeutig waren, dass keine Theorie zur Siegerin gekürt werden könne. So gab sich Koch denn auch bei seiner Wette mit Chalmers geschlagen und überreichte ihm nach der Verkündigung der Daten eine Kiste Wein.

An diesem Punkt könnte man das ganze Ereignis als mehr oder weniger interessante Anekdote stehen lassen, wie es die meisten Medien auch taten. Schließlich sind alle Fakten berichtet worden. Das Problem ist nur: Dass dieser mehrjährige, millionenschwere Wettbewerb in nebulöser Mehrdeutigkeit enden würde, hätte man absehen können – und dass er dennoch so gehyped wurde, tut der Wissenschaft nicht gut.

Ein Ausflug in die Wissenschaftstheorie: Hypothese, Theorie, Experiment

Wenn man eine sozial- oder naturwissenschaftliche Disziplin studiert, lernt man zuverlässig, dass Wissenschaft auf der Falsifizierbarkeit ihrer Thesen beruht. Der Philosoph Karl Popper hatte dieses Prinzip des Falsifikationismus (nicht ganz korrekt auch als Fallibilismus bezeichnet) entwickelt, um echte Wissenschaft von Pseudowissenschaft logisch abzugrenzen. Lässt sich eine Aussage grundsätzlich nicht experimentell widerlegen, so ist sie pseudowissenschaftlich. Weil sich die wissenschaftstheoretische Bildung in den meisten Studiengängen auf dieses Prinzip beschränkt, sind die meisten empirischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ob sie es wissen oder nicht, Popperianer.

In der Philosophie ist unterdessen niemand mehr reiner Popperianer. Im Philosophiestudium lernt man früh, dass Popper von seinem eigenen Schüler, Imre Lakatos, grundlegend korrigiert wurde: Einzelne Hypothesen kann man zwar im Experiment widerlegen, ganze Theorien, die meist aus einer Vielzahl von Hypothesen bestehen, jedoch nicht. Lakatos spricht dabei auch von einem „Schutzgürtel aus Hypothesen“, von denen jederzeit einige aufgegeben werden können, ohne den harten Kern der Theorie fallen lassen zu müssen. Er schreibt: „Als Newton seine ‘Principia’ veröffentlichte, war allgemein bekannt, daß diese Theorie nicht einmal die Bewegung des Mondes richtig wiedergeben konnte; vielmehr wurde sie durch diese widerlegt. Kaufmann, ein hervorragender Physiker, widerlegte die Einsteinsche Relativitätstheorie noch im Jahre ihres Erscheinens (5). […] Nach Poppers Theorie z.B. ist es irrational, nach der Entdeckung der anomalen Perihelbewegung des Planeten Merkur an der Newtonschen Gravitationstheorie festzuhalten und diese weiter auszubauen. Desgleichen wäre es irrational, Bohrs alte Quantentheorie, die auf inkonsistenten Grundlagen aufbaut, weiter zu entwickeln.“ (6)

Die Beispiele sind zahlreich. Hätte Popper recht, wären einige der besten Theorien lediglich als widerlegte Vermutungen auf dem Schrottplatz der Wissenschaftsgeschichte geendet. Aber ein ‘Schiedsrichter-Experiment’ gibt es selten bis nie, zumindest nicht für große Theorien – wie die IIT oder die GNWT. Das weit verbreitete, fundamentale Missverständnis von Popper’s Philosophie ist, dass es bei wissenschaftlichen Ideen um eine grundsätzliche Falsifizierbarkeit geht, nicht darum, ob so eine Idee nun tatsächlich falsifiziert wurde oder nicht.

Selbst Karl Popper sagte, dass sich Theorien nach experimenteller Testung nur bewähren könnten, also über lange Zeiträume. Will sagen: Die Theorie, die von ihren Anhängerinnen und Anhängern bereits am Tag eines negativen Experimentes sofort fallen gelassen wurde, muss erst noch gefunden werden. Im Gegenteil. Eine kürzliche Meta-Analyse über 412 Studien zeigte sogar, dass experimentelle, neurowissenschaftliche Studien zum Bewusstsein relativ starke Verzerrungen zugunsten der Theorie haben, denen das Forschungsteam zugeneigt ist. Allein am Studiendesign kann man vorhersagen, ob ein Experiment für die ein oder andere Theorie sprechen wird (7). Das Design wiederum wählen die Forscherinnen und Forscher natürlich aus, um ihre jeweils favorisierte Theorie zu ‚überprüfen‘. Das klingt eher nicht wie Popper’s Buchtitel Vermutungen und Widerlegungen – eher nach ‚Vermutungen und Bestätigungen.‘

Ein falsches Bild von Wissenschaft

Kommen wir zum Ausgangspunkt des Artikels zurück. Eben weil die Sachlage in der Wissenschaftstheorie so klar ist, war ich irritiert, als ich 2019 von dem Vorhaben las. Dennoch: An dem Wettbewerb waren auch drei Philosophen beteiligt – Chalmers selbst ist Wissenschaftstheoretiker. Es ist daher nahezu ausgeschlossen, dass das Grundwissen um die Nicht-Testbarkeit großer Theorien gefehlt hätte. Der Titel des Science Artikels von 2019 lautete „‘Outlandish’ competition seeks the brain’s source of consciousness”. Das Wort outlandish („ausgefallen“, „sonderbar“) wurde gewählt, um darauf hinzuweisen, dass so eine Art, Wissenschaft zu betreiben, äußerst unüblich ist: „Kopf-an-Kopf Wettbewerbe sind selten in der Grundlagenforschung“, so die Projektleiterin Lucia Melloni, Neurowissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt (1). Warum also wurde dieser Ansatz gewählt? Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Gründe mehr einer aufmerksamkeitsökonomischen Mode entsprechen als einer wissenschaftlichen Methodik.

Der Ansatz ist klassisch amerikanisch und folgt dem Stil der Forschung, der zur Mondlandung geführt hat: Groß, bombastisch, aufsehenerregend, medial begleitet. Wenn ein Ereignis nur groß genug aufgeblasen wird, dann wird auch das mediale Spektakel drum herum groß sein – eine bessere Kampagne für Folgefinanzierungen gibt es nicht. Die Journalistin Elisabeth Finkel berichtet: „Auf der Bühne des Skirball Centers der NYU, nach Rockmusik, einer Rap-Performance und der Präsentation der Ergebnisse gab der Neurowissenschaftler die Wette gegen den Philosophen auf: Die neuronalen Korrelate des Bewusstseins seien noch nicht gefunden worden […] „Da ich an diesem Abend anwesend war, kann ich bestätigen, dass die Veranstaltung wie ein Sportereignis organisiert war.“ (4)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich unterstelle den 14 leitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keine Heuchelei, sie alle brennen nachweislich seit Jahrzehnten für ihre Themen. Methodisch wird vermutlich sogar sauberer und strenger als üblich vorgegangen sein, und die Erzeugung eines Medienrummels sollte sicherlich einem noblen Ziel dienen, nämlich einer Weichenstellung für mehr und intensivere Bewusstseinsforschung.

Dennoch wird hier ein falsches Bild von Wissenschaft erzeugt, vor dem wir uns hüten sollten. „Wissenschaft ist nicht einfach Versuch und Irrtum, eine Abfolge von Vermutungen und Widerlegungen“ schrieb Lakatos. Wenn wir aber zunehmend in genau diesen Modus gehen, und in ihm Forschung finanziell und medial aufblasen, dann muss das mit der Zeit immer mehr Frustration hervorrufen. Wie der Psychologe Stuart Ritchie in seinem Buch erörtert, führt genau diese Frustration bei den normalen, kleinen und unbekannten Forschungsvorhaben – und vor allem bei den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, zu Publikationsverzerrungen (8). Was zählt, sind großartige, einschlägige Forschungsergebnisse. Für kleine Fortschritte oder gar Fehlschläge interessiert sich niemand.

Slow Science

Doch glasklare Ergebnisse bringen selbst die größten Experimente in Wirklichkeit selten, auch wenn es das natürlich gibt. Was die Wissenschaft tatsächlich voranbringt, ist eben nicht groß und bombastisch: Es ist kleinschrittige, mühsame, jahrzehntelange Arbeit, die aufeinander aufbaut. Prominente Forscherinnen und Forscher, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, sollten dieses realistischere Bild von Wissenschaft pflegen, anstatt große Versprechungen zu machen, die am Ende nicht eingehalten werden können. So werden Erwartungshaltungen in der allgemeinen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit erzeugt, die Forschungsteams mit kleineren Budgets niemals einlösen können.

Es hat sich sogar eine Gegenbewegung zu diesem Trend gegründet, die „Slow Science“ propagiert. In ihrem Manifest erklären sie: „Wir brauchen Zeit zum Nachdenken. Wir brauchen Zeit, um zu verdauen. Wir brauchen Zeit, um uns gegenseitig missverstehen zu können, vor allem, wenn wir den verlorenen Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften fördern wollen. Wir können Euch nicht ständig sagen, was unsere Wissenschaft bedeutet und wozu sie gut sein wird, denn wir wissen es einfach noch nicht. Wissenschaft braucht Zeit.” (9)

Quellen

(1) https://www.science.org/content/article/outlandish-competition-seeks-brain-s-source-consciousness?utm_campaign=SciMag&utm_source=JHubbard&utm_medium=Facebook

(2) https://www.nature.com/articles/d41586-023-02120-8

(3) https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0268577

(4) https://www.quantamagazine.org/what-a-contest-of-consciousness-theories-really-proved-20230824/

(5) Lakatos, I. (1982). Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Philosophische Schriften Band 1. Übers. v. Arpád Szabó u. Helmut Vetter. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH. (S.4)

(6) Ebd., S.163

(7) https://www.nature.com/articles/s41562-021-01284-5

(8) Ritchie, S. (2020). Science fictions: Exposing fraud, bias, negligence and hype in science. Random House. (Kapitel 4)

(9) http://slow-science.org/

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Veröffentlicht von

Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

23 Kommentare

  1. Für das Testen von Bewusstseintheorien fehlt zuerst einmal ein klare Definition, was Bewusstsein messtechnisch überhaupt sein soll. Für mich ist und bleibt die Physik der Massstab für die Naturwissenschaft, ja für die Wissenschaft überhaupt. In der Physik geht es darum Phänomene, die man messen kann (beispielsweise mit Messdaten in Grundeinheiten des internationalen Masssystems) mit einer Theorie und Modellen zu erklären. Daraus ergeben sich dann auch Voraussagen, welche Phänomene und Messdaten in einer bestimmten Situation zu erwarten sind. Keine der mir bekannten Bewusstseinstheorien spricht überhaupt von messbaren Phänomenen oder wenn sie davon spricht, dann ist oft sehr unklar was das mit dem zu tun hat was in der Philosophie das Bewusstsein genannt wird.

    Was man aber nicht messen kann, zu dem kann man auch keine Modelle und keine physikalischen Theorien aufstellen. Es fehlen also überhaupt die Grundvoraussetzungen für die Bildung von naturwissenschaftlichen Theorien das Bewusstsein betreffend.

    • An Messungen und Daten mangelt es der Neurowissenschaft beim Thema Bewusstsein nun wirklich nicht – die relevanten Messmethoden waren in diesem Fall fMRT, MEG, EEG und intrakranielle Ableitungen. Die Interpretation solcher Daten ist natürlich die viel schwierigere Angelegenheit. Ein Messproblem als solches besteht aber nicht.

      • Ok. In diesem Fall besteht also „nur“ noch das Problem, die Messdaten mit dem in Zusammenhang zu bringen, was man Bewusstsein nennt.

        Das Problem hier: Bewusstsein wird oft so definiert, dass es nichts direkt mit Hirnströmen oder ähnlichem zu tun hat. Heute diskutiert man ja auch ob Systeme der künstlichen Intelligenz irgendwann Bewusstsein entwickeln können. Doch mit fMRT, MEG und EEG kommen sie bei einem neuronalen Netz nicht weiter, denn ein System von neuronalen Netzen könnte eventuell Bewusstsein besitzen doch Hirnströme gibt es mit Sicherheit nicht in einem neuronalen Netz.

        Frage: Welche Messdaten oder alternativ, welche kognitiven Leistungen korrelieren mit Bewusstsein?

        Solange diese Frage nicht eindeutig beantwortet kann, kann ein Reden über Bewusstsein oder gar ein Test auf Bewusstsein nicht Gegenstand der Naturwissenschaft sein.

  2. Ein Ausflug in die Wissenschaftstheorie:

    David Wurzer schrieb (23. Jan 2024):
    > Hypothese, Theorie, Experiment

    Diese Liste von Begriffen soll ja bestimmt besonders kurz und plakativ sein.
    Trotzdem fehlt (mir) sowohl darin, als auch im obigen SciLogs-Beitrag insgesamt,
    als auch in diversen Äußerungen von K. Popper bzw. I. Lakaos überhaupt,
    eine Erwähnung des Begriffs “Modell” und insbesondere von “Standardmodell”

    Zur Begründung möchte ich anhand des obigen SciLogs-Beitrags etwas ausholen:

    > Die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) besagt, dass Bewusstsein das Ergebnis eines Prozesses sei, bei dem Informationen, z.B. Sinneseindrücke, aber auch eigene Gedanken, von einem allgemeinen ‚Workspace‘ an mehrere nachgeschaltete, spezialisierte Untereinheiten weitergeleitet werden (3). […]

    Entsprechend dieser (knappen) Beschreibung handelt es sich bei der GNWT offenbar um eine Definition des Begriffes “Bewusstsein” als Messgröße.
    (Da dieses Wort auch in anderen Zusammenhängen auftritt, wohl genauer: Es handelt sich eine Definition des Begriffes “GNWT-Bewusstsein” als Messgröße.)

    > Die Information Integration Theory (IIT) ist ihr Gegenspieler (3). Sie besagt, dass Bewusstsein eine Eigenschaft aller hinreichend komplexen, hinreichend integrierten Systeme sei. […]

    Auch diese (knappe) Beschreibung lässt sich als Definition auffassen; konkret als Definition von “IIT-Bewusstsein”.

    (Wieso überhaupt in beiden Darstellungen das selbe Wort “Bewusstsein” auftritt, ist eine beiläufig interessante Frage. Es ließe sich ja abstrakter auch von “GNWT-Messgröße” bzw. “IIT-Messgröße” sprechen.)

    > […] Einzelne Hypothesen kann man […] im Experiment widerlegen, […]

    Ja, natürlich vorausgesetzt, dass die betreffende Hypothese (zunächst überhaupt) geeignet konkret und Wahrnehmungs-bezogen und Ergebnis-offen aufgestellt/formuliert wurde.

    (Um ein Sach-dienliches Beispiel einer konkrete, experimentell widerlegbare Hypothese zu nennen:
    “Von den im obigen SciLogs-Beitrag genannte 250 mehrfach untersuchten Probanden wiesen 203 in allen Versuchen, 38 in einigen Versuchen, und 9 in gar keinen Versuchen GNWT-Bewusstsein auf.”)

    > ganze Theorien, die meist aus einer Vielzahl von Hypothesen bestehen, jedoch nicht.

    Theorien lassen sich nicht experimentell widerlegen (so weit, so richtig), denn es handelt sich ja um Systeme von Definitionen (die sich insbesondere damit beschäftigen, wie experimentelle Ergebnisse überhaupt ermittelt werden sollen), einschl. aller logisch-zwangsläufigen Zusammenhänge (Theoreme), die sich aus den Definitionen zusammen herleiten lassen.

    Aber wieso sollten Theorien “aus einer Vielzahl von Hypothesen bestehen”, oder überhaupt irgendwelche Hypothesen beinhalten ?
    Beinhalten denn z.B. die o.g. “GNWT” oder “IIT” überhaupt irgendwelche Hypothesen ??

    Stattdessen empfiehlt es sich,

    – Theorien, also Begriffssysteme, die zum Aufstellen/Formulieren von (konkreten, experimentell prüfbaren) Hypothesen erforderlich und brauchbar sind, die aber selbst nicht experimentell prüfbar bzw. zumindest widerlegbar sind,

    von

    – Modellen, die eine Vielzahl von Hypothesen mit schon erhaltenen experimentellen Resultaten zusammenfassen

    zu unterscheiden.

    • Aber wieso sollten Theorien “aus einer Vielzahl von Hypothesen bestehen”, oder überhaupt irgendwelche Hypothesen beinhalten ?

      Das verträgt sich durchaus mit Ihrem Begriff von Theorie. Ob “beinhalten” oder “ableitbar”, Theorien müssen Hypothesen generieren können, sonst währen sie nicht testbar. Häufig genug führen einzelne Hypothesen zu einer Theorie, aber aus einer Theorie können auch Hypothesen gefolgert werden. In diesem Fall gibt es eine Vielzahl an Hypothesen, die aus den beiden Bewusstseinstheorien ableitbar sind und die denn auch in den Studien überprüft worden sind (z.B. der sehr anschauliche Kontrast aus zwei Hypothesen: die IIT beinhaltet die Hypothese, dass bewusste Wahrnehmung zunächst okzipital zu Aktivität führt, die GNWT beinhaltet die Hypothese, dass dies zu frontaler Aktivität führt).

      • David Wurzer schrieb (24.01.2024, 11:43 Uhr):
        > Ob “beinhalten” oder “ableitbar”, Theorien müssen Hypothesen generieren können, […]

        Einverstanden; vgl. das ausdrückliche Beispiel einer Hypothese in meinem obigen Kommentar (Frank Wappler, 24.01.2024, 10:13 Uhr).

        Hier (der Einfachheit halber) noch ein Beispiel einer Hypothese, das die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) generieren kann; also, dass sich insbesondere mit den Begriffen (definierten Messgrößen bzw. deren Wertebereichen) formulieren lässt, die in der GNWT auftreten:

        “Proband 137 wird im nächsten Versuch GNWT-Bewusstsein aufweisen.”

        Aber: Die GNWT kann demnach auch die exakt gegenteilige Hypothese generieren —

        “Proband 137 wird im nächsten Versuch GNWT-Bewusstsein nicht aufweisen.”

        Die Möglichkeit, zu einer bestimmten Ergebnis-offenen Hypothese das (exakte) Gegenteil zu formulieren (oder sonstige entsprechende Alternativ-Hypothesen), gehört ja zum selbstverständlichen begrifflichen Inventar.

        Von diesen beiden Hypothesen, die sich offenbar jeweils (einzelne) experimentell widerlegen lassen, von denen aber ausgeschlossen ist, dass alle beide im betreffenden (dem konkreten einen “nächsten”) Versuch experimentell widerlegt gefunden würden,
        sagt man deshalb zwar, dass sie beide in der GNWT ableitbar (alias generierbar) sind;
        aber gerade nicht, dass die GNWT sie (beide, oder auch nur eine davon) beinhaltet.

        Stattdessen werden Hypothesen von Modellen beinhaltet; und zwar (i.A.) pro Modell nur jeweils eine Menge von kompatiblen (d.h. insbesondere nicht wie im obigen Beispiel zueinander exakt gegenteiligen) Hypothesen.

        > […] Theorien müssen Hypothesen generieren können, sonst [wären] sie nicht testbar.

        Darum geht ja: Theorien sind nicht (experimentell) testbar.

        Modelle sind experimentell testbar.
        (Diejenigen, die Experimente bzw. Messungen durchgeführt haben, berichten davon oft als “Test des Standardmodells …” jeweils eines bestimmten empirischen Wissenschaftszweiges.)

        Von Theorien ist dagegen von vornherein zu fordern, dass sie begrifflich nachvollziehbar und “in sich” Widerspruchs-frei sind.

        > […] zwei Hypothesen:

        Danke für die zusätzlichen Beispiele !

        > die IIT beinhaltet die Hypothese, dass bewusste Wahrnehmung […]

        … ohne Begriffe anderer Theorien zu gebrauchen also offenbar: “dass IIT-bewusste Wahrnehmung” …

        > zunächst okzipital zu Aktivität führt,

        Der (mir sowieso nicht geläufige) Begriff “okzipital” tritt im obigen SciLog-Beitrag mit der (kurzgefassten) IIT-Beschreibung offebar gar nicht auf. …
        Bedeutet “okzipital” (zumindest hinsichtlich der 250 untersuchten Probanden) womöglich:
        “Derjenige bestimmbare Teil eines Systems, in dem jegliche Wahrnehmung als entweder als einzigem oder ansonsten immer zuerst zu Aktivität führt.”

        Falls so, dann ist die genannte vermeintliche Hypothese stattdessen ein Theorem der IIT:
        “Wenn Wahrnehmungs-Aktivität eines Systems zunächst (nur) in einem bestimmbaren Systemteil auftritt, und folglich danach andere bestimmbare Systemteile involviert, tritt demnach in einem diesbezüglich hinreichend komplexen und integrierten System auf. Im Sinne der IIT-Definition aus dem obigen SciLog-Beitrag hat dieses System deshalb dabei IIT-Bewusstsein.”

        und ist jedenfalls nicht Ergebnis-offen experimentell prüfbar.

        > die GNWT beinhaltet die Hypothese, dass dies zu frontaler Aktivität führt

        Bezieht sich “dies” genaugenommen auf “GNWT-bewusste Wahrnehmung”, und
        “frontal” (zumindest hinsichtlich der 250 untersuchten Probanden) auf einen Systemteil, in dem jegliche Wahrnehmung keinesfalls zuerst/zunächst zu Aktivität führen würde,
        in dem Wahrnehmung aber jedenfalls danach zu Aktivität führen müsste, um als “GNWT-bewusste Wahrnehmung” bewertet zu werden ?

        Auch dann ginge es um ein von vornherein beweisbares Theorem der GNWT; nicht um eine experimentell widerlegbare Hypothese.

        > […] Kontrast […]

        Die Gegenüberstellung: …

        “Zuerst der eine Systemteil (der dadurch identifiziert ist, dass er zuerst …, oder ansonsten ohnehin nur als einziger), und danach ein anderer Systemteil (der dadurch identifiziert ist, dass er höchstens nachgeordnet …, falls überhaupt).”

        … beinhaltet zwar einen gewissen Kontrast. Aber doch keinen Sektkorken-knalligen Widerspruch ?

  3. @Hauptartikel

    Ich kann mir auch vorstellen, dass beide Bewusstseinstheorien zusammen einen Teil der Wirklichkeit beschreiben. Sowohl ein Arbeitsraum, der integrierend aktiv ist wie eine grundsätzliche Bewusstheit als Nebenwirkung von Datenverarbeitung in einem Kosmos, der selber grundsätzlich bewusstseinsfähig ist.

    In jedem Fall erlebt doch jeder, dass hier eine Abbildung aus der neurologischen Gesamtheit heraus stattfindet, welche dann das definitiv Erlebte ausmacht.

    Falsifikationsmöglichkeit ist nicht immer sofort möglich, aber öfter dann doch irgendwann später. Entsprechend sollte man nicht leichtfertig Hypothesen verwerfen, weil einem noch keine Möglichkeit der Falsifikation einfällt. Insbesondere wenn die Hypothese potentiell wirklich erklärungsmächtig ist.

    Entsprechend mehr Geduld haben, und langsam arbeiten, kann helfen. Offensichtliche Existenzen wie die Erkenntnis, ein eigenes Bewusstsein zu haben, sind zu grundsätzlich, um sie zu verwerfen, nur weil man noch nicht weiß, wie es funktioniert.

    Und wir haben ja auch noch das Arbeitsfeld der KI, in der wir eben auch Möglichkeiten von Bewusstheit austesten können. Vielleicht hat ja wirklich nicht nur die aktuelle KI schon ein kleines Bewusstsein, sondern auch das Internet. Und was würde daraus folgen, wenn man das nachweisen könnte?

    Gerade dass man das gar nicht ausschließen kann, ist doch schon ein Faktum. Es geht oft um Möglichkeiten, die man ganz gezielt suchen kann. Die Falsifizierbarkeit kann man auch der Nachwelt überlassen, wenn man mit der Theorie erstmal arbeiten kann. Die Falsifizierbarkeitsforderung kann m.E. durchaus auch mal Erbsenzählerei sein.

    • @Jeckenburger
      Für eine gute wissenschaftliche Forschung müsste zunächst geklärt werden, ob wir überhaupt ein ´Bewusstsein´ bauchen bzw. ob es ein ´Bewusstsein´ tatsächlich gibt – oder nicht.
      Denn wenn es kein ´Bewusstsein´ gibt, dann sind solche Bewusstseinstheorien sinnlos, welche von seiner Existenz ausgehen.

      Und das ist das eigentliche Problem bei diesem Thema.

  4. @Holzherr 24.01. 15:21

    „Doch mit fMRT, MEG und EEG kommen sie bei einem neuronalen Netz nicht weiter…“

    Das müsste doch sogar umzurechnen sein? Die Ergebnisse von fMRT, MEG und EEG fassen ja tausende oder Millionen von Nervenzellenaktionen zusammen, was dann zu Messergebnissen führt. Entsprechend könnte man tausende oder Millionen von Elementen in neuronalen Netzen auch zusammenfassen, und denen sehr vergleichbare Messwerte zuordnen.

    Klar dürfte aber in jedem Fall sein, dass solche Untersuchungen aufgrund ihrer doch eklatanten Grobheit auch zu nicht viel führen können. Da ist die Situation in der KI sehr viel besser, hier kann man einzelne Elemente auslesen, und versuchen, das Zusammenspiel zu entschlüsseln.

    Gerade wenn wir denn nun tatsächliches Bewusstsein in einer KI hinbekommen haben, könnten wir durchaus erfolgreich herausfinden können, wie das dann da im Detail funktioniert. Jedenfalls sehr viel eher, als beim biologischen Vorbild, das man eben nicht so genau untersuchen kann wie eine KI.

    Was uns freilich nur weiter hilft, wenn wir eine KI mit Bewusstsein gebaut haben, und uns auch noch sicher sind, dass sie tatsächlich bewusst geworden ist. Nicht unmöglich, aber vermutlich auch nicht einfach.

    „..kann ein Reden über Bewusstsein oder gar ein Test auf Bewusstsein nicht Gegenstand der Naturwissenschaft sein.“

    Gibt es in ihrer Welt gar keine Geisteswissenschaften? Fragt denn jemand nach den physikalischen Grundlagen der Informatik? Das einzige was hier zählt, ist dass die Programme laufen. Physik ist was für die Hersteller der Hardware, Software kommt ohne Physik aus.

    Und entsprechende Teile der Psychologie kommen auch ohne Biologie aus. Und müssen das vermutlich sogar, wenn sie überhaupt Aussagen machen wollen. Die Herangehensweise ist und muss unterschiedlich sein.

    • @Jeckenburger

      Eigenschaften welche heute dem ´Bewusstsein´ zugeschrieben werden – hat man im letzten Jahrhundert der ´Seele´ zugeordnet.

      Es ist schon erstaunlich, dass sich in der Wissenschaft so wenig bewegt hat, dass man alte Denkmodelle unter einem neuen Mäntelchen verbreiten kann.

  5. @KRichard 25.01. 04:49

    „Für eine gute wissenschaftliche Forschung müsste zunächst geklärt werden, ob wir überhaupt ein ´Bewusstsein´ bauchen bzw. ob es ein ´Bewusstsein´ tatsächlich gibt – oder nicht.“

    Ich würde es anders angehen. Bewusstsein kann sich von Mensch zu Mensch durchaus unterscheiden, etwa könnte der praktizierte Beruf deutliche Unterschiede machen. Oder Menschen, die täglich fleißig meditieren, denen sieht man das beim fMRT sogar gleich an. Alleine deswegen ist das Thema schon mal schwierig.

    Dann hat sowieso jeder seine spezielle Theory of Mind und hat eigene Vorstellungen, wie er sich seine eigene Existenz erklärt.

    Ich würde also vorschlagen, erstmal einfach mit den Menschen zu arbeiten, die ich untersuche. Und hier ganz konkret gucken, wie das funktionieren kann, was ich hier bei diesem Menschen finde. Das Ergebnis können viele Varianten sein, wie man so drauf sein kann.

    Wenn wir eine universelle Bewusstseinstheorie hätten, dann wäre die Existenz eines solchen Bewusstseins offenbar mitgeliefert. Das kann man gar nicht trennen, scheint mir. Warum nicht danach suchen? Wenn da nichts ist, dann finden wir eben nichts, einen Versuch wäre es wert.

    Was bleibt, ist ganz konkret an KI zu arbeiten, mit dem Ziel hier eigenes Bewusstsein tatsächlich zu produzieren. Selbst wenn das hinterher gar nicht auf den Menschen zurück übertragen werden kann, haben wir dann aber künstliche Existenzen. Dann hätten wir künstliches Leben mit künstlichen Seelen geschaffen. Das fände ich immer interessant.

    Ich weiß nicht wie sie sich ihre Existenz erklären, aber eine Innenperspektive muss doch bei jedem real existieren. Das ist doch absolute Grunderfahrung, vermutlich selbst bei den meisten Tieren. Wie das genau funktioniert, das wissen wir ja eben nicht. Deswegen suchen wir ja nach Bewusstseinstheorien.

    Man könnte andere, speziellere Begriffe dafür finden, je nachdem, wie diese Theorien dann konkret aussehen. Aber alle müssen doch die mit Sicherheit reale Innenperspektive enthalten.

  6. Bewusstsein ist für mich genau so eine Chimäre wie Materie, Geist oder Seele. Die genannten Begriffe sind menschliche Prinzipien für die Bewertung von Zuständen die sie sich selbst nicht-auch wissenschaftlich- noch nicht erklären können. Der beste Lehrmeister für die Erklärung des “Bewusstsein” scheint mir Buddha zu sein. Betrachten sie sich einmal selbst, ihre Gedanken und Gefühlswelt und hinterfragen dann wer da das alles betrachtet und erkennt ? Warum ist ihnen das eigentlich bewusst , warum agieren und reagieren sie so wie sie reagieren ? Unser Gehirn wird so durchschaubarer und “Bewusstsein” ist vielleicht nur der falsche Ausdruck für eine tiefe Logik der Evolution.

  7. @ Martin Holzherr:

    Frage: Welche Messdaten oder alternativ, welche kognitiven Leistungen korrelieren mit Bewusstsein?

    Solange diese Frage nicht eindeutig beantwortet kann, kann ein Reden über Bewusstsein oder gar ein Test auf Bewusstsein nicht Gegenstand der Naturwissenschaft sein.

    Antwort: Mehr oder weniger alle berechenbaren Variablen korrelieren mit Bewusstsein.

    Der Grund dafür ist ganz einfach. Alle Daten die man hat, egal ob mit EEG, MEG oder fMRI aufgenommen wird, sind Zeitreihen des Signals (Englisch: time series). Mehr Daten gibt es bezüglich der Physiologie bzw. Funktion nicht.

    Die Dynamik der time series ändert sich beispielsweise zwischen verschiedenen Leveln des Bewusstseins (Wachzustand, Schlaf, Anesthesie, Müdigkeit, etc.). Auch verändert die Dynamik der time series sich bei jeder Art von kognitiven Aufgaben individuell. Dazu auch noch womöglich unterschiedlich zwischen verschiedenen Menschen.

    Deshalb ändert sich auch die Ausprägung nahezu jeder Messvariable mit Änderungen des Bewusstseins, da ja alle Variablen bzw. Messungen von der ursprünglichen time series ausgehen. Ändert sich die time series, so ändert sich auch die Messvariable.

    D.h. ihre Frage “was korreliert mit Bewusstsein” ist zu unspezifisch bzw. unterdeterminiert. Man muss dann mehr ins Detail gehen um zu differenzieren. Dafür gibt es verschiedene Ansätze, aber das lässt sich kurz in einem Blogkommentar kaum erläutern ohne weit ausholen zu müssen. Beispielsweise kann man neuronale Prädispositionen für Bewusstsein (notwendige aber nicht hinreichende neuronale Dynamiken für Bewusstsein) und neuronale Korrelate von Bewusstsein (notwendig aber ohne die passenden Prädispositionen nicht ausreichend für Bewusstsein) unterscheiden und untersuchen.

    • Philipp schrieb (25.01.2024, 18:38 Uhr):
      > […] Alle Daten die man hat, egal ob mit EEG, MEG oder fMRI aufgenommen wird, sind Zeitreihen des Signals (Englisch: time series). Mehr Daten gibt es bezüglich der Physiologie bzw. Funktion nicht.

      > […] zwischen verschiedenen Leveln des Bewusstseins (Wachzustand, Schlaf, Anesthesie, Müdigkeit, etc.).

      Sind das nicht auch Physiologie-bezogene Messgrößen; bzw. deren jeweilige (Probanden-spezifische) Messwerte/Daten ?

      > […] bei jeder Art von kognitiven Aufgaben

      Ist “Reaktion auf kognitiven Aufgaben-Stellungen” nicht auch eine Funktions-bezogene Messgröße; bzw. deren jeweilige (Probanden-spezifische) Messwerte/Daten ?

      Und konkret welche Definition (Theorie) von “Bewustssein” würde ausgerechnet die (human ?)-physiologischen Bewertungen von “Wachzustand, Schlaf, Anesthesie, Müdigkeit” als “[ungleiche] Level des Bewusstseins” festsetzen ??

      > […] neuronale Prädispositionen für Bewusstsein (notwendige aber nicht hinreichende neuronale Dynamiken für Bewusstsein)

      Wären Systeme, in denen bio-chemische Physiologie gar nicht vorkommt, nach solcher Definition grundsätzlich bewusstlos ?

      > und neuronale Korrelate von Bewusstsein (notwendig aber ohne die passenden Prädispositionen nicht ausreichend für Bewusstsein)

      Womöglich ging es bei der Wette zwischen Koch und Chalmers ja doch nur um das Testen zweier Modelle von (human)-physiologischen und (vermutlich auch) Kognitions-bezogenen Messwert-Zeitreihen;
      und eigentlich gar nicht um Definitionen/Theorien von “Bewusstsein (und wie das zu messen wäre)” überhaupt.

  8. @KRichard 25.01. 19:30

    „Eigenschaften welche heute dem ´Bewusstsein´ zugeschrieben werden – hat man im letzten Jahrhundert der ´Seele´ zugeordnet.“

    In der Tat liegt beidem ja auch ähnliche Grunderfahrung zugrunde.

    „Es ist schon erstaunlich, dass sich in der Wissenschaft so wenig bewegt hat, dass man alte Denkmodelle unter einem neuen Mäntelchen verbreiten kann.“

    Die wissenschaftliche Methode konzentriert sich nun mal auf Regelmäßiges, Wiederholbares und mathematisch Fassbares. Kein Wunder, dass man hier mannigfaltige Details der Regelmäßigkeiten dieses Kosmos findet, aber die einmalige Existenz absolut einmaliger Seelen in einmaligen Augenblicken nicht so schnell findet.

    Es widerspricht auch nicht der Wissenschaft, wenn man sich mit Seelenleben konkret auseinandersetzt. Es ist eher einfach jenseits des Horizontes einer Wissenschaft, die glaubt, das es keine Dinge gibt, die sie noch nicht kennt.

    Mag sein, dass hier so Mancher auf Wissenschaft setzt, um den Untiefen der teils recht unseligen Religionen zu entfliehen. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Wer jetzt hier aber das Kind mit dem Bade ausschüttet und am Ende sogar die eigene Existenz verwirft, dem geht es dann vermutlich auch nicht viel besser.

    Ich bastel mir lieber was Eigenes zusammen. Dann komme ich auch ohne spezielle Religion aus. Und kann mich dennoch mit meinem ganzen Dasein auseinander setzen.

    • Frank Wappler,

      Sind das nicht auch Physiologie-bezogene Messgrößen; bzw. deren jeweilige (Probanden-spezifische) Messwerte/Daten ?

      Ich verstehe die Frage nicht vollständig. Ja, es sind physiologische Messwerte. Wenn man aus neurowissenschaftlicher Sicht fragt wie Bewusstsein funktioniert muss man es natürlich physiologisch messen, beschreiben und erklären. Deshalb ist es richtig u.a. physiologische Messungen durchzuführen.

      Bezüglich dem Unterschied zwischen einzelnen Menschen:
      Grundsätzliche Dynamiken des Bewusstseins unterscheiden sich zwischen Menschen nicht sondern werden geteilt. Beispielsweise sieht das EEG oder fMRI Signal im Wachzustand bei allen Menschen in etwa gleich aus. Das gleiche gilt umgekehrt z.B. in der Anesthesie (Verlust von Bewusstsein). Es gibt natürlich interindividuelle Unterschiede. Aber es ist nicht so dass die Gehirndynamik bei jeder Person in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen völlig anders aussieht sodass überhaupt keine Generalisierungen möglich wären.

      Und konkret welche Definition (Theorie) von “Bewustssein” würde ausgerechnet die (human ?)-physiologischen Bewertungen von “Wachzustand, Schlaf, Anesthesie, Müdigkeit” als “[ungleiche] Level des Bewusstseins” festsetzen ??

      Es kann keine präzise Definition die über Standarddefinitonen hinausgeht geben, vor allem nicht eine die von allen Menschen oder Wissenschaftlern geteilt würde.

      Eine einfache Standarddefinition wäre dennoch dass z.B. ein desynchronisiertes EEG im Wachzustand vorliegt und umgekehrt ein synchronisiertes EEG, beispielsweise primär dominiert durch Deltawellen, im NREM Schlaf ohne Bewusstsein. Die eine Definition gibt es nicht, da man den jeweils identischen Prozess (eine time-series) durch verschiedene Variablen (in der time-domain, in der frequency-domain, im phase space…) auswerten kann. Unterschiedliche Variablen erlauben eventuell mal bessere und mal schlechtere Einstufungen beispielsweise im Bezug auf den Level des Bewusstseins. Und selbst ob es “Level” gibt wird sowohl von manchen Neurowissenschaftlern als auch Philosophen wieder diskutiert, da man konzeptuell eben alles totdiskutieren kann. Ein Beispiel für drei Level wären für mich: Wachzustand, leichte Sedierung oder starke Müdigkeit, Tiefschlaf (oder gar Anesthesie). In allen drei (fünf) Zuständen ändert sich die Physiologie des Gehirns.

      Wären Systeme, in denen bio-chemische Physiologie gar nicht vorkommt, nach solcher Definition grundsätzlich bewusstlos ?

      Meiner Ansicht nach ist Bewusstsein Physiologie und kann außerhalb Lebewesen deshalb nicht existieren, ja. Bewusstsein, Geist, Psyche sind aus meiner Sicht menschliche Begriffe/Konzepte für einen bestimmten physiologischen Zustand.

      Womöglich ging es bei der Wette zwischen Koch und Chalmers ja doch nur um das Testen zweier Modelle von (human)-physiologischen und (vermutlich auch) Kognitions-bezogenen Messwert-Zeitreihen;
      und eigentlich gar nicht um Definitionen/Theorien von “Bewusstsein (und wie das zu messen wäre)” überhaupt.

      Bei der Wette ging es um einen philosophischen Aspekt der empirisch aus meiner Sicht ohnehin nicht testbar ist. Die Wette ist (oder war) aus meiner Sicht ohnehin sinnlos.

  9. @Jeckenburger
    Wer die Existenz eines ´Bewusstsein´ als gegeben ansieht und überhaupt nicht hinterfragt – macht einen schweren Fehler und behindert somit seriöse wissenschaftliche Forschung. (Sie wie das Forschungsprojekt der Templeton World Charity Foundation)
    Seriös wäre es, sich Gedanken darüber zu machen – ob wir überhaupt ein ´Bewusstsein´ brauchen. Und außerdem wäre es notwendig endlich konkret zu definieren, was genau man mit dem Begriff ´Bewusstsein´ meint (aktuell ist keine sinnvolle Diskussion möglich, weil dieser Begriff so schwammig verwendet wird, dass nicht nachvollziehbar ist – was damit gemeint ist).

    Es gibt wissenschaftliche Arbeiten, welche zeigen, dass bereits das Anheben neuronaler Aktivität über eine bestimmte Schwelle ausreicht um bewusstes Erleben zu haben – ein zusätzliches Extra-´Bewusstsein´ braucht man nicht.

    Z.B. kann eine Narkosewirkung durch Stimulation des Thalamus aufgehoben werden:
    DOI: 10.7554/eLife.60824 Neural effects of propofol-induced unconsciousness and its reversal during thalamic stimulation
    DOI: 10.1016/j.neuron.2020.01.05 Thalamus modulates unconciousness via layer-specific control of cortex

    Dass wir eine ´Innenperspektive´ brauchen um die eigene Existenz erklären zu können ist auch ein Märchen – welches keiner Prüfung standhält:
    Denn dass wir eine ICH-Identität haben, ist nur das Ergebnis eines Lernprozesses, wenn wir ab dem 2. Lebensjahr lernen uns als eigenständiges ICH-Individuum von unerer Umwelt abzugrenzen. Feten und Babys existieren auch ohne dass sie sich einer eigenen ICH-Existenz bewusst sind.
    Prof. Precht schrieb vor einigen Jahren den Bestseller “Wer bin ICH und wenn ja – wieviele” – in dem die Existenz eines beständigen ICHs hinterfragt wurde,

  10. Zu Philipp
    Bewusstsein (Schlaf, Wachzustand, Müdigkeit etc…)
    All diese “Zustände” finden sie ja auch in der Tierwelt. So gesehen hätten auch Tiere ein “Bewusstsein”. Was ist da bewusst ? Ich denke dass dieser Zustand etwas mit der Fähigkeit der Selbst -Reflektion zu tun hat. Primaten können sich im Spiegel erkennen und somit “bewusst” beobachten und bewerten. Es ist also der “Beobachter “um den es geht und der unserem EGO sagt wer wir sind. Die von ihnen aufgelisteten Zustände sind unterscheiden uns wohl nicht von Tieren.

    • @ Hakel

      Das sehe ich auch so wie Sie; natürlich erleben auch Tiere und Insekten sich selbst sowie die Welt! Das steht für mich außer Frage. Es sind ebenfalls Lebewesen und keine Automaten oder Roboter.

      Klassiker dazu: Umwelt und Innenwelt der Tiere (Uexküll), zweite Ausgabe aus dem Jahre 1921.

  11. @Hakel 26.01. 19:30

    „All diese “Zustände” finden sie ja auch in der Tierwelt. So gesehen hätten auch Tiere ein “Bewusstsein”.“

    Bewusstsein ist dann konkret in Qualität und Quantität ein weites Feld. Inneres Erleben einer Außenwelt mit der eigenen Position, ohne sich dessen nochmal extra bewusst zu sein, ist vermutlich nur ein Anfang, den wohl jedes Tier hinbekommt. Sich seiner selbst zum Beispiel so bewusst zu sein, dass man sich im Spiegel erkennt, bekommen von heimischen Tieren z.B. Elstern hin.

    Der Mensch spielt hier sicherlich in einer anderen Liga, entwickelt Modelle und ganze Philosophien, und kann sich derer in mehreren Rekursivschleifen bewusst sein. Hierzu passt dann auch der allgemeine Arbeitsraum.

    Aber simple Empfindungsfähigkeit ist auch bei Labormäusen vorhanden, und entsprechender Respekt als Mitgeschöpfe ist auch denen gegenüber gerechtfertigt.

  12. @ Philipp 25.01.2024, 18:38 Uhr

    Zitat Frage: „Welche Messdaten oder alternativ, welche kognitiven Leistungen korrelieren mit Bewusstsein?“

    Ich meine, es geht zunächst um typische „Empfindungsleistungen“ die auch typisch für Bewusstsein sind und deren besondere „Sensorik“ auch gut „zugänglich“ ist.

    Die übliche Sensorik liefert „Signale“ und in der Nähe, letztlich in Molekülverbänden, sollten auch „Empfindungen“ auftreten. Vermutlich so ähnlich wie bei den Zapfen im Auge bei den Farbempfindungen

    Ich habe zufällig eine TV Sendung über Nachwirkungen von Corona mit Auswirkungen auf den Geruchssinn gesehen, besser zufällig „aufgeschnappt“. Ein Wissenschaftler berichtete, dass „Stützzellen“ im „Nasenbereich“ geschädigt wurden und danach die Geruchsempfindungen zumindest temporär?? weg waren.

    Das sollte man doch biochemisch untersuchen können und womöglich auf Gemeinsamkeiten mit anderen „Empfindungsverlusten“ oder Schäden finden. Winzige und auch zufällig anfallende Zellproben könnten in diesem Sinne ausgewertet werden.

    Empfindungen treten auch oft in der Peripherie auf und man sollte immer selektiver suchen, bis man endlich halbwegs gute Korrelationen zwischen Empfindungen, Chemie/Physik und Daten (Muster) gefunden hat. Es könnte sich allenfalls so verhalten, dass nur „Quantenchemiker/Physiker“ die Ergebnisse vernünftig und realistisch interpretieren können.

    Ihre Messungen sollten dazu beitragen können, den (sensorischen)Ausgangspunkt der jeweiligen Zellen zu finden, die für jeweils bestimmte Empfindungen in Frage kommen um dort passende Zellproben entnehmen zu können.

    Natürlich könnte Ihr Fachgebiet ganz besonders auch „Dynamiken“ finden, die offensichtlich für Empfindungen wichtig sind….

  13. Ich möchte noch zu meinem Beitrag hinzufügen, dass die Problemlösung des „Empfindungsphänomen“ (zumindest als Korrelationen), für das Verständnis entscheidend ist.

    Die Informationsverarbeitung und wie die “Empfindungen” zum “Bewusstsein” emergieren ist vergleichsweise banal, weil das im Prinzip längst Stand der Elektronik/Informatik ist.

  14. Elektroniker,

    vergessen Sie doch mal die Elektronik und Informatik, auch wenn diese Sie begeistert.

    Stellen Sie sich vor eine Gruppe von Biologen möchte verstehen wie ein Radio oder ein Taschenrechner funktioniert. Nun würden die Biologen immer hingehen und versuchen das technische/elektrische Gerät über Analogien zu Organen des Körpers zu erklären und zu verstehen.

    Da würden die meisten Techniker relativ schnell anfangen zu lachen.

    Es ist umgekehrt die gleiche Geschichte. Diese Analogien mit Technik halten höchsten oberflächlich hier und da, ja. Aber wenn Sie in die Details gehen sehen sie dass das Gehirn ganz anders funktioniert…

    Von den Quantentheorien des Bewusstseins halte ich gar nichts, alles Hokuspokus für mich. Wo sind die Befunde dazu? Es gibt keine. Es gibt nur theoretische Bücher und Paper dazu, aber wo ist die richtige Evidenz?

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