Der freie Wille des Froschschenkels
BLOG: Graue Substanz
Es war der Zitteraal – Über den freien Willen des Froschschenkels im 19ten Jahrhunderts und Pferde in Dampfmaschinen.
Gleich zur ersten Vorlesungsstunde des Jahres, am vorletzten Montag um 10:00 kam der Höhepunkt – im wörtlichen Sinn. Ich berichtete vorab im Beitrag “Vom Orgasmus und anderen Rhythmen” von dieser Physikvorlesung an der TU Berlin. Nun das Nachspiel.
Die Aufzeichnungen der analen und vaginalen Muskelkontraktionen, die ich in diesem Zusammenhang zeigte, wurden mit der physiologischen Schreibmaschine erfasst, mit dem Kymographen also.
Ein Kymograph aus der Historischen Instrumentensammlung der Charité.
Da ich mit dem Stoff dieser Vorlesung eine knappe Viertelstunde zu früh fertig wurde (für Spott ist hier Platz), konnte ich noch ausschweifen und den Studenten über den vermeintlich freien Willen des Froschweckers erzählen. Auch hier zuckt es gewaltig.
Der Kymograph hat einen Vorgänger: Emil du Bois Reymonds Myograph, auch Froschwecker genannt.
Ein periodisch zuckender, in eine Streckvorrichtung eingespannter Forschschenkel schlägt eine Glocke. Dong, Dong, Dong.
Johann Halske, der für Du Bois-Reymond elektromedizinische Geräte baute und zusammen mit Werner Siemens die Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske in Berlin gründete, erinnert sich an eine Vorführung, bei der die Entladung eines elektrischen Fischs den Froschwecker in Gang setzte [1, Seite 112f]:
Es fällt mir noch ein Besuch bei Dir auf der Universität ein, der mich sehr erheiterte. Du zeigtest mehreren hochgelehrten Herrn Versuche mit Zitterfischen und nach einem gelungenen Knalleffekt wurde die bescheidene Anfrage eines Anwesenden gestellt: “Ja, aber womit schlägt der ihn denn?”
Ja womit? Das werde ich auch die Studenten in der Prüfung fragen.*
Sven Dierke, Autor von Wissenschaft in der Maschinenstadt [1], erinnert an die Anekdote von Du Bois Reymond über einige Bauern, die beim Anblick einer Dampfmaschine erstaunt ausriefen: “Da sind doch Pferde drin!”
Diese aus gegensätzlichen Richtungen kommenden Fragen markieren den Anfang vom Ende des Vitalismus. (Mit Vitalismus bezeichnen wir die Lehre lebendiger Organismen ohne diese Komplexität allein auf chemische und physikalische Grundprinzipien zurückzuführen sondern eine Lebenskraft zu postulieren.)
Der Froschwecker also klingelte die Wissenschaftsräson wach und läutete so das Ende des Vitalismus ein. Oder doch nicht?
Der Vitalismus lebt, sagt Anthony R. Cashmore in seinem Antrittsartikel für PNAS [2], den er heute vor einem Jahr einreichte. Er vergleicht und dann identifiziert das Konzept des freien Willens, an dem wir so hängen, mit dem Konzept des Vitalismus. Welche Folgen hat es, wenn z.B. ein Mensch zuschlägt? Hat er mehr freien Willen als der Froschwecker? Wir sind geneigt, dies zu bejahen. War aber nicht doch sein Zitterfisch die Elternstube? Wenn ja, welche Konsequenzen hat dies für unser Rechtssystem?
An diese Stelle war dann aber die Vorlesung vorbei und ich beende dieses Nachspiel auch jetzt wieder. Was meinen Sie, sind da Pferde drin?
Literatur
[1] Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Sven Dierig, Wallstein Verlag, 2002
[2] Anthony R. Cashmore, The Lucretian swerve: The biological basis of human behavior and the criminal justice system, PNAS, 107: 4499–4504, (2010)
Link
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http://goo.gl/pqDac
Fußnote
*Womit sich einmal mehr zeigt, Blogs lesen lohnt. Hier Nicht nur in diesem Beitrag, sondern auch in meiner Vorlesung verate ich die Frage und eine gute Antwort: Die Hopf-Bifurkaktion schlägt zu, die auch schon bei den Muskelkontraktionen des Orgasmus verantworlich war. Ich würde dann fragen, ob es denn eine sub- oder superkritische Hopf-Bifurkaktion ist und wie wir das herausfinden können. Wer dies beantwortet und dabei noch die Saddle-node bifurcation on invariant circle ins Spiel bringt, geht sicher mit einer guten Note nach Hause.
[Änderung aufgrund eines völlig berechtigten Hinweis von Stephan Schleim.]
@ Dahlem Bewusstsein und neuronale Aktiv
aus dem zitierten Paper von Cashmore (danke für’s Link, lesenwert!):
“One resolution for this dilemma is that consciousness, rather than
being a means by which we influence behavior, is simply a mechanism
by which we follow unconscious neural activity and behavior.”
Das scheint mir so etwas wie die reduktionistische “Standardargumentation” zu sein, im folgenden Absatz geht’s da ja dann auch gleich um die Libet’schen Experimente.
Mir fällt bei der Gelegenheit allerdings ein, dass die Idee einer simplen zeitlichen Nachfolge von Bewusstseinsereignissen, die also einfach den “unconscious neural events” hinterherlaufen, nicht so ganz stimmig ist – Stichwort: “subjective antedating of mental events” (Arbeiten von Libet, auch von Pöppel).
In Kürze (wimret): das Bewusstsein hat die Fähigkeit, die subjektiv wahrgenommene Reihenfolge bestimmter sensorischer Ereignisse zu variieren – die zeitliche Reihenfolge der bewussten Perzepte kann von der physikalischen Reihenfolge der Stimuli abweichen. Ja, es kann soweit gehen, dass das Bewusstsein meint, etwas empfunden zu haben, bevor (auf der physikalischen Zeitskala) der Stimulus da war.
Ich weiss nicht so recht, wie weitgehend man das interpretieren kann – nur scheint es mir darauf hinzudeuten, dass man “Bewusstseinsreihenfolgen” und “physikalische Reihenfolgen” nicht unbedingt mit der selben Zeitlatte messen kann … udn dann wird’s eben mit der ganzen Argumentationder “Nachgängigkeit” des Bewusstseins schwierig.
Bewusstsein
Jene Verhaltensweisen, die schnell und automatisch ablaufen, wurden viel früher langsam und mühsam vom Bewusstsein eingerichtet.
Je nach dem Ergebnis dieser schnellen Verhaltensweisen, kann dann das Bewusstsein mehr oder weniger große Veränderungen an diesen Verhaltensweisen vornehmen.
Das Bewusstsein steuert nicht die schnellen Verhaltensweisen, sondern es programmiert sie, denn zum Steuern wäre es zu langsam.
Es ist also kein Wunder, dass unsere Aktionen erst nachher bewusst werden, denn sie kommen von gespeicherten Entscheidungen.
Buddhismus
Im Buddhismus geht man davon aus, dass Bewusstsein eine Illusion ist, da: “daß die Lebensdauer eines Lebewesens genau genommen nicht länger sei als die Dauer eines Gedankens.” (Zitat aus: Grundlagen tibetischer Mytik, Lama Anagarika Govinda, Fischer verlag, 1975).
Eine Gefühl von Kontinuität ergibt sich, weil eine Folge von einzelnen Erlebnissen, aus dem Gedächtnis hervorgeholt, den Eindruck eines zusammenhängenden Ablaufes vortäuscht.
Bewusste sind von unbewussten Erlebnisse dadurch unterscheidbar, wie intensiv sie erlebt werden (Stichwort: Unaufmerksamkeitsblindheit). Konzentriert das Gehirn seine Arbeit auf ein Erlebnis (aktueller Sinneseindruck oder Gedächtnisinhalt), wird es bewusst.
D.h. die Idee eines freien Willens ist mit Vorsicht zu diskutieren, da es einen vom Gehirn unabhängigen Willen nicht geben kann: Bestimmte Aktivitäten laufen zwar automatisch ab – allerdings haben wir ein Gedächtnis in welchem unterschiedliche Handlungsalternativen gespeichert sind.
Und das ist der Unterschied zu Froschschenkeln – wir haben eine Möglichkeit, aus mehreren Alternativen zu wählen.
Außerdem hat das Gehirn die Aufgabe vorausschauend zu planen und zu handeln – d.h. es muss dem aktuellen Erleben in seiner Planung und Handlung vorauseilen. Für diesen Zweck haben wir eine Bibliothek von abgespeicherten Handlungsanweisungen: das Gedächtnis. Daraus wird eine zum aktuellen Sinneseindruck passende Anweisung bei Bedarf herausgeholt und aktiviert – aber dabei auch gleichzeitig mit der empfundenen Realität auf Plausibilität abgeglichen.
Noch ein Beispiel dazu:
Vor 30 Jahren waren die Personalcomputer noch sehr langsam.
Besonders langsam waren sie zum Beispiel beim Ziehen der Quadratwurzel.
Man konnte sie aber mit einem Trick schneller machen:
Man legte eine Tabelle der Quadratwurzeln aller ganzen Zahlen von zum Beispiel 0 bis 1000 an.
Das Erstellen dieser Tabelle dauerte natürlich einige Zeit.
Wenn dann im laufenden Betrieb nach der Quadratwurzel einer bestimmten Zahl verlangt wurde, konnte sie der Computer sehr schnell aus dieser Tabelle holen.
Implizites Wissen, wie das Ziehen einer Quadratwurzel, ist langsam, und explizites Wissen, wie die Tabelle aller in Frage kommenden Quadratwurzeln, ist schnell.
Keine Frösche determinieren, bitte
Was das für Vorstellungen vom freien Willen bedeuten soll, erschließt sich mir nicht; wahrscheinlich gehöre ich hier einfach zu den notorisch blöden.
Andererseits vergessen aber viele der neuen Neurodeterministen, dass ein wenig unbewusste Determination nicht reicht, um Willensfreiheit zu kippen; so weit war Freud auch schon; und vor ihm Schopenhauer und wer weiß wer noch.
Man müsste schon zeigen, dass alles unbewusst determiniert ist. Da stehen die Chancen aber angesichts mehr als hundert Jahren psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung schlecht. Ironischerweise berichten manche der neuen Unfreiheitsverfechter an anderer Stelle selbst von bewusster Steuerung (z.B. Jolij & Lamme [2005]. Repression of unconscious information by conscious processing. PNAS 102: 10747-10751).
Auch wenn es heute natürlich kaum noch echte Vitalisten geben dürfte, zeigt doch bsp. auch die Idee des “Molekularen Vitalismus”, dass die Frage — allem Marketing von Craig Venter zum Trotz — noch nicht vom Tisch ist (Kirschner, Gerhart & Mitchison [2005]. Molecular “Vitalism”. Cell 100: 79-88). Nach meinen bisherigen Erfahrungen habe ich aber keine Lust mehr, das online zu diskutieren.
Was die rechtlichen Implikationen angeht, da muss ich dich leider enttäuschen, lieber Markus. Außerdem hatten wir diese Diskussion schon — vor mehr als hundert Jahren (vgl. Schleim, Spranger & Walter [2009]. Von der Neuroethik zum Neurorecht? Vandenhoeck & Ruprecht; oder die historische Arbeit deines Berliner Kollegen Hans-Ludwig Kröber, z.B. hier; oder Kap. 4 & 5 meines neuen Buchs “Die Neurogesellschaft”).
Mehr rechtliche Implikationen als zuckende Froschschenkel könnte allerdings mit Blick auf die Anfechtbarkeit von Ergebnissen das vorherige Veröffentlichen von Klausurfragen und -antworten haben. Aber das war natürlich nur ein Scherz von dir. 😉
Zitterfisch
Danke an alle Kommentatoren!
Nur wenig von mir dazu:
Ich schließe mich keineswegs Anthony R. Cashmore an, eigentlich habe ich gar keine fundierte Meinung dazu. (Dem “Molecular Vitalism” würde ich sicher reflexartig sehr kritisch gegenüber stehen, kenne aber das Konzept nicht.)
Die Aussage meines Beitrags ist für mich eher, das mathematische Fragen, wie das einsetzen von Oszillationen, mit Beispielen in einen Kontext gesetzt werden kann, der hoffentlich das Lernen erleichtert. Den Zitterfisch der einen Froschwecker in Gang setzt, vergisst man nicht so leicht. Und auch der Kontext zu aktuellen Debatten kann Interesse wecken (welches ich selbst nicht mal teilen muss, daher halte ich mich auch hier zurück).
Übrigens, es gibt nur eine mündliche Prüfungen und da es noch keine Gedächtnisprotokolle gibt, halte ich dies hier für eine faire Sache 😉 Meistens kündige ich Fragen auch offen in der Vorlesung an. Ich merke immer sehr schnell in mündlichen Prüfungen, ob der Stoff in seiner Tiefe verstanden wurde. Letztlich ist also die Kenntnis der Frage keine Hilfe. Und selbst meine Antwort ist ja eigentlich nur eine weitere Frage. Denn plump Stichwörter aneinanderreihen, entlarvt sich schnell. (Kleine Warnung hier!)
@ Markus: Didaktische Frösche
Didaktisch sicher sehr geschickt, das so zu verknüpfen, da gebe ich dir Recht. Ich wünschte, ich könnte das auch. Vielleicht kommt das mit der Erfahrung.
Die drei Biologen (übrigens recht renommiert: Harvard Medical School, UC Berkeley) wollen natürlich nicht den Vitalismus wiederauferstehen lassen; aber in dem Paper legen sie dar, dass das eigentliche Rätsel, das der Vitalismus beantworten wollte, auch heute noch nicht gelöst ist — eben was Leben ausmacht. Am Ende äußern sie ihren Optimismus, dass die molekulare Biologie das nun lösen wird.
Ich denke, es spricht nichts gegen Hinweise vor Klausuren. Gemäß dem Gleichheitsgrundsatz muss das aber wahrscheinlich in einer Form geschehen, die allen Studierenden gleichermaßen zugänglich ist.
Freier Wille
Wenn man zwei Objekte auf die zwei Waagschalen einer alten Balkenwaage legt, dann ist das Verhalten der Waage durch den Masseunterschied der beiden Objekte determiniert.
Aber nur dann, wenn die Balkenwaage frei schwingen kann, findet das determinierte Ereignis auch statt.
Der freie Wille entspricht der frei schwingenden Balkenwaage, wenn er zwischen zwei Bedürfnissen abwägt.
Ohne diese freie Willensentscheidung würde das durch die Bedürfnisse determinierte Verhalten nicht stattfinden.
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Alle Ursachen kommen von ausserhalb des Menschen.
Wenn ein Mensch völlig frei von Sollwerten oder Wünschen ist, dann wird er weder etwas denken, noch etwas tun, sondern völlig entspannt vor sich hin vertrocknen.
Die Bestrafung unerwünschter Verhaltensweisen dient nicht zur Rache, sondern dazu, die Motivation potentieller Täter zu beeinflussen.
Didaktische Frösche für alle
Stephan, ich stimme Dir da völlig zu, Änderung im Text habe ich schon gemacht, den letztlich ist das wirklich ein sensibles Thema. In einer der nächsten Vorlesungstunden werde ich dies dann nachholen.
Sind da Pferde drin?
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@Markus A. Dahlem: »Ich schließe mich keineswegs Anthony R. Cashmore an, eigentlich habe ich gar keine fundierte Meinung dazu. «
Hmm… also ich bin wie Cashmore der (halbwegs fundierten) Meinung, dass da, nach allem, was wir wissen, keine Pferde drin sind.
Aber gut, der Beweis, dass dem wirklich so ist, steht noch aus, es könnte ja sein, dass wir die Pferde nur noch nicht gefunden haben. Tatsächlich denke ich, dass es diesen Beweis niemals geben wird. Insofern ist der Animismus nicht tot zu kriegen… 😉