Warum Remdesivir (noch) nichts bringt

Kurz ein paar Punkte zur Einordnung von Remdesivir als Mittel gegen das Coronavirus. Zum einen scheint wieder einer dieser Wunderdrogen-Hypes anzurollen, die wir bei ein paar anderen Medis auch schon gesehen haben – zum Beispiel Kaletra ganz am Anfang und Hydroxychloroquin im April. Weder Hersteller noch US-Regierung wehren sich gegen den Eindruck, dass sich mit Remdesivir alles ändern wird.

Andererseits hält die medizinische Bedeutung des Ergebnisses den Wundermittel-Erwartungen offensichtlich nicht stand. Das übersetzen einige Leute jetzt als “komplett nutzlos”, meistens verbunden mit dem üblichen (und nicht ganz unberechtigten) Anti-Pharma-Rant. Aus meiner Sicht ist es – Überraschung – ein bisschen komplizierter.

Aus meiner Sicht können wir – trotz einiger offener Fragen[1] – aus der Studie mitnehmen, dass Remdesivir anscheinend seine biochemische Funktion auch beim Sars-CoV-2 im menschlichen Körper erfüllt.  Das ist prinzipiell gut, denn ein wirksames Medikament gegen Covid-19 ist besser als keins[2].

Nur: im Moment ist völlig unklar, wie man den Wirkstoff in der Praxis nutzen soll, um Covid-19 einzudämmen. Man darf sich das eben nicht so vorstellen, dass man jetzt – wie bei Antibiotika – ein paar Pillen einschmeißt und die Krankheit ist weg. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe.

Warum Remdesivir bei schwer Kranken nicht funktioniert

Das Molekül ist ein Nucleosid-Analog – das heißt, das Imitat eines Bausteins der RNA, mit dem großen Unterschied, dass er beim Zusammenbau der Virus-RNA in der Zelle Ärger macht. Konkret baut ein vom Virus mitgeliefertes Enzym namens RNA-abhängige RNA-Polymerase (RdRp) in der infizierten Zelle virales Erbgut für die von der Zelle produzierten neuen Virenpartikel zusammen.

Der Nucleosid-Ähnliche Teil des Remdesivir-Moleküls wird mit ins werdende Viruserbgut eingebaut. Aber wenn dieses Molekül enthalten ist, funktioniert der weitere RNA-Zusammenbau immer schlechter und die RNA bleibt unvollständig. Viruspartikel mit unvollständigem Erbgut richten keinen weiteren Schaden an. So weit, so gut. Allerdings wird das Virus nur gebremst, nicht gestoppt[3].

Remdesivir

Zusätzlich laufen alle anderen Auswirkungen der Infektion auch mit Remdesivir einfach weiter: Bereits in der Blutbahn vorhandene Viren infizieren weiter Körperzellen und regen die Immunreaktion an, bereits infizierte Körperzellen produzieren weiter im Akkord Virenproteine, statt ihre Funktion zu erfüllen, Immunzellen detektieren die infizierten Zellen und zerstören sie, womöglich samt umliegender Gewebe.

Der Witz an der Sache ist also, dass Remdesivir an der zugrunde liegenden Ursache ansetzt. Aber Patientinnen und Patienten mit schweren Verläufen sterben ja nicht am Virus, sondern an all den Symptomen, die mit dem Virus selbst nur sehr indirekt zusammenhängen. Wenn die Leute schon an der Beatmung hängen, ist es in vielen Fällen zu spät für Remdesivir. Möglicherweise liegt daran auch die nicht wesentlich geringere Sterblichkeit, die den Nutzen des Stoffes allgemein in Frage stellt.

Ist Remdesivir deswegen also nutzlos? Jein. Leute schneller aus der Klinik zu bekommen, ist ja auch schon nicht komplett irrelevant, wenn die Krankenhäuser dadurch entlastet werden. Ich vermute auch, wenn man Leute kurz nach dem Einsetzen der Symptome damit behandelt, verläuft die Krankheit viel weniger schwer als ohne Remdesivir: Je früher, desto besser ist bei antiviralen Wirkstoffen ein recht typisches Muster.

Unglücklicherweise hilft uns das nicht weiter, denn soweit ich das sehen kann, hat man nur zwei nicht wirklich tolle Optionen[4]. Entweder behandelt man früh auf Verdacht alle, auch wenn sehr viele Leute es gar nicht bräuchten – oder man wartet, bis klar ist, wer wirklich in Lebensgefahr ist. Bei Variante 2 kommt man zu spät, um die Mehrzahl der Todesfälle zu vermeiden.

Zu wenig Medikamente, zu viele Leute

Variante 1 krankt wiederum an mehreren Schwierigkeiten. Zum einen kennen wir die Nebenwirkungen nicht. Bei einem Lebensretter in akuter Gefahr ist das nicht so tragisch. Das ändert sich aber, wenn man präventiv die 80 Prozent behandelt, die eigentlich gar nicht ins Krankenhaus müssten.

Das ist das zweite Problem, mit Remdesivir müssten sie das nämlich. Das Zeug wird im Magen zerlegt und muss deswegen direkt in die Blutbahn gehen. Tropf heißt professionelle medizinische Versorgung. Wer soll das alles machen?

Man hat für die Strategie auch gar nicht genug Remdesivir. Komplexe Moleküle kann man nun mal nicht einfach herbeizaubern. Man stellt das Zeug in mehreren mehr oder weniger komplizierten Schritten her, die fast alle bei irgendwelchen Lieferanten in Indien und China stattfinden. Alle Zwischenprodukte müssen zwischendurch noch gereinigt und kontrolliert werden.

Die größte Hürde im Moment ist allerdings, dass man eine Reaktion nicht einfach zehn mal so groß machen kann wie geplant. Bei Ebola, für das Remdesivir entwickelt wurde, bräuchte man einige tausend Medikamentendosen pro Jahr, wenn’s hoch kommt. Beim Coronavirus haben wir nach ein paar Monaten Millionen Infizierte. Auch wenn man sich ordentlich streckt, dürfte die Nachfrage nach Remdesivir das Angebot um ne Größenordnung oder mehr übersteigen.

Wobei wir das Zeug in Europa bis auf Weiteres ohnehin nicht bekommen werden – oder nur gegen politisches Wohlverhalten. Die FDA hat zusammen mit der Zulassung gleich auch strikte Kontrollen über die Verteilung des Medikaments eingeführt hat. Demnach soll Gilead das Medikament an “autorisierte Verteiler oder direkt an eine US-Regierungsbehörde” abgeben, die das dann “wie von der US-Regierung vorgegeben” nach Bedarf verteilen[5].

Aus meiner Sicht muss man erstmal akzeptieren, dass Remdesivir uns derzeit aus den genannten Gründen nix bringt. Damit man das Potenzieal des Stoffes nutzen kann, braucht man andere Medikamente, die seine Schwächen ausgleichen. Eine Kombinationstherapie, die gleichzeitig das Virus hindert, weiter Zellen zu infizieren und die tödlichsten Symptome angeht, könnte dann tatsächlich auch bei Schwerkranken einen Unterschied machen.

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[1] Vorausgesetzt man kann NIAID dieser Tage mit solchen Resultaten noch vertrauen. Das ist inzwischen natürlich das große Fragezeichen bei US-Regierungsbehörden, die ja teilweise ziemlich brachial trumpifiziert werden.
[2] Es gibt ja auch noch die Lancet-Studie, die gleichzeitig gar keinen signifikanten Effekt gefunden hat – allerdings mit einer weit kleineren Stichprobe. Andererseits war auch die Sterblichkeit in der NIAID-Studie mit Remdesivir ein Drittel geringer als ohne. Das Ergebnis ist nur nicht statistisch signifikant, mit nem p-Wert von 5,9 Prozent. Dieser kleine Factoid ist insofern ganz interessant, weil der Endpoint der Studie ja zwischendrin geändert wurde. Die Vermutung liegt einerseits nahe, dass das gemacht wurde, um trotz des nicht signifikanten Ergebnisses bei der Sterblichkeit nen Erfolg vermelden können. Andererseits, warum manipuliert man nicht einfach den p-Wert, wenn der eh schon so nah dran ist?
[3] Zwei kleine Feinheiten gibt es dabei. Zum einen passen die echten Bausteine um ein Vielfaches besser zur RdRp verschiedener RNA-Viren als Remdesivir und werden mit entsprechend höherer Wahrscheinlichkeit eingebaut. Wie groß der Faktor ist, wissen wir derzeit noch nicht, bei Ebola ist er etwa vier. Zum anderen hat das Virus einen Fehlerkorrekturmechanismus, der den eingebauten Wirkstoff wieder rausschmeißt. Dadurch entstehen auch mit Medikament noch funktionierende Viren.
[4] Es gibt noch ne dritte, und die heißt Triage. Man guckt, wer mit der höchsten Wahrscheinlichkeit profitiert, und gibt denen das Medikament so früh wie möglich – das heißt, nur Risikogruppen bekommen das Medikament, weil es bei denen viel seltener überflüssig ist. Da glaub ich nicht dran. Du kannst der Gesellschaft Triage vermitteln, wenn die Alten und Schwachen aussortiert werden, aber nicht, wenn die Gesunden verzichten müssen.
[5] Fachleute (und Investoren) vermuten deswegen, dass Gilead unter diesen Umständen mit Remdesivir nicht eben reich wird (außer als Teil politischer Deals), oder sogar Geld verliert. Siehe 2001 mit Bayer und Ciprofloxacin.

4 Kommentare

  1. Für mich erscheint dieses ganze Hin und Her um Remdesivir eine typische Aktion zur Manipulation des Aktienkurses.
    Wenn es schon so eine Pandemie gibt, will da zumindest wer dran verdienen.
    Gezielt gestreute Informationen zur rechten Zeit, ob gut oder schlecht ist dabei egal, wirken immer auf den Aktienkurs.
    Wäre ja nicht das erste Mal, dass sowas gezielt gemacht wird.

  2. Vielen Dank, das war sehr aufschlußreich und gut nachvollziehbar. Wäre schön, wenn man das woanders auch (zumindest in Grundzügen) dazugesagt bekäme…

  3. Besonders hinderlich für die Wirksamkeit ist auch die Korrekturlesefähigkeit, die bei Coronaviren wohl recht ausgeprägt ist. Dadurch ist so ein Einbau für Coronaviren, wohl weniger effizient, als für andere RNA Viren.

  4. Hallo Herr Fischer,
    ich stimme Ihnen bzgl. Ihrer Einschätzung zu Remdesvir und Co. absolut zu.
    Ein anderer, meiner Meinung nach ganz interesanter Ansatz ist aus dem Wirkstoffscreening des European Screening Port entstanden. Veröffentlichung vom ESP (Früher European Screening Port in Hamburg, nun Teil des Fraunhofer IME):
    https://www.researchsquare.com/article/rs-23951/latest
    Es wurden Substanzen gefunden, die in Zellkultur die SARS-Cov2 Viruslast reduzieren. Als sehr effektiv wurde u.a. der zugelassene Wirkstoff Cetylpyridinium Chlorid (CPC) identifiziert. CPC findet sich in Halslutschtabletten und -sprays.
    Es klingt erst einmal albern, dieses raffinierte und eben auch u.U. tödliche Virus mit Halslutschtabletten zu bekämpfen. Allerdings finde ich den Gedanken ausgesprochen attraktiv in der Frühphase der Infektion die Virusvermehrung zu reduzieren, dadurch bis zur Infektion der Lunge Zeit zu gewinnen und so die Chancen des Immunsystems zu stärken. Vor allem bei der RIsiko/Nutzenabschätzung gewinnt bei mir CPC.
    Es macht Ihnen sicher Freude, mit ihren chemischen Kenntnissen diese Hypothese zu prüfen und zu bewerten, oder?
    Mit besten Grüßen,
    Katja Werner

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