Verändert die Grippeimpfung menschliches Verhalten?
BLOG: Fischblog
In einer Studie haben Probanden nach der Grippeimpfung mehr Sozialkontakte als sonst. Macht der Erreger Menschen unbewusst extrovertierter, um sich besser zu verbreiten?
Die Geschichte mit der Zombie-Ameise, die sich von einem Parasiten gelenkt in einen Grashalm verbeißt, hat wohl jeder schon mal gehört, und im Tierreich sind reichlich andere Beispiele solcher unheimlicher Fremdsteuerungen bekannt. Das ist gruselig, aber taxonomisch beruhigend weit entfernt. Man hat es bis vor kurzer Zeit schlicht für unmöglich gehalten, dass Mikroorganismen dazu in der Lage sein könnten, menschliches Verhalten zu manipulieren. Aufs Krankenlager werfen ja, fernsteuern – nein.
Daran sind inzwischen Zweifel aufgekommen, dank dem häufig vorkommenden Einzeller Toxoplasma gondii, der unter anderem auch Menschen befällt. Derzeit gewinnt die These Anhänger, dass Toxoplasma auch bei uns subtile Veränderungen der Persönlichkeit hervorruft. Was aber, wenn das nur die Spitze des Eisberges ist? Ich bin auf eine Forschungsarbeit gestoßen, die womöglich genau das nahelegt.
Die Veröffentlichung in Annals of Epidemiology befasst sich mit menschlichem Verhalten während einer Infektion. Wir wissen, dass wir als Reaktion auf die Krankheitssymptome unser Verhalten ändern – jammern, schniefen, Wadenwickel – die beteiligten Forscherinnen und Forscher fragen sich jedoch, ob der Erreger schon vor dem Einsetzen der Symptome unser Tun und Lassen manipuliert.
Von der Grippe gesteuert?
Man könnte ganz einfach herausfinden, ob ein Krankheitserreger das Verhalten von Menschen beeinflusst, indem man gesunde Menschen mit dem Pathogen infiziert und dann guckt was passiert. Allerdings sind derartige Menschenversuche in der Medizin seit ein paar Jahren verpönt. Es gibt aber noch eine Möglichkeit. Bei einer Impfung nämlich tut man nichts anderes als das Immunsystem gezielt mit einem Erreger oder seinen Komponenten in Kontakt zu bringen. Natürlich sind die Impfstoffe darauf ausgelegt, nur die erwünschte Immunreaktion, nicht aber die Krankheit selbst hervorzurufen – trotzdem können dabei auch andere, unerwartete Effekte auftreten, wie die Studie von Reiber und Moore demonstriert.
Vor der Grippe noch schnell zum Festival? Bild: Lars Fischer, CC-BY-SA
Das in der Veröffentlichung beschriebene Experiment basiert auf der Hypothese, dass ein Virus, das durch Kontakt zwischen Menschen übertragen wird, von mehr zwischenmenschlichen Kontakten in der infektiösen Phase profitiert, und uns deswegen nach der Infektion Gesellschaft suchen lässt. Das klingt beängstigend, umso mehr als bei der Grippe genau das zu passieren scheint.
Die Grippe ist für diesen Versuch gut geeignet, weil es hier jährliche Impfkampagnen mit einem standardisierten und gut erforschten Impfstoff gibt und der fragliche Zeitraum recht kurz ist. Grippeinfizierte sind etwa zwei Tage nach der Impfung Infektion maximal infektiös, und nach dieser Zeitspanne setzen auch bald die Symptome ein, die Infizierte recht zuverlässig daran hindern, in Gesellschaft einen drauf zu machen. Für das Experiment reicht es also, Daten über das Verhalten an zwei Tagen zu sammeln, was mit einer sorgfältigen Befragung mühelos möglich ist.
Die Wissenschaftler verwendeten die Probanden als ihre eigene Kontrollgruppe, indem sie ihre sozialen Kontakte an den zwei Tagen vor der Impfung, den zwei Tagen danach und noch mal an zwei Tagen einen Monat später abgefragt haben – insgesamt also zwei Tage, an denen sie einen Effekt erwarteten und vier “normale” Tage zur Kontrolle. Die zwei Tage einen Monat später waren für alle Patienten die gleichen Wochentage wie die beiden Tage direkt nach der Impfung, um zu verhindern, dass Wochenenden zu falschen Party-Signalen führen.
Grippeimpfung – unvorhergesehene Nebenwirkungen? Bild: CDC
Natürlich haben die Teilnehmer nicht erfahren, dass es um die Grippeimpfung ging – die Forscher haben ihre Testpersonen einfach in einer Impfstelle angesprochen. Der Vorwand war eine Untersuchung über Sozialverhalten und Gesundheitszustand, so dass die Forscher auch gleich eventuelle Störeffekte durch andere Erkrankungen auf dem Schirm hatten.
Ein Problem der Studie, das sich nicht so einfach wegdiskutieren lässt, ist die geringe Teilnehmerzahl. Die Befragungen sind relativ aufwendig, so dass man nicht einfach mal hunderte Leute rekrutieren kann. In diesem Fall haben 26 Probanden die Studie mitgemacht, das ist nicht so wahnsinnig viel und vor allem zu wenig um wirklich definitive Aussagen zu treffen.
Mehr Kontakte nach der Impfung
Das Ergebnis ist trotzdem bemerkenswert, wie man in der Abbildung erkennen kann: Die Wertebereiche für die drei Zeiträume überlappen sich zwar, man erkennt aber für den Zeitraum nach der Impfung eine recht deutliche Verschiebung in Richtung mehr Sozialkontakte, in Einzelfällen weit mehr. Das liegt nicht daran, dass die Leute mehr unternommen hätten, sondern dass die Anzahl der Kontakte pro Ereignis massiv nach oben gegangen ist. Die durchschnittliche Anzahl an Personen, mit denen die Probanden interagierten, hat sich nach der Impfung glatt verdoppelt. Die Forscher verweisen darauf, dass sich an den Zahlen nicht merklich etwas ändert, wenn man den einen extremen Teilnehmer aus der Studie herausnimmt, der nach der Impfung (angeblich spontan) eine Veranstaltung mit 1000 Gästen organisierte…
Anzahl der Sozialkontakte bei der Probandengruppen in den jeweiligen Zwei-Tages-Zeiträumen. Quelle: Reiber et al., Ann Epidemiol 2010;20:729–733.
Es lohnt sich nicht, die Zahlen zu genau anzugucken, weil die Gruppengröße zu klein ist, um da detaillierte Schlussfolgerungen zu ziehen. Außerdem bin ich bei Selbstauskünften notorisch skeptisch. Insgesamt deutet das Ergebnis aber schon darauf hin, dass da etwas unheimliches passiert.
Das Ganze ist umso kurioser, weil für die ursprüngliche Hypothese eine wichtige Komponente fehlt: Das Grippevirus selbst nämlich. Der Impfstoff enthält nämlich nur das Hämagglutinin der Grippeviren, also die spezifischen Antigene, die das Virus an seiner Oberfläche präsentiert, und auch die nur in weitaus kleineren Konzentrationen als sie während einer echten Grippeinfektion im Körper auftreten. Was also definitiv in diesem Versuch nicht passiert ist, ist eine klassische Zombiefizierung durch den Erreger nach dem Muster der bedauernswerten Ameise.
Viele Fragen, wenig Antworten
Die Forscher überlegen, ob es sich um eine bewusste Reaktion handelt, dass sich die Teilnehmer dank der Impfung für besser geschützt hielten und deswegen aktiver waren. Sie verwerfen die Hypothese mit dem Argument, dafür hätte die Befragung Indizien zutage gefördert und das sei nicht der Fall gewesen. Kann ich nicht beurteilen, aber ich halte die Argumentation auch für eher waghalsig. Eine Reaktion auf die Befragung nach dem Sozialverhalten ist auch unwahrscheinlich, denn die hätte sich bei der Kontrolle vier Wochen später ebenfalls gezeigt
Bleibt als Übeltäter nur die Immunreaktion. Die produziert Cytokine und Chemokine, die sehr wohl aufs Zentralnervensystem wirken können. Ob sie es tun, weiß man nicht, und auch nicht wie. Und damit stellt sich natürlich auch die Frage, ob die ursprüngliche Hypothese, dass der Erreger profitiert, überhaupt richtig ist. Vielleicht sind wir auch diejenigen, denen das zugute kommt, eventuell weil für eine Menschengruppe eine kurze, heftige Epidemie weniger schädlich ist als eine, die sich hinzieht. Spekulation. Im Moment produziert das Experiment von Reiber und Moore weit mehr mehr Fragen als es beantwortet.
Einen Ausweg gibt es natürlich noch: Es ist möglich, dass alle drei beobachteten Verteilungsmuster der Sozialkontakte für den Zeitraum von zwei Tagen ziemlich normal sind und man derartige Schwankungen in einer derart kleinen Stichprobe schlicht erwarten kann. Dann wäre die zur Hypothese passende Anordnung der drei Tage Zufall. Es wäre allerdings schon ein erstaunlicher Zufall.
Just me …
Bei mir liegt es klar daran, dass ich geschützt bin, mich sicherer fühle und eine ewige Krankheit nicht fürchten muss (als Impfung nicht möglich war, lag ich über einen Monat flach).
Hätte mich mal wer gefragt 😉
Dass über diese Verhaltensänderungen nachgedacht, bzw. darüber geforscht wird, ist aber einleuchtend. Sehr spannend – und danke für die gute Zusammenfassung.
Nachtrag
Mir ist, nicht nur beim Heraufziehen einer Virusgrippe (dreimal war mehr als genug), aufgefallen, dass ich am Tag bevor ich mich krank fühle Bäume ausreißen könnte – nicht müde werde und enorm aktiv war, besonders mit anderen/ vermutlich auch wieder sein werde. Läge doch “im Interesse des Virus” sich heftig weiter zu verbreiten, und zwar bevor man merkt, dass es einem erwischt hat und man eh nur noch im Bett liegt.
Wurde auch danach gefragt?
Sorry, aber ich kann nur von mir ausgehen, so nervig das wohl ist. Und dachte bisher immer, ich wollte alles erledigen, bevor ich danieder liege. Die umgekehrte Art kommt mir logischer vor, so gesehen.
sozialkontakt als ursache der impfung?
wurde in der studie auch untersucht, ob vielleicht eine geplante erhöhung der sozialkontakte in den nächsten tagen den impfgang überhaupt erst veranlasst hat? ich könnte mir vorstellen, dass geplante aktivitäten während der grippezeit durchaus als anlass zu einer impfung herhalten können.
@Theres
Im Paper selbst wird von gesteigerter Aktivität nichts erwähnt, nur dass die Anzahl der “Events” pro Person (d.h. rausgehen und Leute treffen) nicht signifikant steigt (von 19 auf 22 in 2 Tagen).
Ich bin mit dem Questionnaire nicht vertraut, insofern kann ich nicht sagen, ob das nicht abgefragt wird oder ob sie die Ergebnisse nur nicht erwähnen.
@Thorsten
Interessanter Gedanke. Explizit ist diese Option jedenfalls nicht erwähnt.
@Thorsten
Obwohl, eigentlich ist die Möglichkeit abgedeckt. Die Forscher diskutieren ja spezifisch, ob die Probanden bewusst als Reaktion auf die Impfung mehr unternehmen. Da würde nach meinem Verständnis auch drunter fallen, wenn sie das von vornherein so geplant haben.
Ich sehe jedenfalls nicht wie man das eine abfragen kann, ohne auf das andere zu stoßen.
Impfstudie doppelblind??
Erhöht die Impfung die Kontaktfreudigkeit? Das kann man doch nur mit einer Doppelblindstudie nachweisen, also einer Studie mit zwei Gruppen, von denen jede eine “Impfung” erhält, die eine Gruppe aber mit physiologischer Kochsalzlösung und die andere mit echter Vakzine. Denn – und das scheint mir naheliegend – die Aufmerksamkeit die ein Studienteilnehmer erhält, verändert sein Verhalten ebenfalls.
Die verlinkten Materialen haben mich aber im unklaren gelassen wie die Studie konkret durchgeführt wurde.
Japp
Das ist natürlich richtig: Weitergehende Aussagen sind mit einer solchen ad-hoc-Ministudie nicht möglich, und schon gar nicht über die genaue Ursache des Effekts.
Verändert die Grippeimpfung Verhalten
Prima Beitrag, in dem der wunde Punkt der ganzen Geschichte gut herausgestellt wird:
“..
Das Ganze ist umso kurioser, weil für die ursprüngliche Hypothese eine wichtige Komponente fehlt: Das Grippevirus selbst nämlich. Der Impfstoff enthält nämlich nur das Hämagglutinin der Grippeviren”
Genau, das Virus selbst fehlt, also ist schon der Ansatz, der für die Überprüfung der Hypothese gewählt wurde, mehr als fragwürdig. Ich finde die Studie an sich sehr bedenklich, weil sie, wenn nicht so differenziert wie durch Lars Fischer darüber berichtet wird, möglicherweise noch mehr Ängste gegenüber Impfungen schüren würde, als ohnehin schon vorhanden sind.
Zwei kleine Hinweise: doch es gibt tatsächlich Studien mit Probanden, die sich freiwillig mit Grippeviren haben infizieren lassen (Temporal dynamics of host molecular responses differentiate symptomatic and asymptomatic inluenza A infection, PLoSGenetics August 2011)
und einen Satz in dem Artikel verstehe ich irgendwie nicht: “..Grippeinfizierte sind etwa zwei Tage nach der Impfung maximal infektiös, und nach dieser Zeitspanne setzen auch bald die Symptome ein, die Infizierte recht zuverlässig daran hindern, in Gesellschaft einen drauf zu machen.”
Warum denn Grippeinfizierte? Nach der Impfung ist doch keiner grippeinfiziert, oder ?:)
Der Satz
bezieht sich auf die Originalhypothese. Wenn die stimmt, sollte sich der Effekt in diesem maximal infektiösen Zeitfenster zeigen.
Ich finde die Vorstellung, dass nicht der Erreger selber, sondern die von ihm ausgelöste Immunreaktion einen Verhaltenseffekt in der präsymptomatischen Phase hat, übrigens keineswegs abwegig.
Der Satz
ist mir auch aufgefallen und sollte eher “zwei Tage nach der Ansteckung” lauten, oder? Sonst kommt man wirklich auf den schrägen Gedanken, dass Geimpfte ansteckend sind.
Au weia, stimmt.
Das ist mir nicht aufgefallen. Wird korrigiert, danke.
@Theres
Ja, das ist mir auch vor Kurzem aufgefallen. Ich nehme es seit einiger Zeit zur Kenntnis, wenn ich ab 17:00 hundemüde werde. Früher habe ich dann Tee getrunken, um wieder wach zu werden, jetzt lege ich mich ins Bett. Etwa 5 Tage später kommt dann der Erkältungsausbruch. Möglicherweise 1 oder 2 Tage vor dem Ausbruck kommt ein hyperaktiver Tag, allerdings nicht mit gesteigertem Wunsch nach Sozialkontakten.
@Lars Fischer
Nein, dass die Immunbotenstoffe unser Verhalten beeinflussen, ist ja nicht die Frage und auch nicht abwegig. Was mich stört, ist dieser Gedanke an sich, der grundsätzlich hinter dieser Studie steht: “..dass ein Virus, das durch Kontakt zwischen Menschen übertragen wird, von mehr zwischenmenschlichen Kontakten in der infektiösen Phase profitiert, und uns deswegen nach der Infektion Gesellschaft suchen lässt…” Schließlich hat ein Virus keine “Macht” über unser Immunsystem und schon gar nicht über die Effekte im Nervensystem, die durch die Immunbotenstoffe ausgelöst werden. Das sind ja gerade bei Virusinfektionen ganz stereotype Reaktionen, die immer nach dem gleichen Grundschema ablaufen, egal, welche Inkubationszeit das bereffende Virus nun gerade hat und egal, ob man es mit Viren zu tun hat, die per Tröpfcheninfektion übertragen wird (wie das Grippevirus)oder solchen, die andere Ansteckungswege nutzen (über das Blut oder fäkal/oral).
Also…
Da wäre ich mir nun ganz und gar nicht sicher.
@Ulrike Gebhard
Wenn man vom Dawkins’schen Standpunkt aus den Menschen als komplizierte Überlebensmaschine seiner eigenen Gene betrachtet, so liegt der Gedanke ja nicht fern, dass diese Maschine auch von anderen (parasitären Virus-)Genen für die eigene Reproduktion genutzt wird. Induzierte Verhaltensänderungen könnte man dann doch durchaus mit “Macht haben über” umschreiben. Ist halt eine Frage der Sichtweise.
“Macht haben über”
Ganz dramatisch etwa bei Tollwut zu beobachten.
macht keinen rechten Sinn
Erst mal: ich habe leider keinen Zugriff auf die Originalarbeit. Ich kann mich auch nicht entsinnen, dass sie bei ihrem Erscheinen vor fast anderthalb Jahren ein großes Presseecho hatte. In jedem Fall würde aber eine entsprechende Änderung des Verhaltens keinen Sinn ergeben. Erstens sind die Menschen von den ca. 190000 Jahren ihrer Existenz ca. 180000 in kleinen Gruppen umhergezogen, in denen ohnehin jeder jeden ständig traf. Die Induktion einer Verhaltensänderung macht eigentlich nur in vergleichsweise großen Städten Sinn, wie es sie erst seit vielleicht 4000 Jahren in nennenswerter Anzahl gibt. Ferner muss die Sozialstruktur so offen sein (also der Tagesablauf so wenig geregelt), dass sich die Anzahl der Sozialkontakte als unmittelbare Antwort auf die Infektion wesentlich verändern kann. Und schließlich müssten Grippeerreger mit dieser Eigenschaft einen nennenswerten Ausbreitungsvorteil haben, also andere Erreger verdrängen können. Alles das ist aber nicht gegeben.
Ich tippe deshalb auf einen anderen Effekt, der mit dem Versuch zu tun hat.
@Balanus
Super Beispiel mit den Tollwutviren. Aber hier ist es ja nun wirklich das Virus selbst, was durch seine Vermehrung im Gehirn die Verhaltensänderungen und Lähmungen auslöst und weniger die Immunbotenstoffe.
Nicht wirklich frisch
die zitierte studie:
Annals of Epidemiology
Volume 20, Issue 10 , Pages 729-733, October 2010
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Ganz, ganz toll geschrieben. Bussi dafür. Fühle mich auch schon ein wenig fiebrig.