Paul ist nicht mehr unter uns! Oder doch? Ein persönlicher Nachruf auf den „Vater des Anthropozäns“, Nobelpreisträger Paul Crutzen

 

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Traurige Nachrichten

Es tut richtig weh!“ Das war mein erstes Gefühl, als ich vor genau einer Woche, am Donnerstag 28.1.2021 vom Tod von Paul Crutzen hörte, zuerst via email aus „seinem“ Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz, verteilt via Rundmail innerhalb der Anthropocene Working Group (AWG), dann via Twitter, dann via Pressemeldung des MPIC1. „Es tut richtig weh“, das sagte ich auch dem Tagesspiegel, der sich daraufhin meldete, aber betonte auch:  „er war ein Großer, und er war ein Netter, keine Spur von Arroganz – und Leute mitreißen, das konnte er!2.  Ja er war groß und zwar – mit Ausnahme seiner Körpergröße – in jeder Weise. Christian Schwägerl, Wissenschaftsjournalist und Buchautor  (u.a. des Buchs „Die Menschenzeit“3, mit dem das Anthropozän-Konzept erstmalig in Deutschland eine Popularisierung erfuhr) und mehrfacher Interviewer von Paul Crutzen, drückte es vor wenigen Tagen in seinem Nachruf4 so aus: „Er war eine Geistesgröße, eine menschliche Größe und ein Großer der Wissenschaft, dem Reich des Entdeckens, in das er schon als Kind gelangen wollte. Und zugleich einer, der sich eine große Umgänglichkeit und eine beinahe kindliche Neugierde bewahrte“. 

 

Paul Crutzens bekannteste Verdienste

Vieles gibt es nun über ihn zu lesen, über seine Umwege, die er einschlagen musste, um zum Meteorologen und Atmosphärenchemiker zu werden, über seine vielen Wirkstätten, und natürlich insbesondere über seine immensen Verdienste sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kommunikation mit der Politik und letztlich damit auch in der Wirkung auf politisches Handeln. So erhielt er 1995 zusammen mit seinen Mitstreitern Mario J. Molina und Frank Sherwood Rowland den Nobelpreis für seine Erkennung und Analyse der Wirkmechanismen zum Ozonloch – mit Stickoxiden und insbesondere den damals weit verbreiteten Fluorchlorkohlenwasserstoffen als Hauptursachen. Mindestens genau so wichtig war aber sein zusätzlicher Einsatz dafür, dass die schädlichen FCKWs verboten wurden, so dass ihm ein bedeutender Anteil am Zustandekommen des Montreal-Protokolls der Vereinten Nationen zukommt (Abb. 1 rechts). Das Montreal-Protokoll regelte insbesondere den Ausstieg aus den damals als Treib- und Kühlmittel in Spraydosen, Kühlschränken etc. weit verbreiteten FCKWs.  Dieser völkerrechtsverbindliche Vertrag wurde 1987 verabschiedet und trat 1989 in Kraft. Es war das erste Vertragswerk überhaupt, dass von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen – wenn z.T. auch mit einiger Verspätung – ratifiziert wurde. Wow!

Abb. 1: Links Paul Crutzen, rechts Paul als Superheld im Kampf gegen die FCKWs (Comic Strip von Martyna  Zalalyte, Universität der Künste, Berlin, siehe hier.

Ebenfalls bekannt sind – angeregt auch durch die Untersuchung der atmosphärischen Auswirkungen von Vulkanausbrüchen, – seine Arbeiten zu den Auswirkungen eines globalen Nuklearkriegs, also seinen Szenarien zum Nuklearen Winter (durchgeführt zusammen mit einem seiner Studenten, John Birks). Diese Eindrücklichkeit hatte ebenfalls politische Auswirkungen und beschleunigte die Abrüstungspolitik sowie die Vereinbarung von Nuklearabkommen.  

Und dann war da noch das Anthropozän!

 

Der “Vater des Anthropozäns”

Besonders bekannt wurde Paul Crutzen vor allem als „Vater des Anthropozäns“. Seit dem Jahr 2000 verbreitete sich sowohl Name als auch Inhalt des damit verbundenen Anthropozän-Konzepts unaufhörlich. Alles begann bei einer internationalen Konferenz der Erdsystemwisseschaften in Cuernavaca, Mexiko, bei der die im Rahmen des weltweiten International Geosphere Biosphere Programme (IGBP) zusammengekommenen Erdsystemwissenschaftler*innen wieder einmal zusammentrugen, welch immensen und quasi exponentiell zunehmenden Einfluss die Menschheit auf das Erdsystem habe. Anwesende, wie etwa der weltbekannte Klimaforscher Will Steffen berichteten, dass Paul Crutzen emotional bewegt von seinem Sitz aufsprang, zum Mikrophon eilte und zum Ausdruck brachte, dass wir nicht mehr im Holozän (also der seit Ende der letzten Eiszeiten bis formal noch bis heute andauernden erdgeschichtlichen Epoche), sondern „im Anthro… Anthro… (- er rang um einen neuen Ausdruck – ) Anthropozän!“ leben würden (Abb. 1 links).  Damit formulierte er als Erdsystemwissenschaftler vor seiner Community die Hypothese, dass das heutige Erdsystem nicht mehr dem holozänen gleiche. Die erdsystemare Ebene des Anthropozän-Konzepts war geboren (Abb. 2). Alles was bislang zusammengetragen wurde (siehe auch diesen Blog), bestätigt leider diese Hypothese.

Abb. 2: Das Mehrebenekonzept des Anthropozäns, abgeleitet von den Thesen Crutzens (ausLeinfelder 20185 und früheren Arbeiten)

Dadurch, dass er den geologisch-stratigraphischen Begriff des Holozäns erwähnte und in Analogie dazu (sowie zu vorhergehenden erdgeschichtlichen Epochen, wie Pleistozän, Pliozän, Miozän usw.) den Begriff des Anthropozäns in die Welt brachte, postulierte er auch, dass die Auswirkungen der erdsystemaren Änderungen im Anthropozän auch als entsprechenden Niederschlag an Geosignalen (darunter „Technofossilien“ wie Plastik, elementarem Aluminium, Betonfragmenten, radioaktiven Niederschlägen uvm) ihren Ausdruck finden und damit auch über geologische Zeiten nachweisbar sind. Er führte damit auch die geologisch-stratigraphische Ebene des Anthropozän-Konzepts ein (Abb. 2). Auch diese Hypothese ist inzwischen leider durch umfassende neue Forschung bestätigt, so dass die Internationale Kommission für Stratigraphie  (, welche Teil des internationalen Dachverband der International Union of Geological Sciences, IUGS, ist), die „Working Group on the ‚Anthropocene’ (besser bekannt als Anthropocene Working Group, AWG)  eingerichtet hat. Diese Arbeitsgruppe soll prüfen, ob es wissenschaftlich Sinn macht, eine neue erdgeschichtliche Epoche auszurufen und falls ja, wie und ab wann diese zu definieren sei.  Paul Crutzen gehörte von Anfang an zur AWG. Der Prozess ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass die AWG zum Schluss gekommen ist, die formale Definition einer Erdepoche Anthropozän sei sehr sinnvoll. Die Arbeitsgruppe schlug mit überwältigender Mehrheit vor, dass die Untergrenze mit geologisch-stratigraphischen Methoden in der Mitte des 20. Jahrhunderts gezogen werden sollte. Daraufhin wurde von der ICS den Auftrag erteilt, zu untersuchen, wo und wie ein formales Referenzprofil (der sog. „Golden Spike“) dafür definiert werden könne, und wie diese die Definition bedingende Untergrenze weltweit korrelierbar ist. Daran fokussiert die AWG ganz aktuell.

Paul Crutzen ging in seinem kurzen Diskussionsbeitrag im Jahr 2000 aber noch weiter. Er blieb nicht bei diesen beiden analytischen Ebenen stehen, sondern ergänzte (insb. ausgeführt im nach der Tagung publizierten IGBP-Newsletter 416, sowie zwei Jahre später in der hochrangigen Wissenschaftszeitschrift Nature7, dass wir die Lösung der Problemkreise nicht allein der Politik überlassen könnten, sondern dass sich auch die Natur- und Ingenieurswissenschaften kräftig damit beschäftigten müssen. Ich nenne dies die konsequentiale Metaebene des Anthropozän-Konzepts (Abb. 2), die er damit ebenfalls adressiert hat.

 

Kritik am Anthropozän-Konzept

Aber ist das Anthropozän-Konzept nicht auch sehr umstritten? Schon den Namen finden etliche falsch gewählt. Und war es nicht gerade Paul Crutzen, der nun Geoengineering (Solar Radiation Management) sozusagen durch die Hintertür des Anthropozäns einführen möchte? Außerdem:  waren da nicht andere vor Crutzen, die den Begriff bereits nutzen?

Anthropozän bedeutet übersetzt „Das Menschenneue“ oder ggf. besser, das „menschengemachte Neue“. Aus der Sicht der meisten trifft es dies sehr genau. Das darin enthaltene “anthropos”, also der Mensch, ist hier generisch gemeint, nicht etwa so, dass jedes Individuum auf der Erde dieselbe Verantwortung für die schädlichen Auswirkungen auf unseren Planeten habe. Selbstverständlich betrifft die Verantwortlichkeit die einzelnen Menschen und Länder in stark unterschiedlichem Ausmaß, und ja, die hoch entwickelten Länder haben eindeutig den höchsten Impakt, allerdings gilt dies zunehmend auch für die BRICs-Staaten, die sich extrem rasch entwickeln. Und Untersuchungen zum Schadstoffimpakt in Böden und Sedimenten etwa in China oder auch im Teil der früheren DDR zeigen, dass auch in kommunistischen Regimes oftmals keine Unterschiede bezüglich des sedimentären Verschmutzungsgrads gemacht werden können. Begriffe wie Plastizän, Pyrozän, Homogenozän oder Kapitalozän greifen damit allesamt zu kurz – das Anthropozän ist mehr. 

Bezüglich der Frage, ob Paul Crutzen Solar Radiation Management einführen wollte, kann man nur antworden, nein, das wollte er definitiv nicht. Allerdings war er schon früh überaus besorgt, dass zur Eindämmung des bedenklichen Anstiegs anthropogener Treibhausgase einfach viel zu wenig unternommen wird. Er sah insbesondere auch das Dilemma des Atmosphärenschutzes. Weniger CO2-Ausstoß aus fossilen Energien verringert einerseits den Treibhauseffekt, aber andererseits wird dadurch auch die Luft sauberer, denn die aus der  fossilen Energie herrührenden Ruß- und Schwefelpartikel (Aerosole) entfallen, diese aber kühlen die Erde – daran forschte er ja zum auch zum nuklearen Winter. Diese Partikelchen haben also einen „Antitreibhauseffekt“, da die Sonnenstrahlen durch sie reflektiert werden und nicht auf die Erdoberfläche gelangen, wo sie zu Wärme umgewandelt würden. Aus Gründen der Gesundheit,  aber auch wegen des verbreiteten sauren Regens, der die Wälder schädigte, wurden damals immer mehr Luftreinhaltungsmaßnahmen auch unabhängig von der Reduktion vom fossilen CO2-Ausstoß beschlossen und umgesetzt. In einem Essay8 schrieb Crutzen im Jahr 2006 daher, dass die Möglichkeit diskutiert werden könne, bei gleichzeitiger starker Reduktion des anthropogenen CO2 -Ausstoßes eine gewisse Menge künstlicher Aerosole vorübergehend  in die Stratosphäre zu verbringen, um den dadurch bedingten Abkühlungseffekt bis zur kräftigeren Reduktion von Treibhausgasen zu erhalten. Es ging ihm also ausschließlich um das eventuelle Gewinnen von Zeit. Kurz geht er im Essay auch darauf ein, dass er leider nicht ausschließen könne, dass auch weiterhin viel zu wenig zur Mitigation von Treibhausgasen getan würde. Bevor es dadurch zu katastrophalem Erdsystemkippen komme, diskutiert er, dass auch dann – und wiederum nur, um Zeit für dann hoffentlich umfassende CO2-Mitigation zu gewinnen –  einer gewisser, dann allerdings etwas längerer Aerosol-Eintrag ggf. Vorteile vor einem nicht schnell genug durchführbaren und mit vielen Unsicherheiten behafteten „Verklappen“ von CO2 am oder im Meeresboden haben könnte, da er beim Verklappen hohe Risken für starke Versauerung der Ozeanböden sähe. In diesem besorgten Paper ging es ihm also nur um ein Denkmodel zu einer eventuellen Möglichkeit des Gewinnens von Zeit, falls die Politik und Wirtschaft weiterhin viel zu langsam seien. Er war sich aber der Risiken überaus bewusst und regte daher ausschließlich die vorsorgliche weitere Erforschung der Methodik an, um besser Bescheid zu wissen. Er sah auch sehr klar die Gefahr, dass Solar Radiation Management auch als Ausrede dafür genommen werden könnte, dann gar keine oder viel zu wenig Mitigation zu betreiben – eine Befürchtung, die viele teilen, auch ich. Vor allem betonte Crutzen gleich mehrfach im erwähnten Essay, er wünsche sich überaus, dass derartige Technologien niemals zum Einsatz kommen müssen8,9.  Der Journalist Christian Schwägerl fragte Paul Crutzen nochmals in einem seiner letzten Interviews, ob denn Geoengineering im Sinne von Solar Radiation Management (auch aufgrund der weiterhin sehr schleppenden Reduktion fossiler Treibhausgase) tatsächlich für ihn immer noch eine Lösung sei. Seine Antwort war nun ein klares Nein, die Reduktion der Emissionen sei die Lösung4. 

Aber war er tatsächlich der „Vater” des Anthropozän? Je nachdem. Tatsächlich sprach der italienische Geologie António Stoppani schon 1873 von der „neuen tellurischen Kraft“ der Menschheit und in diesem Sinne von einer anthropozoischen Ära. Der russische Geologe Wladimir I. Wernadski, griff einen Begriff des Jesuiten Teilhard de Chardin, die „Noosphäre“ – also die Welt des Denkens – auf und verknüpfte sie mit der Biosphäre, in etwa im Sinne von Stoppanis anthropozoischer Ära. Andrew Revkin, Wissenschaftsjournalist und späteres mehrjähriges Mitglied der Anthropocene Working Group  warf in seinem 1992 erschienenen Buch „Global Warming. Understanding the Forecast“ die Frage auf, ob die Erde in Zukunft vielleicht in ein Anthrozän (Anthrocene) übergehen könnte. Der deutsche Zoologe Hubert Markl, u.a. späterer Präsident der Max Planck-Gesellschaft,  verwendete 1995 in seinem Buch „Natur als Kulturaufgabe“ den Begriff Anthropozoikum. Und nachdem Paul Crutzen ohne Wissen der hier erwähnten früheren Einzelgebräuche auf der denkwürdigen IGBP-Tagung 2000 den Begriff Anthropocene (Anthropozän) prägte, trug man ihm zu, dass der Limnologe Eugene Stoermer diesen Terminus immer wieder informell in seinen Vorlesungen verwendete, worauf ihn Paul Crutzen sofort einlud, beim Beitrag im Posttagungs-Newsletter als Co-Autor zu fungieren. Dies –  so erzählen Kollegen – wollte Stoermer überhaupt nicht, wohl auch, weil er den Begriff, eher enger gebrauchte. Crutzen bestand aber darauf, so wurde Stoermer dann doch Co-Autor6.  Den umfassenden, durch die „Great Acceleration“ bedingten Impact auf das Erdsystem, die direkte Adressierung der erdgeschichtlichen Relevanz und Unterschiedlichkeit sowie das oben erwähnte Ausdifferenzieren des Anthropozän-Ansatzes in verschiedene konzeptionelle Ebenen, aber auch das konsequente wissenschaftliche Weiterentwickeln des Konzepts verdanken wir also eindeutig Paul Crutzen. Vater war er also vielleicht nicht komplett bei der Namensgebung, aber eben doch bei der Zeugung und dem Großziehen des Anthropozäns.

 

Paul Crutzen – mein Influencer

Woher kenne ich Paul Crutzen eigentlich? Ich habe ihn schon in meiner Mainzer Zeit (1981-1989) als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der dortigen Universität kennengelernt. Schließlich war sein Institut (MPIC, damals noch mit dem früheren Namen “Otto-Hahn-Institut” gelistet) auch auf dem Mainzer Universitätscampus angesiedelt. Zwischen den universitären Geowissenschaften und dem Otto-Hahn-Institut gab es umfassende Kooperationen. Auch wenn ich mich nicht mehr ganz genau an den exakten Rahmen erinnere, habe ich Paul Crutzen wohl erstmals in einem Institutskolloquium der Geowissenschaften (oder der Chemie?) zum nuklearen Winter sprechen hören, wobei er die Bedeutung von Vulkanausbrüchen zur Modellierung eines derartigen Szenarios hervorhob. Später trennten sich erst einmal die Wege, bis ich ihn im Mai 2011 zu einem Treffen der noch jungen Anthropocene Working Group bei der Royal Geological Society in London treffen durfte, zu dem ich eingeladen war. Vom Anthropozän angefixt war ich allerdings schon spätestens seit 2010, als Christian Schwägerl im Museum für Naturkunde Berlin sein beeindruckendes Buch „Die Menschenzeit3“ gemeinsam mit dem damaligen Leiter des United Nations Environmental Programms (UNEP), Achim Steiner und mir vorstellte und wir danach das Anthropozän-Konzept diskutierten und dabei natürlich insbesondere auch kräftig über Paul Crutzen sprachen. Christian Schwägerl nahm mich dann auf das Treffen in London mit. Danach, im Jahr 2012 wurde ich selbst Mitglied der Anthropocene Working Group, zu der ja auch Paul Crutzen gehörte. Seitdem sah ich ihn bei mehreren Treffen der Anthropocene Working Group, aber auch bei einigen anderen Anlässen, etwa der Eröffnung „unserer“ „Willkommen im Anthropozän- Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“-Ausstellung 2014 am Deutschen Museum (Abb. 3). Das letzte Mal traf ich ihn persönlich auf einem Arbeitstreffen am MPIC in Mainz im September 2018. Und wie schön, dass aus der Kooperation auch drei gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten entstanden sind, bei dem Paul und ich Co-Autoren10,11,12 waren.

Abb. 3: Paul Crutzen bei der Eröffnung der “Willkommen im Anthropozän”-Ausstellung am 4.12.2014 im Deutschen Museum 2014. Rechts Christian Schwägerl, links Reinhold Leinfelder.

 

Besonders faszinierend fand und finde ich weiterhin den interdisziplinären, systemischen, wissenschaftlichen Ansatz Crutzens, der weit über das sektorale Denken, wie es bei uns in den Wissenschaften (aber auch in Schulen, Behörden und unserem persönlichen Denken) nach wie vor stark vorherrscht, hinausgeht. Schon 2012 schrieb ich über Paul Crutzen in einem Beitrag13 zu einem Band „Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften“ folgendes:  Anthropozän-Wissenschaften zu betreiben bedeutet also [im Sinne von Crutzen] insbesondere die umfassende Verschränkung von Natur-, Kultur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, um gemeinsam die Interaktion zwischen belebter und unbelebter, sowie zwischen natürlicher, kulturell-technischer und sozialer Umwelt zu erforschen. Weiterhin könnte das Anthropozän-Konzept einen Paradigmenwechsel für eine mögliche neue zukunftsweisende Form eines wissensbasierten Weltbilds bewirken. Bisherige Weltanschauungen wie Animismus, religiöser Determinismus, technikfreudiger Industrialismus oder biozentrischer Biokonservatismus haben den Zustand des Planeten nicht verbessern können. Die Anthropozän-Idee könnte hierbei gleichermaßen Anteile anderer Weltbilder integrieren wie auch radikal innovativ sein. Den Menschen in seiner Gesamtheit als geologischen Faktor zu akzeptieren, gleichzeitig auf die Wirkungskraft einer „noosphärenartige“ globalen Ideenwelt zu vertrauen und diese „anthropogeologische“ Kraft auch konstruktiv in ein wissensbasiertes Gestalten der zukünftigen Welt münden zu lassen, sollte zur Einsicht führen können, dass die Handlungen jedes Einzelnen nur Teil eines lokalisierten Globalhandelns darstellt. Noch besser bewusst werden muss, wie dieses „Glokal“-Handeln aussehen soll, um die Welt und ihre Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Die Welt von morgen mag komplett anders als die heutige aussehen, es liegt an der Menschheit als Ganzem dies zu gestalten.  Dass hierbei kräftig über das Wesen, die Bedeutung und, ja, auch die Definition des Anthropozäns diskutiert wird, sieht Paul Crutzen übrigens gerade zu als notwendig an. So sei „nicht die offizielle Zeremonie [der formalen Anerkennung des Anthropozäns] entscheidend, sondern Diskussion und Auseinandersetzung“, zitiert ihn Christian Schwägerl4. 

Anders ausgedrückt: Paul Crutzen hat mir die Augen ganz weit dafür geöffnet, das wir nicht in einer eigenen sozialen und ökonomischen Welt leben, die irgendwie von einer Umwelt umgeben und dadurch von ihr getrennt ist, wie dies ja schon das Wort impliziert. Nein, wir leben und und sind abhängig von einem funktionsfähigen, uns und alle anderen Organismen mittragenden Erdsystem, bei dem die Anthroposphäre integrativer Teil ist und mit allen anderen Erdsystemsphären (Lithosphäre, Pedosphäre, Biosphäre, Hydrosphäre, Anthroposphäre interagiert.

 

Danke, Paul!

Lieber Paul, dank Dir weiß ich jetzt, dass wir vom Umwelt-Ansatz zu einer „Unswelt“-Sicht- und Lebensweise kommen müssen. Oder, wie Christian Schwägerl in seinem Nachruf4 so wunderbar über Dich schreibt: „jeder und jede ist ein anthropos. Ob unbewusst oder wissentlich schreiben wir zusammen ein neues Kapitel der Erdgeschichte. Größer als dies erkannt zu haben, kann ein Vermächtnis kaum sein  Lieber Paul, RIP, Du bist mein Held, Du wirst uns nie verlassen, sondern weiterhin immer ganz nahe bei uns sein. ❤️

Abb. 4: Danke, Paul Joseph Crutzen, ✝︎ 28.1.2021

 

Zitierte Arbeiten:

1: Pressemeldung MPIC v. 28.1.2021: Max-Planck-Institut für Chemie trauret um langjährigen Direktor und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen. https://www.mpic.de/4677452/trauer-um-paul-crutzen

2: Der Tagesspiegel (28.2.2021): Der Entdecker des Ozonlochs. Paul Crutzen im Alter von 87 Jahren gestorben. https://www.tagesspiegel.de/wissen/der-entdecker-des-ozonlochs-paul-crutzen-im-alter-von-87-jahren-gestorben/26863638.html

3: Schwägerl, Christian (2010, 1.Aufl.): Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. Riemann-Verlag, SBN: 9783570501184 

4: Schwägerl, Christian (29.1.2021): Anthropozän: Paul Crutzens epochales Vermächtnis.- Riffreporter, https://www.riffreporter.de/de/umwelt/paul-crutzen-ozonloch-nachruf

5: Leinfelder, R. (2018): Nachhaltigkeitsbildung im Anthropozän – Herausforderungen und Anregungen. In: LernortLabor – Bundesverband der Schülerlabore e.V. (Hrsg), MINT-Nachhaltigkeitsbildung in Schülerlaboren – Lernen für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft, S. 130-141, Berlin, ISBN 978-3-946709-02-2, siehe hier

6:  Crutzen, P.J. & Stoermer, E. (2000): The “Anthropocene”.-  IGBP Newsletter, 41, 17-18, http://inters.org/files/crutzenstoermer2000.pdf

7:  Crutzen, P.J. (2002): Geology of Mankind.- Nature, 415, 23, https://www.nature.com/articles/415023a

8: Crutzen,, P.J. (2006): Albedo Enhancement by Stratospheric Sulfur Injections: A Contribution to Resolve a Policy Dilemma? – Climate Change, 77, Article number 211, https://link.springer.com/article/10.1007/s10584-006-9101-y

9: Leinfelder, R. & Niebert, K. (2018): Willkommen im Anthropozän. Diskurs über das “Menschenzeitalter” als wissenschaftliche Basis für wirksame Politik. Umwelt Aktuell, 3/2018, 2-3, Deutscher Naturschutzring (Oekom-Verlag).  siehe hier 

10: Zalasiewicz, J., Waters, C.N., Williams, M., Barnosky, A.D., Cerreata, A., Crutzen, P., Ellis, E., Ellis, M.E., Fairchild, I.J., Grinevald, J., Haff, P.K., Hajdas, I., Leinfelder, R., McNeill, J., Odada, E.O., Poirier, C., Richter, D., Steffen, W., Summerhayes, C., Syvitski, J.P.M., Vidas, D., Wagreich, M., Wing, S.L., Wolfe, A.P., An, Z. & Oreskes, N. Published online. When did the Anthropocene begin? A mid-twentieth century boundary is stratigraphically optimal. Quaternary International,, 383 (2015), 196-203.
Online first 12.1.2015, http://dx.doi.org/10.1016/j.quaint.2014.11.045

11: Steffen, W., Leinfelder, R., Zalasiewicz, J., Waters, C. N., Williams, M., Summerhayes, C., Barnosky, A. D., Cearreta, A., Crutzen, P., Edgeworth, M., Ellis, E. C., Fairchild, I. J., Galuszka, A., Grinevald, J., Haywood, A., Sul, J. I. d., Jeandel, C., McNeill, J.R., Odada, E., Oreskes, N., Revkin, A., Richter, D. d. B., Syvitski, J., Vidas, D., Wagreich, M., Wing, S. L., Wolfe, A. P. and Schellnhuber, H.J. (2016): Stratigraphic and Earth System Approaches to Defining the Anthropocene.- Earth’s Future, 4 (8), 324-345, DOI:10.1002/2016EF000379 

12: Jan Zalasiewicz, Colin N. Waters, Colin P. Summerhayes, Alexander P. Wolfe, Anthony D. Barnosky, Alejandro Cearreta, Paul Crutzen, Erle Ellis, Ian J. Fairchild, Agnieszka Galuszka, Peter Haff, Irka Hajdas, Martin J. Head, Juliana A. Assunção Ivar do Sul, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, John R. McNeill, Cath Neal, Eric Odada, Naomi Oreskes, Will Steffen, James Syvitski, Davor Vidas, Michael Wagreich, Mark Williams (2017): The Working Group on the Anthropocene: Summary of evidence and interim recommendations.- Anthropocene doi:10.1016/j.ancene.2017.09.001

13 Leinfelder, R. (2012): Paul Joseph Crutzen, The „Anthropocene.- In: Leggewie, C., Zifonun, D., Lang, A., Siepmann, M. & Hoppen, J. (Hg.), Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften, ,  Edition Kulturwissenschaft, Band 7, S. 257-260. Transscript-Verlag, Bielefeld. https://www.researchgate.net/publication/257608605_Paul_Joseph_Crutzen_The_Anthropocene


Weiteres zum Thema:

Videointerview vom 3.2.2021 von Dr. Heinz-Hermann Peitz (Forum Grenzfragen) mit mir zu Paul Crutzen:
https://www.forum-grenzfragen.de/dr-heinz-hermann-peitz/

Rückblick auf das erfüllte Leben des Anthropozän-Forschers und Chemie-Nobelpreisträgers, das nun zu Ende ging. Von Christian Schwägerl für Riffreporter (Artikel von 2010, nun ergänzt und überarbeitet) https://www.riffreporter.de/de/umwelt/paul-crutzen-klima-natur

„Ein Jahrhundertwissenschaftler in der Tradition von Charles Darwin“ Christian Schwägerl im Gespräch mit Michael Köhler (Deutschlandfunk, 30.1.2021). https://www.deutschlandfunk.de/umweltjournalist-zum-tod-von-paul-crutzen-ein.691.de.html?dram:article_id=491761

Nachtrag vom 27.2.2021: Nachruf von Paul Crutzens Nachfolger am MPC-Mainz Jos Lelieveld in Nature (vom 24.2.2021): https://www.nature.com/articles/d41586-021-00479-0 (Dank an Axel Krüger für den Hinweis)


Version 1:  4.2.2021;
Diese Version 2:  5.2.2021 (mit einigen typographischen und stilistischen Korrekturen sowie wenigen Ergänzungen) 

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

3 Kommentare

  1. Die Idee des Anthropozäns bedeutet ja, den Mensch als geologische, jedenfalls global auf das Erdsystem einwirkende Kraft zu sehen. Das ist allerdings nur darum etwas Neues, weil der Einfluss nun global gesehen wird. Und nicht einmal das ist völlig neu, denn global wirksame Veränderungen der Erdoberfläche gab es schon durch grossflächige Rodungen und den Ersatz der Naturlandschaft durch eine Kulturlandschaft.

    Die meisten, jedenfalls viele der globalen Veränderungen der Erdoberfläche geschahen und geschehen unbeabsichtigt. Als Nebenwirkungen, als Kollateralschäden. Plastikmüll im Ozean oder einen Wechsel von der jetzigen Zwischeneiszeit zu einer Heisszeit in der die Pole abgeschmolzen sind, will eigentlich niemand. Genauso wie niemand der mehr Verkehr will, mehr Verkehrstote will. In einem gewissen Sinn werden die Lösungen für Probleme wie den Klimawandel oder den Plastikmüll denen gleichen, die man für das Problem der Verkehrstoten gefunden hat: wie es heute immer noch, ja sogar mehr Verkehr bei weniger Verkehrstoten gibt, so wird es in Zukunft sogar mehr technisch erzeugte Energie geben nur eben ohne CO2-Produktion, es werden mehr Kunststoffe im Umlauf sein, aber sie werden nicht mehr im Ozean enden.

    Bleibt noch die Frage ob der Mensch die Umwelt auch bewusst umgestalten will, umgestalten nicht mit dem Zweck Nebenwirkungen zu bewältigen, sondern um besser zu leben. Regional geschah/geschieht das ständig, denn die Eindeichung der Niederlande oder das Anlegen von schiffbaren Kanälen, aber auch das Begrünen von ganzen Städten ist genau das. Etwas anders sieht es bei Grossprojekten aus, solchen die ganze Erdteile bewusst umgestalten wollen nur um (angeblich) besser leben zu können. Die Begrünung der Sahara mittels entsalztem Meerwasser wäre ein solches Grossprojekt. Oder etwa BECCS, also Bioenergy with carbon capture and storage, wo man Landflächen so gross wie Indien allein der CO2-freien Energieproduktion und der Senkung des CO2-Gehalts der Atmosphäre widmen würde. Hier gilt es eine Kosten/Nutzen-Rechnung anzustellen. Persönlich bevorzuge ich Technologien, die mit möglichst wenig Ressourcen und Land auskommen. Solche Grossprojekte tun das nicht. Ich bin immer wieder überrascht wie gerade auch Lösungen, die sich als „grün“ ausgeben wie eben BECCS oder die Saharabegrünung ins gigantische auswachsen. Kollateralschäden vermeiden und beseitigen ja, ganze Kontinente oder riesige Ozeanbereiche bewusst umgestalten, eher nein.
    Auch Paul Crutzen wurde ja zu seiner Haltung bezüglich Geoengineering mittels Beeinflussung der Solareinstrahlung befragt. Und lehnte es letztlich ab. Als globales Projekt wäre so etwas absolut gigantisch und mit unklarem Ergebnis in der Kosten-/Nutzen-Rechnung. Lokal/Regional und vorübergehend könnte ich es mir aber schon vorstellen. Warum nicht etwa eine Hitzewelle mit künstlichen Aerosolen bekämpfen? Wenn doch mehrwöchige Hitzewellen katastrophale Auswirkungen haben und ein Aerosoleintrag die Temperaturen um 7 oder mehr Grad senken kann.

    Das Denken in Erdsystemzusammenhängen unter Einbezug des Menschen als Wirkbestandteil wird jedenfalls nicht mehr verschwinden und der von Paul Crutzen popularisierte Begriff Anthropozän wird dieses neue Denken auch in Zukunft mitbestimmen.

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