Das Anthropozän verständlich und spannend erzählen – Ein neues Narrativ für die globalen Herausforderungen?

Im Wort “Anthropozän” steckt bereits eine neue begriffliche Metapher, um die globale ökologische Veränderung durch den Menschen zum Ausdruck zu bringen: “das “Menschenneue” bzw. etwas anders ausgedrückt, “das menschengemachte Neue”. Dies ist ganz nahe am wissenschaftlichen Befund und könnte daher auch die Grundlage für ein Großnarrativ Anthropozän sein. Die v.a. aus den Kultur- oder Sozialwissenschaften vorgeschlagenen möglichen Alternativbegriffe wie Kapitalozän, Pyrozän, Plastozän oder Homogenozän fokussieren zwar ebenfalls auf wichtige Ursachen oder Befunde, sind aber als Narrativ-Überschrift nicht umfassend genug.

Das komplexe Konzept des Anthropozäns in ein Narrativ, also eine wertebasierte und ggf. mutmachende Erzählung umzusetzen, ist nicht ganz einfach, sollte aber die Mühe lohnen. Narrative dürfen allerdings nicht dazu dienen, unzulässig zu vereinfachen oder gar zu populisieren anstatt zu popularisieren. Tatsächlich wird das Anthropozän-Konzept oft stark vereinfacht bzw. auf nur einige Aspekte reduziert und sehr einseitig dargestellt: Ist der Name geeignet? Ist das Anthropozän gut oder schlecht? Techokratisch oder bewahrend? Schön oder hässlich? etc. (siehe auch unten). Gerade die großen aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen sind  besonders komplex und erfordern auch komplexe Analysen sowie komplexe Lösungsansätze. Hier können vielleicht in ein Großnarrativ eingebundene Metaphern helfen, Komplexes zu veranschaulichen. So etwa das Mobile-Beispiel zur Veranschaulichung der Resilienz von Korallenriffen: Ein gut ausbalanciertes Mobile kann Störungen (stärkerer Luftzug) wegstecken, wird allerdings einige Zeit kräftig herumpendeln, bis es sich wieder ausbalanciert hat. Kommen die Luftzüge allerdings laufend, oder gibt es eine sehr starke Störung (z.B. starkes Zerren oder gar Abreißen eines dieser ausbalancierten Mobile-Teile) wird sich das Mobile verheddern und funktioniert nicht mehr (Abb. 1).

Abb. 1: Die Umweltbedingungen für das Wachstum tropischer Korallenriffe, ausgedrückt als Mobile (labiles, dynamisches Gleichgewicht). Dieses kann kleinere Störungen wieder ausbalancieren, ist es jedoch einmal “verheddert”, funktioniert es nicht mehr. Aus Jurassic Reef Park, Leinfelder 1995 (Originalbeschreibung: Für Riffwachstum müssen die Umweltfaktoren sehr ausbalanziert sein. Ändert sich ein Faktor (z.B. etwas größere Wassertiefe), kann durch Änderung eines zweiten Faktors (etwa noch klareres Wasser) das Gleichgewicht erhalten bleiben, wobei sich allerdings die Riffzusammensetzung ändert. Größere Milieuänderungen verursachen ein Ungleichgewicht und bringen das Riffwachstum zum Erliegen)

Wie weit darf also die Vereinfachung und die Emotionalität beim Anthropozän-Narrativ gehen? Was soll man zu einem Biologieprofessor sagen, der am Ende seines Forscherlebens das deprimiert-fatalistische Fazit zieht: “Es ist leider so, der Mensch hat nur zwei Beziehungen zur Natur. Das ist eben wie bei jedem Tier. Er lebt von der Natur und sucht vor der Natur Schutz, daran kann man nichts ändern”. Ich denke, so wie es dieser frustrierte Kollege meinte, war es eine starke Verkürzung auf unser biologisches Erbe, in Verkennung all dessen, wozu der Mensch eben auch kulturell und sozial fähig ist. Man könnte aber die Aussage durchaus auch positiv aufgreifen und eben im Kontext der Komplexitäten neu erzählen. Ja, auch weiterhin muss der Mensch tatsächlich von der Natur leben, denn alle Ressourcen für seine Nahrung, Wohnungen und Technologien (selbst die Bausteine für neue High-Techmaterialien) stammen letztendlich aus der Lithosphäre, Pedosphäre, Biosphäre und Hydrosphäre, und neben Sauerstoff vielleicht demnächst auch weiteres aus der Atmosphäre (Stichwort Carbon Capture and Usage), also aus dem Erdsystem. Und auch weiterhin muss sich der Mensch auch vor der Natur schützen, nun aber eben vorsorglich vorausschauend, nicht nur egoistisch für sich selbst, sondern für die ganze heutige und zukünftige Menschheit. Da wir die kulturelle Evolution sowie die wissenschaftlichen Aufklärung durchlaufen haben (und hoffentlich auch weiter durchlaufen), sollten wir nun doch wissen, dass wir nachhaltig mit der Natur umgehen müssen, um auch zukünftig gut von ihr leben zu können und dass wir uns dann am besten vor der Natur schützen, wenn wir durch unser Handeln das Risiko von Naturkatastrophen (Klimawandel, Meeresspiegelanstieg, Verschwinden von Bestäubern, Wasserverfügbarkeit uvm.) minimieren.

Das vielleicht kontraproduktivste Narrativ rund um Umwelt und Anthropozän ist hingegen der in den sozialen Medien vielfach geteilte Bilderwitz einer kranken Erde, bei der ein anderer Planet besorgt nachfragt, was denn los sei. Die Erde antwortet darauf, sie habe “Mensch”, worauf der andere Planet meint, das sei nicht so schlimm, dies ginge vorüber (Abb. 2). Obwohl ich diesen narrative Witz in den 90ern selbst ab und an verwendet habe, verkennt er die Skalenfrage komplett, ist zynisch, menschenverachtend und bietet eine willkommene Entschuldigung, nichts zu tun, denn alles sei ja sowieso schon viel zu spät. Zwar ist die Demographie der Globalen Bevölkerung eine der großen Zukunftsherausforderungen, sie darf jedoch nicht zu fatalistischen oder kontraproduktiven Ansätzen führen (siehe hierzu ganz aktuell einen Bericht in DER SPIEGEL zu einer neuen Studie)

Abb. 2: Der zynische Dauerbrenner “Die Erde hat Homo sapiens”. Unproduktiver, da skalenverkennender und zwischenzeitlich als Ausrede für Nichtstun gebrauchter, barttragender Pseudowitz (selbst verwendet schon 1997) (Gezeigtes Bild aus Wikimedia commons, verändert)

Ein Narrativ des Anthropozäns muss also die Komplexität des Konzeptes aufgreifen und vor allem seine verschiedenen Teilebenen, also das Prozedurale verdeutlichen helfen. Dazu hilfreich sind mehrere narrativartige Metaphern (nachfolgend jeweils in Anführungszeichen und kursiv/blau). Gehen wir hierzu erst einmal durch die verschiedenen Ebenen, man könnte auch sagen, Kapitel des Anthropozän-Konzepts:

Kapitel 1: Die erdsystemare Ebene: der Mensch ist durch seine immensen Eingriffe ins Erdsystem zu einem “Erdsystemfaktor” geworden, dies liegt insbesondere auch an der “Großen Beschleunigung” und dem Überschreiten von “Leitplanken” (Abb. 3) bzw. “planetarischen Grenzen” (vgl. Abb. 6).

Abb. 3 Metapher Leitplanke (2°-Leitplanke) auf dem Buchcover des Transformationscomics (Hamann et al. 2013, siehe hier)

Kapitel 2. Die geologisch-stratigraphische Ebene: die menschlichen Tätigkeiten werden auch geologisch manifest und überliefern sich über geologische Zeiträume. Der Mensch greift derzeit auf kurzer gesellschaftlicher Skala auch in die Langzeitskala der Erdgeschichte ein, Stichwort “Das lange Jetzt“. Der Mensch ist also auch zu einem “geologischen Faktor” geworden, er produziert dabei auch “Technofossilien“, die sich teilweise zu einer gigantischen “Technosphäre” verdichten

Kap. 1 und 2 zusammengefasst könnte im Sinne eines Teilnarrativs auch so ausgedrückt werden: “Der Mensch trägt ganze Berge ab, schneidet neue Täler, lässt Seen ein- oder auslaufen, bestimmt, wo und was sedimentiert wird, welche Organismen wo leben und wo nicht, er hebt auch noch den Meerespiegel und ändert das Klima” (vgl. Interview mit Arik Platzek, zur wissenschaftlichen Analyse dahinter z.B. hier und hier).

Kapitel 3. Die konsequentiale Metaebene: Der “Verantwortungsimperativ“. Dies versuche ich gerne mit folgendem Beispiel aus der Medizin zu erläutern: Sie gehen zum Arzt, dieser untersucht Sie umfangreich nach allen Regeln der Analytik und stellt dann fest: “Ihr Herz ist in sehr schlechtem Zustand, die Wirbelsäule auch, die Leber ist ebenfalls stark geschädigt und die Nieren haben Steine. – Auf Wiedersehen!” Damit wären Sie sicherlich nicht zufrieden. Wir erwarten vom Arzt, dass er Verantwortung für seine Analyse übernimmt, also uns nicht nur aufklärt, was mit uns los ist, und ggf. wie er dies herausgefunden hat, sondern uns auch behandelt, bzw. ggf. zu anderen Spezialisten überweist oder, falls notwendig, uns eben auch deutlich sagt, dass wir so nicht weitermachen können, sondern unseren Lebensstil komplett umstellen müssen.

Abb. 4. Eine Diagnose erfordert eine Behandlung. Fiebererde, aus Hamann et al. 2013, Transformationscomic)

Mit diesem Ärztebeispiel lässt sich vielleicht gut vermitteln, wie aus dem wissenschaftlichen Befund zur Anthropozän-Forschung auch eine Verantwortung für die Wissenschaften, aber eben auch für die Wirtschaft, die Politik und die gesamte Zivilgesellschaft, also auch jeden einzelnen ableitbar ist, ja abgeleitet werden muss. Die Metaphern der “Großen Transformation” und des “Gesellschaftsvertrags” können sich hier anschließen (Abb. 4, 5).

Abb. 5: Cover des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrags, 1762

Insgesamt können also die analytischen Ebenen (1,2) und die konsequenziale Ebene (3) des Anthropozäns zu einem Gesamtnarrativ verbunden werden. Hier verwende ich z.B. gerne den vielzitierten Spruch “Alles hängt mit allem zusammen“.  Das mag vielleicht trivial klingen, kann aber ein guter Augenöffner sein, wenn er mit Beispielen belegt wird. So haben wir etwa bei der Ernährung “in der Küche nicht nur den Kochlöffel, sondern auch den Steuerhebel der Globalisierung in der Hand” (vgl. Abb. 6). Und wenn wir Gebäude, Maschinen, Fahrzeuge, oder sonstige Geräte konstruieren, meistens aus nicht erneuerbaren Geomaterialien wie Erzen, seltenen Erden, Sand, Kalk uvm, benötigen wir nicht nur viel Energie für deren Gewinnung und Erstellung, sondern müssen unsere Maschinen und Geräte auch “füttern“, damit sie Arbeit für uns verrichten. Wir externalisieren also Muskelkraft und lassen Geräte für uns schleppen, zerkleinern, fahren und fliegen. In Sachen nicht erneuerbare Ressourcen wäre “vom Parasitismus zur Symbiose” meine Metapher für nachhaltiges Wirtschaften, etwa im Sinne eines Kompasses zu einer (noch sehr weit in der Zukunft liegenden) kompletten Kreislaufwirtschaft. Bei eher ökonomisch denkenden Adressatenkreisen wäre vielleicht geeigneter: “Die Erde wie eine Stiftung behandeln”. Von den Überschüssen eines gut gepflegten Stiftungskapitals kann man gut leben, aber wehe man geht an die Einlagen. Neben diesen Metaphern verwende ich Teilgeschichten, um die Einbindung des Menschen in die Erdgeschichte aufzuzeigen. So gibt es die “Hall of Fame” derjenigen Organismen, die in der Erdgeschichte die Erde ebenfalls schon komplett umgekrempelt haben und uns so ganz nebenbei unsere wichtigsten Lebensgrundlagen erschufen. Dazu zählen Methanbakterien im Archaikum (Klimastabilisierung in den Frühzeiten der Erde), Cyanobakterien v.a. im Proterozoikum (Produktion der Eisenerze, Sauerstoff), Korallenriffe (Kalkgesteine als Ressource), Wälder (Kohlebildung), Plankton (Erdöl, Phosphate) sowie Gras (nachwachsende Ressource, Grundlage für Ackerbau und Viehzucht). Der Unterschied zum Erdumkrempler Menschheit  – wir machen alles viel viel schneller, schaffen für die Natur nichts neues und leben von früher geschaffenem. Unser Gehirn würde uns allerdings erlauben, darüber reflektieren zu, was wir da anrichten, das ist ein hoffentlich ganz entscheidender Unterschied.

Abb. 6: Der Kochlöffel als Schalthebel der Globalisierung und Umweltzerstörung, hier Anteil im Kontext Planetarische Grenzen. Zentrale Graphic aus Toni Meier in Leinfelder et. al 2017 (eds), Comics aus Leinfelder et al. 2016.

Eine weitere Teilgeschichte wäre die kulturelle Entwicklung des modernen Menschen im bisherigen Quartär. Im Pleistozän, also in den Eis- und Zwischeneiszeiten folgten wir als Jäger und Sammler der verfügbaren Nahrung. Klimaschwankungen waren dabei kein direktes Problem, jedoch die geringe Nahrungsverfügbarkeit, so dass wir insgesamt nur sehr wenige waren. Die Umweltstabilität des Holozäns erlaubte uns dann die Sesshaftwerdung und gesellschaftliche Ausdifferenzierung, also den Aufbau von Landwirtschaft, Arbeitsteilung, Infrastrukturen, Städten, Handel, und Industrialisierung (Abb. 7). Hier wird sozusagen der gesamte Wissenskosmos der Menschheitsgeschichte im Kontext der Umweltstabilität der Nacheiszeit aufgerufen.

Abb. 7: Der Mensch und seine kulturell-gesellschaftliche Entwicklung: Umweltstabilität im Holozän als Voraussetzung zur Sesshaftwerdung, Landwirtschaft, Arbeitsteilung, Infrastrukturen, Städte, Industrialisierung, Entwicklung moderner Gesellschaften. Aus Hamann et al. 2016.

Aber bei den Narrativen geht es keinesfalls nur um Faktenwissen in Erzählform, sondern auch um die damit verbundene gefühlsbezogene Ansprache, nicht zuletzt, um die Adressaten zum Handeln, zur Veränderung zu motivieren.

Ein Beispiel: Solchen Mutmacher-Narrativen haben wir im WBGU-Transformationscomic ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem wir auf frühere Transformationstypen eingegangen sind. Es ist ja bekannt: Gesellschaftliche (Teil-)transformation kann ausgelöst werden durch a) Wissen (z.B. Ozonloch -> Montrealprotokoll), durch b) Krisen (-> Hilfsprogramme Welternährung, Konjunkturprogramme etc.), durch c) technische Innovationen (z.B. IT, Mobiltelefone) aber eben auch durch d) Visionen (z.B. Aufklärung, Sklavenabschaffung, EU). Derzeit wären a-d verbindbar zu einer “Großen Transformation in ein zukunftsfähiges, erdystemverträgliches Anthropozän.

Die vielleicht für mich wichtigste Auflösung früherer Denkweisen für ein neues erdystemverbundenes Denken im Anthropozän bezieht sich auf unsere generellen, v.a. auch aus unserer westlich christlichen Geschichte heraus verständlichen Werte-Dualismen. Wir bewerten alles in einem richtig oder falsch, gut oder böse, schön oder schlecht, anthropozentrisch oder physikozentrisch, Natur oder Kultur. Die Fakten zum Anthropozän zeigen uns, dass es diese Dualismen so überhaupt nicht gibt und dass sie kontraproduktiv sind, da sie wiederum auf unzulässige Verkürzungen zulaufen. Also brauchen wir hier ein Gegennarrativ weg vom entweder – oder, hin zu einem differenzierten Verständnis (“alles hängt mit allem zusammen“, siehe oben).

Und wie soll es weiter gehen? Das Anthropozän-Konzept beinhaltet ein neues Umweltverständnis, welches ich gerne mit der Umdenk-Aufforderung – und dem Untertitel dieses Blogs –  “Von der Umwelt zur Unswelt” ausdrücke. Bedeutet dies nun, dass wir uns diese Welt aneignen sollen? Auch der Titel unseres WBGU Gutachtens von 2013Menschheitserbe Meere“ – durchaus insgesamt in anthropozänem Kontext geschrieben – stellte ja implizit die Frage: Wenn wir die Meere geerbt haben, gehören sie uns die dann auch? Dieser Gedanke  erscheint vermutlich ungewöhnlich und herausfordernd, manche wittern vielleicht schon wieder Anmaßung und menschliche Überheblichkeit. Nein, so ist das keinesfalls gemeint. Der Begriff “Unswelt” ist bewusst als Stolperstein eingebaut, eine nähere Befassung mit dem Thema muss dann aber rasch verdeutlichen, dass wir eben nicht isoliert von der Umwelt leben und “irgendwie” entfernt von ihr umgeben sind, sondern vielmehr komplett vom Erdsystem abhängig sind und mit diesem in enormen Ausmaß interagieren. Daher sollten wir uns als Teil dieses einen Systems, eben einer “Unswelt”, die uns auch mit integrieren und ein Zuhause geben kann, verstehen – also ein ganz anderes Verständnis von Unswelt, der mit materiellen Besitz an der Welt erst einmal überhaupt nichts zu tun hat. Bei der Verwendung des Begriffs “Menschheitserbe” hat der WBGU v.a. an die Allgemeingüter, die Commons gedacht. Und als Metapher gebraucht wird an das entsprechende Passage in unserem Grundgesetz erinnert, welche die Grundlage für unsere soziale Marktwirtschaft darstellt: Eigentum, auch ererbtes, verpflichtet eben auch und muss damit bewahrt und funktionsfähig gehalten werden, wenn man es dauerhaft nutzen möchte und selbst weitervererben möchte. Umgesetzt in neue Governance-Ansätze könnte dies bedeuten, dass sich Staaten, inklusive ihrer marinen ausschließlichen Wirtschaftszonen viel stärker als Sachwalter eines Erbes der gesamten Menschheit betrachten müssten, und zwar nicht nur in Sachen Ozeanen, sondern vielleicht auch beim eigentlichen, festländischen Staatssteil. Eine Metapher dafür wäre vielleicht, die Erde (genauer das Erdsystem) als “Stiftung Erde“zu bezeichnen. Von den Erträgen einer gut geführten Stiftung kann man gut leben, aber wehe, man geht an die Einlagen, da wird die Stiftung binnen kurzem kollabieren.

Vor allem aber müsste eine Anthropozän-Geschichte auch die Offenheit von Zukunftslösungen darstellen. Diese verschiedenen möglichen Zukünfte wären dann, im Sinne eines Gesellschaftsvertrags zu verhandeln und hierbei ggf. auch gemischte Portfolios zu finden. Daher beginnen viele meiner Vortragstitel mit “Zukunft? Zukünfte!!” Und daher habe ich meinen “polyspektralen” idealtypischen Szenarienansatz mehrerer Zukunftswege zuerst für die Anthropozän-Ausstellung in München entwickelt, danach für das Futurium in Berlin weiterentwickelt und in vielen weiteren Arbeiten im anthropozänen Kontext, so auch in unserem Comic „Die Anthropozän-Küche“ weiter ausgebaut. Polyperspektivisches anstelle dualistischen Denkens ist uns eher neu, vielleicht herausfordernd, aber auf alle Fälle kreativ und konstruktiv. Nur wenn wir ausverhandelt, vielleicht ausprobiert haben, in welche Richtung einer wünschbaren Zukunft wir uns bewegen sollten (Abb. 8), und was dabei innerhalb eines sicheren Handlungsraums (der von globalen Leitplanken und weiteren nachhaltigen Entwicklungszielen definiert wird) möglich ist, können wir wissensbasiert und proaktiv (“wissensgärtnerisch“) im Sinne eines virtuellen Gesellschaftsvertrags, für die Große Transformation in ein zukunftsfähiges Anthropozän demokratisch, fair und konsistent umsetzen.

Abb. 8: Offene Zukünfte. Der gewünschte Weg muss verhandelt, ausprobiert und dann konsequent beschritten werden. Abb. v. Tanja Föhr, basierend auf R. Leinfelder (siehe u.a hier).

Zusammenfassend gesagt gilt es, ein großes Anthropozän-Narrativ vielleicht erst noch zu entwickeln. Es sollte ausgehen von dem enormen Einfluss des Menschen auf die Natur (“Mensch als geologische Kraft“, s. z.B. hier) und dem Befund des überwiegenden Verschwindens einer Urnatur (“Verschmelzung von Natur und Kulturs. hier,Unswelt“, s. hier), sowie der Einsicht in die Abhängigkeit des Menschen vom Erdsystem, der Begrenztheit der allermeisten Ressourcen  und der Notwendigkeit der Eingliederung der menschlichen Aktivitäten in das Erdsystem (“Vom Parasitismus zur Symbiose“, s. hier). Hierbei muss die Menschheit verantwortlich und vorausschauend handeln (“Menschheitserbe“, s. z.B. hier), dabei systemische Zusammenhänge (“alles hängt mit allem zusammen“, s. hier oder hier) berücksichtigen und die Funktionsfähigkeit des Erdsystems auch durch aktive wissensbasierte Unterstützung (“Wir Wissensgärtner“, s. hier) gewährleisten und dauerhaft sichern (“Stiftung Erde“, s. hier). Wie genau wir diese “Große Transformation(s. hier) gestalten, sollte einem virtuellen “Gesellschaftsvertrag“, vgl. hier) aller gesellschaftlichen Kräfte, in dem Diskurs, Austausch, Partizipation und Prototyping stattfinden, überlassen bleiben und nicht vorschnell festgelegt werden, denn einfache Knopfdrucklösungen für die komplexen Probleme dieser Welt gibt es nicht (“Zukunft? Zukünfte!“, vgl. hier). Hierfür sind für ein zukunftsfähiges Anthropozän auch die Entwicklung von positiven Szenarien und Visionen sinnvoll, die sich weniger auf Wahrscheinlichkeiten, sondern mehr auf Möglichkeiten und dabei v.a. Wünschbarkeiten fokussieren und dann Wege dorthin aufzeigen. Mit einem derartigen Anthropozän-Großnarrativ Mut zu machen, die gesamte Welt als Verwandtschaft und Heimat betrachten zu können, von der wir alle profitieren, mit der wir achtsam umgehen, um die wir uns bei Problemen wie selbstverständlich alle kümmern wäre das Ziel (Abb. 9). Wenn wir dabei auch noch erkennen, dass dies keinen Verlust einer regionalen Heimat oder einer regionalen Community bedeutet, sondern ganz im Gegenteil diese regionalen Verbundenheiten positiv ergänzt, wäre dies auch noch das beste Immunsystem gegenüber Populismen, Nationalismen, Wissenschaftsfeindlichkeit und Menschenverachtung.

Abb. 9: Nochmals gutgegangen? Grund zum Entspannen gibts jedenfalls noch nicht. Aber reflektieren und die Welt neu denken gehören dazu. Aus WBGU & Hamann 2017, Illustration Aike Arndt

Dank an Christian Schwägerl, für sein Buch “Die Menschenzeit” (1. Auflage 2010). Er erzählte das Anthropozän bereits in einer großen Gesamtgeschichte. Es war v.a. das Narrativ dieses Buches, welches mein Interesse fürs Anthropozän weckte.

Hinweis und Dank: dieser Beitrag basiert auch einem langen Gespräch zum Anthropozän mit dem Wissenschaftsjournalisten Manfred Ronzheimer und bezieht sich auch auf aktuelle Veranstaltungen, insb. die d2030-Zukunftskonferenz (Berlin, 6.-7.7.2017) sowie die Konferenz “Große Transformation und die Medien” (Potsdam-Schwanenwerder 10.-11.7.2017), an denen ich nur teilweise (d2030) oder gar nicht (Schwanenwerder) teilnehmen konnte.


Auswahl wissenschaftlicher aktueller Arbeiten (Ende 2015 – Sommer 2017) des Autors zum Anthropozän

Leinfelder, R. (2017): Das Zeitalter des Anthropozäns und die Notwendigkeit der großen Transformation – Welche Rollen spielen Umweltpolitik und Umweltrecht? – Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR), 28, 5, 259-266, Nomos,  online hier

Joachim Krausse, Reinhold Leinfelder & Julia von Mende (2017): The Anthropocene Kitchen .- In: Nicolaj van der Meulen & Jörg Wiesel (eds), Culinary Turn. Aesthetic Practice of Cookery, P. 39-46, Bielefeld (Transcript), (print: ca May 2017), open access via Transcript book page>

Reinhold Leinfelder, Alexandra Hamann, Jens Kirstein & Marc Schleunitz (eds.) (2017): Science meets Comics.- Proceedings of the Symposium on Communicating and Designing the Future of Food in the Anthropocene. With contributions by Jaqueline Berndt, Anne-Kathrin Kuhlemann, Toni Meier, Veronika Mischitz, Stephan Packard, Lukas Plank, Nick Sousanis, Katerina Teaiwa, Arnold van Huis, and the editors. 117 pp, Berlin (Ch. Bachmann publ.)(4 April 2017); Open Access version: doi: 10.5281/zenodo.556383

Zalasiewicz, J, Waters, CN, Wolfe, A P, Barnosky, AD, Cearreta, A, Edgeworth, M, Ellis, E, Fairchild,IJ, , Gradstein, FM, Grinevald, J, Haff, P, Head, MJ, Ivar do Sul, J, Jeandel, C, Leinfelder, R, McNeill, JR,Oreskes, N, Poirier, C, Revkin, A, Richter, DB, Steffen, W, Summerhayes, C, Syvitski, JPM, Vidas, D, Wagreich, M, Wing, S & Williams, M (2017), Making the case for a formal Anthropocene Epoch: an analysis of ongoing critiques, Newsletters on Stratigraphy, 50(2), 205-226, Online First DOI: 10.1127/nos/2017/0385 22 Mrch 2017, printed vers. ca. April 2017

Jan Zalasiewicz, Will Steffen, Reinhold Leinfelder, Mark Williams & Colin M. Waters (2017): Petrifying earth processes.- In: Clark, Nigel (ed), Geosocial Formations and the Anthropocene. Theory, Culture & Society, 34(3-2), 83–104 (Sage Journals), online first (13 March 2017): DOI: 10.1177/0263276417690587

Jan Zalasiewicz, Mark Williams, Colin N Waters, Anthony D Barnosky, John Palmesino, Ann-Sofi Rönnskog, Matt Edgeworth, Cath Neal, Alejandro Cearreta, Erle C Ellis, Jacques Grinevald, Peter Haff, Juliana A Ivar do Sul, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, John R McNeill, Eric Odada, Naomi Oreskes,Simon James Price, Andrew Revkin, Will Steffen, Colin Summerhayes, Davor Vidas, Scott Wing, Alexander P Wolfe (2017): Scale and diversity of the physical technosphere: A geological perspective.- The Anthropocene Review, 4 (1), 9–22,  doi:10.1177/2053019616677743 (online first publ.date Nov. 28, 2016)

Waters, C.N., Zalasiewicz, J., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Edgeworth, M., Fairchild, I.J., Galuszka, A., Ivar do Sul, J.A., Jeandel, C., Leinfelder, R., Odada, E., Oreskes, N., Price, S.J., Richter, D.deB., Steffen, W., Summerhayes, C., Syvitski, J.P., Wagreich, M., Williams, M., Wing, S., Wolfe, A.P. & An Zhisheng (2016): Assessing Global Boundary Stratotype Section and Point (GSSP) candidates for the Anthropocene.- Paper # 2914, Abstract 35th International Geological Congress, Cape Town, South Africa 27th August – 4th September 2016. see here

Zalasiewicz, J., Waters, C.N., An, Z., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Edgeworth, M., Ellis, E.C., Fairchild, I.J.., Gałuszka, A., Haff, P.K., Ivar do Sul, J.A., Jeandel, C., Leinfelder, R., McNeill, J.R., Odada, E.., Oreskes, N., Price, S.J., Richter, D. deB., Steffen, W., Summerhayes, C., Syvitski, J.P., Wagreich, M., Williams, M., Wing, S. & Wolfe, A.P (2016): The Anthropocene: overview of stratigraphical assessment to date.- Paper # 3966, Abstract 35th International Geological Congress, Cape Town, South Africa 27th August – 4th September 2016. see here

Steffen, W., Leinfelder, R., Zalasiewicz, J., Waters, C. N., Williams, M., Summerhayes, C., Barnosky, A. D., Cearreta, A., Crutzen, P., Edgeworth, M., Ellis, E. C., Fairchild, I. J., Galuszka, A., Grinevald, J., Haywood, A., Sul, J. I. d., Jeandel, C., McNeill, J.R., Odada, E., Oreskes, N., Revkin, A., Richter, D. d. B., Syvitski, J., Vidas, D., Wagreich, M., Wing, S. L., Wolfe, A. P. and Schellnhuber, H.J. (2016): Stratigraphic and Earth System Approaches to Defining the Anthropocene.- Earth’s Future, 4 (8), 324-345, DOI:10.1002/2016EF000379 (publ. Jul 20, 2016)

Leinfelder, R. & Haum, R. (2016): Die Reise ins Anthropozän.- In: Sommer, Jörg & Müller, Matthias (Hrsg.), Unter 2 Grad? Was der Weltklimavertrag wirklich bringt, 133-141, Stuttgart (Hirzel-Verlag, 320 S.,). ISBN 978-3-7776-2570-6 E-Book: PDF, Euro 19,80. ISBN 978-3-7776-2573-7 Gesamtautorenliste siehe http://www.hirzel.de/titel/60827.html sowie www.unter2grad.de )

Leinfelder, R. & Haum, R. (2016): Ozeane.- In: Kersten, J. (ed): Inwastement. Abfall in Umwelt und Gesellschaft. S. 153-179. Bielefeld (Transcript-Verlag). ISBN 978-3-8376-3050-3 (print), ISBN 978-3-8394-3050-7 (ebook)

Leinfelder, R. (2016): Das Haus der Zukunft (Berlin) als Ort der Partizipation.- In: Popp, R., Fischer, N., Heiskanen-Schüttler, M., Holz, J. & Uhl, A. (ed.), Einblicke, Ausblicke, Weitblicke. Aktuelle Perspektiven der Zukunftsforschung, S. 74-93, Berlin, Wien etc. (LIT-Verlag)

Williams, M., Zalasiewicz, J., Waters, C. N., Edgeworth, M., Bennett, C., Barnosky, A. D., Ellis, E. C., Ellis, M. A., Cearreta, A., Haff, P. K., Ivar do Sul, J. A., Leinfelder, R., McNeill, J. R., Odada, E., Oreskes, N., Revkin, A., Richter, D. d., Steffen, W., Summerhayes, C., Syvitski, J. P., Vidas, D., Wagreich, M., Wing, S. L., Wolfe, A. P. and Zhisheng, A. (2016): The Anthropocene: a conspicuous stratigraphical signal of anthropogenic changes in production and consumption across the biosphere.- Earth’s Future, 4, 34-53 (Wiley) doi: 10.1002/2015EF000339

Jan Zalasiewicz, Colin N. Waters, Juliana Ivar do Sul, Patricia L. Corcoran, Anthony D. Barnosky, Alejandro Cearreta, Matt Edgeworth, Agnieszka Galuszka, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, J.R. McNeill, Will Steffen, Colin Summerhayes, Michael Wagreich, Mark Williams, Alexander P. Wolfe & Yasmin Yonan (2016): The geological cycle of plastics and their use as a stratigraphic indicator of the Anthropocene.- Anthropocene, 13, 4–17, http://doi.org/10.1016/j.ancene.2016.01.002 (Elsevier)

Colin N. Waters, Jan Zalasiewicz, Colin Summerhayes, Anthony D. Barnosky, Clément Poirier, Agnieszka Galuszka, Alejandro Cearreta, Matt Edgeworth, Erle C. Ellis, Michael Ellis, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, J. R. McNeill, Daniel de B. Richter, Will Steffen, James Syvitski, Davor Vidas, Michael Wagreich, Mark Williams, An Zhisheng, Jacques Grinevald, Eric Odada, Naomi Oreskes, Alexander P. Wolfe (2016): The Anthropocene is functionally and stratigraphically distinct from the Holocene.- Science 8 January 2016: Vol. 351 no. 6269 DOI: 10.1126/science.aad2622

Reinhold Leinfelder, Alexandra Hamann, Jens Kirstein & Marc Schleunitz (Hrsg.)(2016): Die Anthropozän-Küche. Matooke, Bienenstich und eine Prise Phosphor – in zehn Speisen um die Welt.- Illustratoren: José Aguiar, Sarnath Banerjee, Zineb Benjelloun, Joëlle Ebongue, Martin Ernstsen, Sophie Goldstein, Samuel Jaramillo, Sylvain Mazas, Ulrich Scheel, Maki Shimizu, Ruohan Wang, Martyna Zalalyte, 248 S., Springer-Spektrum Verlag (Berlin, Heidelberg), ISBN 978-3-662-49871-2 (research based comic) > Info

Leinfelder, R. & Zinfert, M. (2015): Zukunftsbilder – Unsichtbare sichtbar machen. In: Zechlin, R. (ed) Wie leben? Zukunftsbilder von Malewitsch bis Fujimoto, (Ausstellungskatalog-Wilhelm Hack-Museum, Ludwigshafen), S. 16-29, (also in english: Images of the Future. Making the Invisible Visible), Köln (Wienand-Verlag),ISBN 978-3-86832-303-0

Jan Zalasiewicz, Colin N Waters, Anthony D Barnosky, Alejandro Cearreta, Matt Edgeworth, Erle C Ellis, Agnieszka Galuszka, Philip L Gibbard, Jacques Grinevald, Irka Hajdas, Juliana Ivar do Sul, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, JR McNeill, Clément Poirier, Andrew Revkin, Daniel deB Richter, Will Steffen, Colin Summerhayes, James PM Syvitski, Davor Vidas, Michael Wagreich, Mark Williams and Alexander P Wolfe (2015): Colonization of the Americas, “Little Ice Age” climate, and bomb- produced carbon: Their role in defining the Anthropocene – The Anthropocene Review August 2015 2: 117-127, doi:10.1177/2053019615587056

Jan Zalasiewicz, Colin N Waters, Anthony D Barnosky, Alejandro Cearreta, Matt Edgeworth, Erle C Ellis, Agnieszka Galuszka, Philip L Gibbard, Jacques Grinevald, Irka Hajdas, Juliana Ivar do Sul, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, JR McNeill, Clément Poirier, Andrew Revkin, Daniel deB Richter, Will Steffen, Colin Summerhayes, James PM Syvitski, Davor Vidas, Michael Wagreich, Mark Williams & Alexander P Wolfe (2015): Corresponcence: Epochs: Disputed start dates for the Anthropocene.- Nature, 520, p. 436, , doi:10.1038/520436b

Leinfelder, R., Hamann, A. & Kirstein, J. (2015): Wissenschaftliche Sachcomics: Multimodale Bildsprache, partizipative Wissensgenerierung und raumzeitliche Gestaltungsmöglichkeiten.- in: Bredekamp, H. & Schäffner, W. (Hrsg.)(2015): Haare hören, Strukturen wissen, Räume agieren. Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild-Wissen-Gestaltung, S. 45-59, Bielefeld (transcript-Verlag); ISBN 978-3-8376-3272-9
open access online-Version des gesamten Buches siehe http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3272-9/haare-hoeren-strukturen-wissen-raeume-agieren bzw. Artikel auf researchgate (members)

Weitere wiss. Arbeiten, Bücher, Medienbeiträge, Vortragstitel siehe http://www.reinhold-leinfelder.de


Erstmals veröffentlicht am 15.7.2017 (Vers. 1a); weitere Links, wiss. Literatur am 16.7.2017 (Vers. 1b)

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

15 Kommentare

  1. Überzeugende Gesamtschau. Aber für wen? Am ehesten für den Weltbürger, also für (gebildete?) Städter, die ihre Stadt als eine unter vielen sehen und die einen langen Zeithorizont besitzen. Und da immer mehr in Städten leben, wird das Auditorium immer grösser. Als neue Freizeitaktivität könnte die anthropozänisch Interessierten Zukunftsseminare besuchen und sich dafür engagieren, ihre Stadt nachhaltiger zu machen. Doch wenn auch das potenzielle Publikum gross ist, so sind die meisten Heutigen immer noch mit den traditionellen Konfliktthemen beschäftigt und diese Themen sind innergesellschaftlich und haben mit Arbeit, Familie, Geschlechterfragen, Karriere und Gerechtigkeit zu tun, also mit dem hier und jetzt. Dass eine Stadt auch eine Beziehung zu Ihrer Umgebung und Umwelt hat und diesbezüglich etwas geändert und verbessert werden kann, das kommt meist erst an zweiter Stelle. Doch das kann sich durchaus noch ändern. Zuerst bei den Stadtplanern, dann bei den Bürgern – oder auch umgekehrt.

    • @ Herr Holzherr :

      Es macht (mittlerweile) Sinn mit dem geologische Zeitalter meinenden Fachbegriff (vs. ‘Narrativ’) Anthropozän zu arbeiten, unabhängig von den Arbeitern und ihren Interessen, und zwar im humanistischen Zusammenhang und -der hier dankenswerterweise bereit gestellte WebLog-Artikel ist sicherlich eine “Bombe” und viele Aspekte berücksichtigend- die ‘Metaphern der „Großen Transformation“ und des „Gesellschaftsvertrags“’ sind womöglich keine, sondern es geht um Vorhaben (die auch abgelehnt werden können) und last but not least ist aus Sicht des Schreibers dieser Zeilen JJ Rousseau nicht zu trauen und war nie zu trauen.
      So in etwa ist das Päckchen, dass sich Dr. W hier mitgenommen hat.
      (Auf alles kann an dieser Stelle natürlich nicht eingegangen werden, denn Kommentare sollen “knackig” sein und Inhalte-Angebote nicht überlasten; es bleibt ja Sekundär-Nachricht.)

      Abär : Wow! – Warum sind die PIK-Leute nur so lyrisch begabt?

      MFG + schönes WE,
      Dr. Webbaer

  2. Für den Schreiber dieser Zeilen ist das Anthropozän ein Konzept, in concreto ein sinnhaft gebildetes naturwissenschaftliches Konstrukt, kein Narrativ, keine Erzählform, auch ‘Anthropozän-Geschichte’ geht ihm nicht von der Zunge beziehungsweise wird nur zitierend in die Tastatur eingegeben.

    Gemeint ist wohl, dass das Erdzeitalter Anthropozän naheliegenderweise politisch bedeutsam ist, denn der Mensch wurde handlungsaktiv die Erde betreffend und insofern ist der Anthropozäniker bereits logischerweise eingeladen politisch beizutragen.

    Sehr nett übrigens der Rückruf des Jokes mit dem “Ich habe Homo Sapiens”, denn antihumanistisch darf der Anthropozäniker nicht werden.
    Auch deshalb nicht, weil er sich so seiner Grundlage berauben würde.
    Ähnlich einzuordnen sind für den Schreiber dieser Zeilen (mehrfach gehörte) Sprüche wie beispielsweise “Die Erde wäre ohne uns Menschen besser dran”, “Mein Motto ist: Entschuldige, dass ich lebe” und “Die Erde ist nur von unseren Nachfahren geborgt”.

    MFG + schönes Wochende,
    Dr. Webbaer (der allerdings bei Gesellschaftsverträgen, Räten und bei Expertokratischem ein wenig ungünstig aufsteift; der selbst i.p. Klima-Steuerung dieses Planten, die ohnehin wünschenswert wäre, selbst wenn es keine Erwärmung gäbe, allerdings keine Lösungen anzubieten hat, außer der Fortsetzung des möglichst breiten gesellschaftlichen Diskurses, Dr. W weiß zuvörderst, was nicht geht)

  3. Dr. Webbaer,
    …..keine Lösungen,
    Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Gerade der Kapitalismus, der alles in Dollar und Cent taxiert, der ist am ehesten geignet die Erde vor größerem Schaden zu bewahren.
    Sobald die großen Rückversicherer ihre Tarife erhöhen müssen, weil die Schäden durch Stürme, Überschwemmungen und sonstigem Unbill zu hoch werden, wird ein Umdenken einsetzen.
    Zweitens sind die großen Verursacher ja alle bekannt und überschaubar. Die EU, die USA, China.
    Auch da wird langfristig ein Umdenken stattfinden.
    Die Entwicklungsländer spielen da keine große Rolle. Außer Brasilien, auf das man Druck ausüben könnte.
    Also mein Fazit: Noch haben wir alles im Griff.

    • @Bote17:“Noch haben wir alles im Griff.” Das können wir gar nicht so genau sagen – ob wir noch alles im Griff haben. Denn, einerseits hat der Mensch seine Lebenschancen seit Beginn der Industrialisierung massiv verbessert, die Natur unter Kontrolle gebracht und sich selbst quasi zum Hausherr der Erde gemacht, zum Lenker und Entscheider, der nach seinem Gusto bestimmt was mit der Erdoberfläche und selbst dem Meer passiert, aber andererseits ist dieses Bild irreführend und sogar falsch, denn es gibt keine Person, die intelligent mit der Erde umgeht, sondern nur Milliarden von Einzelmenschen, tausende von Firmen und dutzende von Regierungen und Staaten, die alle in ihrem Eigeninteresse agieren und die Erde ziemlich unkontrolliert verändern, gerade nach ihren Bedürfnissen eben und ohne eine Karte oder einen Plan in der Hand. Es sind ökonomische Kräfte am Werk und es gibt Sachzwänge, die eine Eigenlogik entfalten. Deshalb hat eigentlich niemand etwas im Griff, sondern umgekehrt hat uns die ökonomische Logik und haben uns die Sachzwänge im Griff.
      Aus Sicht späterer Generationen mögen viele Veränderungen schon des heutigen Erdsystems bedauerlich sein, wie etwa die Ausrottung sehr vieler Arten oder die Immigration/Invasion von fremden Pflanzen und Tieren in ganz neuen Umgebungen. Bedauerlich, weil irreversibel.
      Wenn man aber mit “Noch haben wir alles im Griff” meint, dass wir eine Katastrophe noch abwenden können, so ist auch das wohl falsch. Eine Katastrophe mit einem festen Datum steht uns nicht bevor. Wohl aber weitere irreversible Veränderungen des Erdsystems, darunter auch Veränderungen, die sich eigentlich niemand wünscht. Vor allem irreversible Änderungen, die sich eigentlich niemand wünscht, sollten wir frühzeitig zu stoppen lernen anstatt sie im Nachhinein zu bedauern.

  4. Martin Holzherr,
    ……noch haben wir alles im Griff,
    damit meinte ich, noch verstehen wir die Zusammenhänge und noch können wir (die Welt)
    Weichen stellen. Ich wollte nur ein Katastrophenszenario vermeiden, weil das niemandem hilft.
    Sie haben schon Recht, das Bevölkerungswachstum in Afrika und Ostasien können wir nicht stoppen.

    Die viel größere Gefahr sehe ich in den KKW’s in Europa und USA. Die kommen jetzt in die Jahre und Katastrophen sind nicht mehr auszuschließen. Wohin wandern wir dann aus?

    • @Bote17: Jeder schätzt die Gefahren anders ein. KKW’s sind meiner Meinung nach wenig gefährlich, selbst wenn sie Radioaktivität freisetzen sollten, denn es gibt Gebiete mit 50-fach höherer natürlicher Radioaktivität als in Deutschland und die Menschen dort – z.B im iranischen Ramsar oder bei den brasiliansichen Monazit-Gebieten -, sind so gesund wie wir.

      Es ist aber typisch für den Menschen lauernde Gefahren vor allem dort zu sehen. wo das menschliche Leben in unmittelbarer Gefahr ist. Doch das Anthropozän birgt in meinen Augen weit ernstere Gefahren als die unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben: Die Gefahr nämlich von irreversiblen Verlusten in der Natur (gerade auch Ozean) und im Umweltbereich überhaupt. Wir könnten auf einer ganz anderen Erde landen, die nicht mehr sehr viel zu tun hat mit der Erde wie wir sie heute noch kennen. Natürlich wird es viele geben, denen das nichts ausmacht, denn sie kennen beispielsweise nichts anderes als ihre städtische Umgebung. Vielleicht erfahren erst die Kinder der heutigen Städter den Verlust, wenn sie in Dokumentationen über die frühere Erde eintauchen.

  5. Danke für die intensive Diskussion, die ich natürlich registriere. Ich bin derzeit (und vermutlich noch die ganze Woche) zeitlich sehr eingespannt, melde mich aber danach nochmals an dieser Stelle.

  6. Martin Holzherr,
    …..Veränderungen,
    die sind tatsächlich schon sichtbar. Gehen Sie einmal an der Küste spazieren. Da sehen Sie mehr Plastikflaschen als Möwen.
    Wenn ich dann noch an den riesigen Müllstrudel im Pazifik, mit 1000 Km Durchmesser, denke. Das Leerfischen der Meere. Die Vergiftung unseres Bodens und Grundwassers.
    Die Menschen sind schon irgendwie blöde, oder nur gedankenlos?

    • @Bote17: Psychologisch ist der Mensch immer noch Mitglied der Urgruppe, der Familie vielleicht noch Gemeinde (das kann in der modernen Welt die Gruppe der Peers sein). Doch in Wirklichkeit gibt es inzwischen 8 Milliarden Menschen. Wenn sich jeder verhält als wäre er ein technisch hochgerüsteter Urmensch, dann kann das nicht gut ausgehen – für die Umwelt vor allem.

      Für die Menschheit wäre es überhaupt besser, wenn es nur 1 Milliarde gäbe anstatt 8 Milliarden.

      • Auch wenn ich in diesem Blogbeitrag das Demographie-Thema mit dem durchgestrichenen Bilderwitz sowie mit dem Link auf den Spiegel-Artikel (incl. eines vom Spiegel dort eingebauten FB-Statements von mir) selbst angeschnitten habe, würde ich eher empfehlen, das Thema Bevölkerungszahl hier erst einmal nicht zu diskutieren, das passiert derzeit an vielen anderen Stellen. Mir ist klar, dass das Thema wichtig ist, aber eben auch so wichtig und wertvoll, dass man es nicht mit einem Satz “erschlagen” kann (wer sollte z.B. entscheiden, welche Milliarde da leben bzw. sich fortpflanzen darf und welche nicht) und auch nicht direkt mit Mensch oder Auto etc. angehen kann (was derzeit leider manchmal passiert). Man landet hier sehr schnell in total misantrophen bzw. unethischen und Skalen übersehenden Diskussionen. Weitere Argumente eben auch via verlinkten Spiegel-Artikels). Danke. So, bin (leider, aus Zeitgründen) wieder weg, aber es war mir nun doch wichtig, dies noch loszuwerden. Ist natürlich nur eine Empfehlung, klar.

        • Thema Bevölkerungszahl
          […]
          Man landet hier sehr schnell in total misantrop[]en bzw. unethischen und Skalen übersehenden Diskussionen.

          Ganz genau, Herr Dr. Leinfelder, die angebliche Problematik mit der “Bevölkerungsexplosion” ist dem Schreiber dieser Zeilen, auch dank dem Club of Rome seit langer Zeit bekannt, in etwa seitdem die Drei-Milliarden-Grenze Mitte der Siebziger überschritten worden ist.
          Und schlecht daran findet er nichts, denn die Erde kann zweifelsfrei zig Milliarden Menschen nähren.

          MFG + viel Erfolg, schöne Woche noch,
          Dr. Webbaer

          • Zitat:“die Erde kann zweifelsfrei zig Milliarden Menschen nähren.” Leben am Agrikulturlimit (alles Land ist bewirtschaftet) ist nicht erstrebenswert. Es trägt zum Artensterben und zum Verlust an Vielfalt bei. Bis jetzt war der Mensch Mitbewohner der Erde, jetzt lässt er allem anderen gerade noch etwas Platz, falls ihm danach ist.
            Zudem: mit immer mehr Menschen, die letzlich alle denselben Lebensstandard anstreben, wird es immer schwieriger das Erdsystem im Gleichgewicht zu halten, etwa die Treibhausgasemissionen zu limitieren oder die nötigen Rohstoffe bereitzustellen.
            Letzlich muss man sich fragen was für einen Gewinn die Menschheit als Ganzes von einer sehr grossen Bevölkerungszahl hat. Sind 9 Milliarden Menschen besser als eine, können 9 Milliarden jedem einzelnen ein besseres, reicheres Leben verschaffen oder ist es gerade umgekehrt, dass nämlich weniger Menschen die Welt interessanter und reucher machen.?

    • @Bote17: Die pragmatische Lösung für die Umweltverschmutzung mit Plastikmüll etc. ist das Abfallmanagement: Aller Abfall wird entsorgt, alles Abwasser gereinigt. In Deutschland klappt das heute und in China und anderen aufstrebenden Ländern wird es in 10, 20 oder 30 Jahren klappen, wenn man alles so laufen lässt wie bisher. Besser wäre aber, wenn die aufstrebenden Länder im Abfallmanagement von den Industrieländern unterstützt würden und man in 10 Jahren dort ist wo man sonst – spontan – in 30 Jahren wäre. Hier im Westen besteht die Tendenz der Selbstbeschuldigung oder es gibt sogar Forderungen auf Plastik überhaupt zu verzichten (hier in scilogs). Das aber ist keine pragmatische Haltung sondern vielmehr eine Verschiebung des Fokus – tendenziell in eine Richtung, die dazu führt, dass überhaupt nichts passiert.

  7. Zustimmung zu:“Es [das Anthropozän-Narrativ ] sollte ausgehen von dem enormen Einfluss des Menschen auf die Natur (“Mensch als geologische Kraft“, s. z.B. hier) und dem Befund des überwiegenden Verschwindens einer Urnatur sowie der Einsicht in die Abhängigkeit des Menschen vom Erdsystem, der Begrenztheit der allermeisten Ressourcen und der Notwendigkeit der Eingliederung der menschlichen Aktivitäten in das Erdsystem”
    Doch: Auch wenn der Mensch die Vielfalt von Tieren und Pflanzen der (Zitat) “Urnatur” gar nicht brauchen würde, es also hier keine (Zitat) “Abhängigkeit des Menschen” von der Artenvielfalt gäbe, bedeutet das heutige Massenaussterben zuerst der Grosssäuger wie Mammut, Säbelzahnkatze, dann ab 1500 von immer mehr dem Menschen in die Quere kommenden Tiere und Pflanzen einen irreversiblen Verlust, den vielleicht erst spätere Generationen empfinden werden.
    Das Anthropozän-Narrativ sollte deshalb meiner Ansicht nach um eine konservierende, erhaltende Komponente ergänzt werden ganz im Sinne des UNESCO-Kultur- und -Naturerbes, allerdings ergänzt um den Willen, Tiere und Pflanzen nicht nur vor dem Aussterben zu bewahren, sondern ihr Potenzial für eine Wiederbesiedelung grosser Landstriche zu bewahren.

    Dieses Thema wird im Artikel Toward a Democratic Vision for the Biosphere sehr packend abgehandelt, wo schon die Einleitung deutlich macht, dass uns Verluste und eine Umgestaltung des Planeten bevorstehen, die zu einem neuen Zustand des Erdsystems führen, den eigentlich niemand bewussts will (Zitat, übersetzt mi google translate, dann auf Wortebene von mir verbessert):“Stellen Sie sich einen Planeten ohne jede Wildnis vor. Einen Planeten, der mit Aquakultur, Plantagen, Stadtlandschaften, Bauernhöfen, Dörfern und Städten bedeckt ist, wo aber Wildtiere und -pflanzen und Naturlandschaften, wenn sie überhaupt noch existieren, nur am Rande von Kulturlandschaften, Stadt- und dem Menschen dienenden Seenlandschaften vorkommen.
    Ist das der Planet, auf dem sie wohnen möchten? Egal wer sie sind, ich wette, dass sie das nicht wollen. Ihr idealer Planet würde sowohl Mensch als auch Natur Raum geben und viel Platz für wilde Kreaturen lassen – in Lebensräumen, die frei von menschlichen Eingriffen sind.”

    Ja, diesen Aspekt sollte man in einer Zukunftsvision nicht ausser Acht lassen. In der langen Frist zählt nicht nur der unmittelbare Nutzen für den Menschen, sondern auch der Nutzen für die Menschheit als Erbe und Bewahrer der Schöpfung und des Planeten, in den er hineingeboren wurde. Was sind die Konsequenzen eines auf die materiellen Bedürfnisse zugeschnittenen Erdoberfläche. Wie im Artikel treffend bemerkt, bedeutet eine so tiefgreifende Umweltänderung wie wir sie mit der Ausmerzung von Wiltdtieren und Pflanzen und der umfassenden Kultivierung des meisten Landes vornehmen, einen sozialen und damit einen kulturellen Wandel hin zu einer unumkehrbar vor allem durch den Menschen, nicht mehr durch die Natur geprägten Umwelt.

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