Anthropozän: Die Wissenschaft im Dialog mit Politik und Gesellschaft? – Ein Zwischenbericht
Einleitung: der Anthropozän-Diskurs
Wer hätte gedacht, dass das Anthropozän-Konzept derart rasch Fahrt aufnehmen würde: Nicht nur der Anthropozäniker auf Scilogs, sondern – wie auch an dieser Stelle immer wieder berichtet – Kulturprojekte, Ausstellungen, Bücher, ja sogar Comics thematisieren die “Menschenzeit” [1]. Auch die Wissenschaften stürzen sich darauf: Geistes-, Kultur-, Sozial-, Ingenieurs- und Naturwissenschaftler scheinen gleichermaßen interessiert, Philosophen, Ethiker, Historiker und Juristen diskutieren plötzlich mit Geologen; manche sprechen sogar von einer weiteren kopernikanischen Wende – eine völlig veränderte Sicht auf die Welt, in der Natur, Technik, Kultur und Gesellschaft zu einem einzigen System vereint sind [2]. Auch außerhalb der Wissenschaftswelt berufen sich viele auf das Anthropozän: Umweltaktivisten, Politiker, Kreative und sogar Firmen zählen sich teilweise ebenfalls zum Club der Anthropozän-Fans [3].
Gleichzeitig gibt es aber auch Gegenwind. Mancher Umweltverband erkennt darin nur neue Schläuche für alten Wein, während andere den Naturschutz damit ausgehebelt sehen – Geologie statt Ökologie? Manche Theologen, Ethiker, Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschaftler sind ausgesprochene Befürworter des Anthropozän-Konzepts, während andere aus denselben Fächern es für komplett unnütz erklären (siehe auch meinen früheren Blogbeitrag hier). Etlichen ist das Konzept zu politisch, anderen wieder zu unpolitisch und wieder andere halten es gar für einen neuen Zweig der Pop-Kultur (Hamilton 2016) (Abb. 1). Es steht auch das ambivalente Urteil im Raum, der Anthropozän-Ansatz sei “absolut positivistisch und zukunftsbejahend. Aus der Technikverliebtheit der Vergangenheit wird eine Forschungsverliebtheit, die einen radikalen Fortschrittsgedanken in sich trägt.“ [4] Im aktuellen online-Dossier von Spektrum der Wissenschaften wird ein Artikel von des Journalisten und Geographen Gabor Páal nochmals aufgeführt mit dem Titel „Das Anthropozän muss wissenschaftlich bleiben“. Er befürchtet, dass „Die Idee vom Anthropozän … dabei [ist], zum vulgärwissenschaftlichen Topos zu werden wie einst die heisenbergsche Unschärferelation … oder der so genannte Schmetterlingseffekt …“ , wenn sich Geistes- und Sozialwissenschaftlers ebenfalls des Begriffs bemächtigen. Er sieht damit das Anthropozän-Konzept offensichtlich fest in den Geowissenschaften verankert. Alles an Überbau, ethischer Relevanz der Befunde und möglichen Lösungsansätzen sieht er damit offensichtlich nicht mehr als Teil des Anthropozänkonzeptes. All dies sei eher die Sache der Geoethik, zu der bereits zwei (konkurrierende?) Fachgesellschaften bestehen. Das Beispiel zeigt gut, dass es vor allem der systemische Anspruch des Anthropozän-Ansatzes ist, der einerseits bei vielen Wissenschaftlern eine immense integrative Kraft zu inter- und transdisziplinärem Arbeiten entfaltet, der aber auch andererseits Befürchtungen bei anderen Wissenschaftlern verursacht, das Anthropozän könne einem etwas vom eigenen „wegnehmen“. Dies gilt sowohl in innerhalb der Geowissenschaften – dort gibt es selbstverständlich ebenfalls Vorbehalte (nach dem Motto: „wir haben doch schon Quartärgeologie und Geographie“, was allerdings das Wesen des Anthropozän-Konzepts komplett verkennt [5], aber auch in anderen Communities, bei denen diffuse Ängste unterstellt werden können, die Geowissenschaften würden sich über die Schiene des Anthropozän-Konzeptes der Philosphie, der Humanökologie oder eben auch der Humanethik bemächtigen. Richtig bösartig und fast schon verschwörungstheoretisch wird es bei durchaus auch aus dem wissenschaftlichen Umfeld stammenden Strohpuppen-Konstrukten mit Unterstellungen wie die Anthropozäniker (dabei implizit auch der Autor) seien katastrophenblind, würden Geoengineering und Technokratie befürworteten („Am Horizont ihrer Idee vom Weltgarten scheint das Bild einer Ökodiktatur auf. In dieser herrschen aber nicht Philosophenkönige, sondern Geologen. Und Ingenieurskönige.“) und sogar geheimbundartige Strukturen aufbauen [6|. Es geht also durchaus zur Sache bei der Diskussion ums Anthropozän, was allerdings überdeckt, welch großes Interesse und Zustimmung das Konzept insgesamt erfährt (Abb. 2).
Dennoch: Worin sind diese so unterschiedlichen und widersprüchlichen Ansichten – von irrealen Kompetenzverlustängsten einmal abgesehen – tatsächlich begründet? Liegt es daran, dass doch jeder etwas anderes unter dem noch neuen Begriff “Anthropozän” versteht? Oder ist es doch wieder ein dualistisches Problem, nämlich die Annahme einer gefährliche Engführung auf der einen Seite bzw. die Hoffnung auf eine gemeinsame Basis auch für einen breiten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite. Der vorliegende Beitrag, der nur einen Zwischenbericht in einem dynamischen, offenen Prozess darstellt, will dies nicht wissenschaftstheoretisch und empirisch basiert behandeln, sondern trotz (oder vielleicht gerade wegen) solcher Vorbehalte vor allem das kommunikative und dialogische Potenzial der dritten Ebene des Anthropozän-Konzepts (siehe unten) aufgreifen. Können neue “anthropozäne” Denkweisen und Narrative helfen, auch zu einem neuen integrativen Denken zu führen? Dazu müssen wir allerdings in einem ersten Schritt die drei konzeptionellen Ebenen des Anthropozän-Ansatzes noch einmal kurz darlegen und strukturieren, um in einem zweiten Schritt insbesondere dessen dialogische Potentiale herauszuarbeiten.
Das Anthropozän-Konzept – ein Wissenschafts- und Denkansatz auf mehreren Ebenen
Als Geburtsstunde des Anthropozän-Konzepts wird allgemein eine Tagung der Erdsystemwissenschaftler im Jahr 2000 in Mexiko angesehen. Erdsystemwissenschaftler versuchen die Prozesse des Erdsystems und damit das Zusammenspiel von Lithosphäre, Pedosphäre, Hypdrosphäre, Biosphäre und Atmosphäre zu verstehen, dabei wird auch der Einfluss des Menschen auf diese Sphären und damit auf die Stabilität des Erdsystems bewertet. Die erste konzeptionelle Ebene dieses Systems ist die Erdsystemanalyse (Abb. 3). Die menschlichen Eingriffe sind inzwischen geradezu von gigantischem Ausmaß: Der Mensch ist zu einem ganz wesentlichen Erdsystemfaktor geworden, dies ist an anderer Stelle (siehe auch auf diesem Blog, z.B. hier oder hier oder hier) genügend herausgearbeitet worden. Obwohl also die Umwelteingriffe durch den Menschen zwar grundsätzlich bekannt sind, werden deren globale Auswirkungen und die Unumkehrbarkeit dieser Prozesse jedoch weitgehend verdrängt. Dabei ist es schlichtweg eine Tatsache, dass die umweltstabile Zeit des Holozäns bereits hinter uns liegt. Das Erdsystem verändert sich rasant, die Gefahr eines Kippens in einen völlig neuen Status ist groß, insbesondere wenn es nicht gelingt, die anthropogene Klimaerwärmung auf global höchstens 2°C zu begrenzen, wobei selbst eine Erwärmung um “nur” 2°C bereits deutlich außerhalb der Spannbreite des Holozäns liegt (Leinfelder & Haum 2016). Eine Hypothese des Anthropozän-Konzeptes besagt, dass die Menschheit das Erdsystem bereits in einer Weise verändert hat, welche diese Veränderungen unumkehrbar macht. Durch alle vorliegenden Daten scheint dies inzwischen leider bestätigt. Wie weit sich das neue Erdsystem von dem des Holozän entfernt, wird jedoch durchaus noch von unserem zukünftigen Handeln abhängen. Daraus ergibt sich eine zweite konzeptionelle Ebene, die wiederum an einer Hypothese festzumachen ist. Diese besagt, dass sich die Veränderungen des Erdsystems auch dauerhaft niederschlagen, das heißt, geologisch überlieferungsfähige Signaturen in den heutigen und zukünftigen Sedimenten liefern werden (Abb. 3). Die eingehende Untersuchung dieser beiden Hypothesen bildet den wissenschaftlichen Kern des Anthropozän-Konzepts (Waters et al. 2016). Die Internationale Stratigraphische Kommission, die offizielle geologische »Weltbehörde« der Stratigraphie, hat in diesem Sinne eine interdisziplinäre Anthropocene Working Group (zu der auch der Autor gehört) eingerichtet, die gegebenenfalls auch eine formale geologische Definition für die neue erdgeschichtliche Epoche, eben die Anthropozän-Epoche, vorschlagen wird.
Aus diesen beiden wissenschaftlichen Ebenen des Anthropozän-Konzepts lässt sich eine dritte konzeptionelle Ebene ableiten, die wiederum an einer Hypothese festgemacht werden könnte. Diese würde auf die Hoffnung hinauslaufen, dass die zur immensen geologischen Kraft gewordene Menschheit, die das Erdsystem an den Rand eines möglichen Kippens gebracht hat, auf der Basis ihres Wissens auch in der Lage sein sollte, die Erde gleichsam »wissensgärtnerisch« so zu gestalten, dass wir Menschen integrativer Teil eines funktionsfähigen anthropozänen Erdsystems wären (Abb. 3). Im besten Falle wäre damit die Grundlage gerechter Entwicklungschancen für gegenwärtige und künftige Generationen geschaffen. Diese Hypothese beruht auf der Einsicht, dass die Menschheit sich als dem Erdsystem zugehörig begreifen muss. Wir können nicht vom Erdsystem, sondern nur mit dem Erdsystem leben. Wir sind nicht von einer Umwelt umgeben, sondern wir leben in einer von uns entscheidend geprägten »Unswelt«. Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich ein Imperativ zu anthropozänem (Um-)Denken und Handeln: Politik oder Wirtschaft alleine können eine erdsystemische Integration der Menschheit nicht gewährleisten, da gerade auch individuelles Handeln in der Summe globale Auswirkungen hat. Daher sind alle zu einer verträglichen, nachhaltigen Nutzung der Erde verpflichtet. Der derzeitige »Parasitismus« des Menschen an der Natur müsste sich wandeln zu einer echten Symbiose von Mensch und Natur, im Sinne eines gegenseitigen Nutzens. (siehe auch Leinfelder 2016a)
Anthropozänes Denken – möglicher Schlüssel für einen Gesellschaftsvertrag zur Großen Transformation
Der Weg in ein dauerhaft funktionsfähiges, mit menschlichen Gesellschaften kompatibles Erdsystem kann vermutlich nur durch einen virtuellen Gesellschaftsvertrag für die notwendige Große Transformation erreicht werden, wie ihn etwa der WBGU in seinem Hauptgutachten von 2011 konzipiert hat (WBGU 2011). Hierbei müssen Wissenschaften, Industrie, Politik und Zivilgesellschaft gemeinsam an Lösungen arbeiten, wobei die Politik aufgefordert ist die Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Ob ein virtueller Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation tatsächlich zustande kommen und funktionieren kann, hängt aber ganz wesentlich von der Kommunikation zwischen allen beteiligten Akteuren ab. Erforderlich ist ein umfassender, wechselseitiger und offener Austausch. In der Politik müssen nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse verstanden werden, sondern sich auch die Einsicht durchsetzen, dass Wissenschaftler als Mitglieder der Zivilgesellschaft ein soziales Bewusstsein haben, also auch „Gewissenschaftler“ (sensu H.J. Schellnhuber) sind. In den Wissenschaften muss ein besseres Verstehen untereinander sowie eine verbesserte Kooperation erlernt werden, wofür vor allem auch gemeinsame Zielsetzungen im Sinne von Transformationsforschung und transformativer Forschung notwendig sind. Das Bildungssystem ist gehalten, dies aufzugreifen, in geeigneter Weise zu reflektieren und zu vermitteln. All das mag trivial klingen, angesichts der enorm sektoralen Ausprägung von Behörden, Verwaltungen, Universitäten, Schulen sowie der politischen Landschaft ist es das jedoch keinesfalls (vgl. Leinfelder 2011, 2013). In dieser Hinsicht kann der Anthropozän-Ansatz mit seinem integrativen systemischen Denkansatz überaus hilfreich sein. Zur Verdeutlichung soll im Folgenden beispielhaft auf ein mögliches Narrativ eingegangen werden (adaptiert aus Leinfelder et al. 2016):
Die Küche als »Kommandozentrale« der Globalisierung: Zubereitung und Verzehr von Nahrung ist in unserer Vorstellung eine eher persönliche Angelegenheit, die jeweils an variable Gegebenheiten geknüpft (kulturelle Prägung, religiöse Tabus etc.) und lokal eingegrenzt scheint. Dabei haben wir (hier in Deutschland) die Globalisierung quasi direkt auf dem Teller: Die von uns verzehrten Lebensmittel – Getreide, Obst und Gemüse, vielerlei Fleisch, Geflügel und Fisch, Kaffee und Tee, Kakao, Schokolade und Gewürze – wurden vielfach rund um den Globus bewegt. Als Konsumenten haben wir in der Küche somit einen Schalthebel der Globalisierung in der Hand. Wir beeinflussen mit unserem Ernährungstyp (vegan, vegetarisch, etc.), unserem Ernährungsstil (saisonal, regional, etc.), unserer sozialen Wohnstruktur (Single, Kleinfamilie, Wohngemeinschaft etc.) und nicht zuletzt mit der Einrichtung und den Gerätschaften unserer Küchen, wie die Produktion und Zubereitung von Genuss- und Nahrungsmitteln die Welt mitgestaltet und auch verändert (Abb. 4).
Das Beispiel-Narrativ »Die Anthropozän-Küche« zeigt, dass jede(r) Einzelne nicht passiv weit entfernte Abläufe beobachtet, sondern vielmehr unmittelbar Beteiligte(r) ist und durch eine Vielzahl kleiner und großer Entscheidungen auch Verantwortung trägt. Des Weiteren kann an diesem Beispiel eine ganze Kette von Verknüpfungen aufgezeigt werden: Wir ernähren nicht nur uns, sondern auch unsere (Küchen-) Maschinen (Abb. 5). Diese müssen mit Energie gefüttert werden, mit Strom, zu dessen Erzeugung fossile Brennstoffe, Wasserkraft etc. verbraucht wird. Ebenso musste bereits zur Herstellung dieser Maschinen Energie aufgewendet werden, und es wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Rohstoffe verarbeitet. Die gesamte technische Produktionskette hat ihre Grundlagen im Verbrauch von Ressourcen, die aus der Natur stammen (Abb. 4, 5, 6). Es sind teilweise in Hunderten von Millionen Jahren akkumulierte und durch geologische Prozesse umgewandelte Stoffe, die es uns letztlich ermöglichen am häuslichen Herd bequem auf Tasten zu drücken (cf. Williams et al 2016). Nicht nur fossile Energien, die konservierte Energie von Lebewesen wie Bäumen, Sträuchern oder Meeresplankton sind, die nicht gefressen wurden, sondern akkumulierten und umgewandelt wurden, auch andere Bodenschätze gehen auf solche metabolischen Organismenprozesse zurück; dazu gehören der größte Teil der Eisenerzlagerstätten und auch die für unsere Ernährung so notwendigen Phosphate (Abb. 6). Womit die Kette der Verknüpfungen wieder bei ihrem Ausgangspunkt, die Küche als »Kommandozentrale« der Globalisierung angekommen ist (Leinfelder et al. 2016).
Narrative wie das der » Anthropozän-Küche« sind geeignet, in unterschiedlichen Medien und Formaten (Ausstellungen, Comics (Leinfelder et al. 2016), Vorträge, Workshops etc.) in wissenschaftlichen, politischen und gesamtgesellschaftlichen Kontexten die räumliche und zeitliche Verflochtenheit mit dem Erdsystem bewusst zu machen, die vom Individuum bis zur gesamten Weltgesellschaft reicht. Es wird daran einsehbar, wie viel stärker wir hinsichtlich der für unser Leben und Wirtschaften notwendigen Ressourcen von Prozessen auf der großen Zeitskala der Erdgeschichte abhängig sind als von kurzskaligen gegenwärtigen Aktualitäten. Zugleich zeigt sich daran aber auch, dass unsere kurzskaligen Aktivitäten das Potenzial haben, auf die große erdgeschichtliche Skala einzuwirken und wir daraus lernen müssen – selbst wenn Artensterben, Atommüllproduktion und CO2-Ausstoß aus fossilen Quellen schon morgen abgestellt werden könnten, würde das nichts mehr daran ändern, dass sich die Auswirkungen über Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrmillionen erstrecken werden. So gesehen leben wir im »Langen Jetzt«. Damit es nicht zu einer „Diktatur des Jetzt“ kommt, müssen Politik und Wirtschaft umdenken. Das aber wird wiederum nur geschehen, wenn die Zivilgesellschaft ihre aktive Rolle und Verantwortung wahrnimmt und an Entscheidungsprozessen teilnimmt bzw. diese einfordert. Hierzu ist ein umfassender, kommunikativer, auch diskursiver Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik notwendig.
Die Zukunft im Anthropozän – mögliche Pfade der Zeitreise
Der Anthropozän-Ansatz stellt für den notwendigen Dialog von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik eine hervorragende Orientierung dar und kann wesentlich zu der Einsicht beitragen, dass ein Umdenken und Umlenken notwendig ist. Daraus ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig die Antwort, in welche Richtung und wie es denn nun tatsächlich weitergehen müsste, aber auch für das Skizzieren möglicher Zukunftspfade bietet die Offenheit, aber auch die Gestaltungsnotwendigkeit des Anthropozäns einen guten Rahmen. So stoßen zwar bei der Frage nach dem „richtigen“ Weg in die Zukunft divergierende, teils sehr konträre Meinungen aufeinander, die sich aber durchaus gewinnbringend gemeinsam im Sinne eines Möglichkeitsspektrums diskutieren lassen (Leinfelder 2016b, Leinfelder & Haum 2016, siehe auch “Zukunftswelten laden ein“, in: Der Tagesspiegel Sonntag vom 10.7.2016). Alternative Pfade der Reise in mögliche „Zukünfte“ könnten folgendermaßen aussehen [7] (vgl. Abb. 7):
- Wir begegnen den Umweltproblematiken und sonstigen Herausforderungen reaktiv, im Sinne von raschen, umfassenden Reparaturen an kritischen Symptomen, weil wir gar nicht weit genug in die Zukunft vorausschauen können und uns die Zeit davonläuft: CO2-Abscheidung und Speicherung im Untergrund? Schutzdämme gegen den Meeresspiegelanstieg? Schwimmende Städte (wie etwa in den Niederlanden schon erprobt)? Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, um die weiter rasch wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können.
- Wir halten uns an die Devise Weniger ist mehr! Häuser werden besser gedämmt Heizungen heruntergeregelt, stattdessen vielleicht Pullis getragen. Wir essen bedeutend weniger Fleisch, ernähren uns überwiegend von regionalen und saisonalen Produkten, und am besten vegetarisch oder gar vegan. Was wir an Energie brauchen, schöpfen wir aus erneuerbaren Energien, die Erzeugung organisieren wir dezentral.
- Wir etablieren eine neue Überflussgesellschaft. Es kann weiter kräftig produziert werden, sofern wir die Natur zum Vorbild nehmen und in Kreisläufen wirtschaften. Alles wird wiederverwertet oder in optimierter Weise an die Natur zurückgegeben. In dieser bioadaptiven Kreislaufwirtschaft bleiben die Ressourcen im Fluss, sie werden mit viel (erneuerbarer) Energie immer wieder zu neuen Produkten zusammengesetzt. Ebenso lernen wir beim Essen von der Natur, vielleicht indem wir gekoppelte Aquaponik-Kreislaufsysteme weiterentwickeln, bei denen z.B. Abwasser aus der Fischzucht gleich wieder die Tomaten mit Nährstoffen versorgt, oder wir gar auf die ressourcenschonende Insektenzucht als Ersatz für Fleisch und Fischfutter setzen.
- Wir folgen den High-Tech-Visionären. Die ländliche Natur wird entlastet, indem wir uns fast vollständig in die Städte zurückziehen. Dort leben und arbeiten wir verdichtet in Ultrahochhäusern aus Nanokohlenstoff-verstärkten Baumaterialien, nutzen ein individualisiertes gondelartiges Personen-Nahverkehrssystem, produzieren Gemüse und Getreide in LED-beschienenen Farmhochhäusern und Kunstfleisch im Labor. Die Energie wird mittels künstlicher Photosynthese an Hochhauswänden gewonnen. Und vielleicht klappt es ja sogar noch mit der Kernfusion?
Fällt die Entscheidung schwer, hier gleich den „richtigen“ Zukunftspfad auszuwählen? Wir sollten auch nicht nach „Bauchgefühl“ entscheiden. Warum schaffen wir also nicht erst einmal die Möglichkeit, vieles davon in Labor-Situationen unter Beteiligung vieler zu entwickeln und auszuprobieren, ja, in eigenen Prototypen zu produzieren? Schon jetzt kann man erkunden, wie es sich anfühlt, in einer landwirtschaftlichen Kleingenossenschaft selbst an der Produktion seiner eigenen Nahrungsmittel beteiligt zu sein. Auch unterschiedliche Formen des Wohnens, etwa in einer minimalistischen, aber hochfunktionalen Kleinstwohnung, könnte man derzeit schon im Urlaub erproben. Noch nicht ganz so einfach ist es wahrscheinlich, Erfahrungen im Umgang mit Robotern als Hausgehilfen zu machen oder mit Augmented Reality Freunde aus weiter Ferne mit an den eigenen Tisch zu holen. Das erhebende Gefühl in einem Repaircafé beispielsweise den eigenen kaputten Haarfön wieder selbst in Gang gesetzt zu haben oder bei einer Maker Faire ein kleines Insektenzuchtsystem mitentwickelt zu haben, ist dagegen ganz in Reichweite.
Fazit
Das auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierende Anthropozän-Konzept zeigt neben der erdsystemisch-geologischen Analyse des derzeitigen Zustands des Planeten zum einen in aufklärerischem Sinne die vielfältigen Wechselwirkungen auf, die zwischen allen Lebensbereichen (bspw. Ernährung, Wohnen, Gesundheit, Energie, Arbeiten und Wirtschaften) bestehen. Darüber hinaus eröffnet es eine neue Sicht auf die Welt, ohne selbst weltanschaulich zu sein. Das Konzept bedeutet ausdrücklich nicht eine Engführung in der Entwicklung von Zukunftsoptionen. Die Erdsystem- und Sozialwissenschaften geben lediglich gemeinsam den dringenden Hinweis darauf, dass wir zur Erreichung globaler Entwicklungsziele, wie Gerechtigkeit, Nahrungssicherheit, Gesundheit und Frieden, auch weiterhin „einschätzbare“ Bedingungen des Erdsystems benötigen. Um die relative Stabilität des Holozän nicht gegen unwägbare Risiken vollständig einzutauschen, sondern in ein dauerhaft habitables Anthropozän zu gestalten, wird es notwendig im Sinne des Anthropozän-Konzepts planetarische Grenzen (sensu Rockström et al. 2009, Steffen et al. 2015) nicht zu überschreiten. Innerhalb dieses weiten Rahmens kann je nach Bereich, je nach Kulturkreis, je nach gesellschaftlichen Erfordernissen und Wünschen sehr frei verhandelt und werden, wohin die Zukunftsreise im Einzelnen gehen soll. In diesem Sinne ist das Anthropozän-Konzept auf keiner Ebene »technikverliebt« oder »forschungsverliebt«, ebenso wenig ist es positivistisch. Stattdessen hebt es die Orientierung an diversen gesellschaftlichen Wünschbarkeiten hervor, die allerdings hinsichtlich potentieller Nebenwirkungen durchdacht sein müssen. Nur so kann das Anthropozän tatsächlich zu einer langen erdgeschichtlichen Epoche der Integration menschlicher Gesellschaften in ein funktionsfähiges Erdsystem werden. Aufgrund der integrativen und transdisziplinären wissenschaftlich-gesellschaftlichen Ausrichtung erscheint das Anthropozän-Konzept, von dem der Impuls für eine erdsystemkompatible Gestaltung der Zukunft ausgeht, als ein geeigneter Kommunikations- und Diskursansatz, um einen kollaborativen Gesellschaftsvertrag vorstellbar und umsetzbar zu machen. Durch das Skizzieren möglicher Zukunftspfade und das Aufzeigen vielfältiger Handlungsoptionen soll im ersten Schritt ein Umdenken vorangetrieben werden, im zweiten Schritt können auf dieser Basis auch praktikable Handlungsvorschläge erarbeitet werden.
Fußnoten:
[1] zum Beispiel: Das Anthropozän-Projekt, Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2013/2014), Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft Erde, Deutsches Museum, München (2014-2016), Anthropozän als Cover z.B. in Le Monde, Time Magazin, Economist u.v.m., Buch Menschenzeit (von Christian Schwägerl, 2010, Riemann, 2012 Goldmann), Sachcomic Die Anthropozän-Küche. (Leinfelder et al. 2016, Springer), Amazon zeigt 54 Bücher zum Stichwort Anthropozän an, Google-Ergebnisse zu Anthropozän: ca. 95.000, zu Anthropocene: ca 433.000 , Fachartikelsuche in Google Scholar zu Anthropozän 723 Ergebnisse, zu Anthropocene ca. 26.300 Ergebnisse (jeweils Stand 6.7.2016)
[2] z.B. Ayestaran 2008, cf. Schellnhuber 1999, siehe auch Richter in Bayern 2, v. 7.1.2016 http://www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/sendung-1142362.html
[3] z.B. Michael Müller, SPD, ehem. Staatssekretär, derzeit Vorsitzender der Naturfreunde in DIE ZEIT: http://www.zeit.de/2013/50/anthropozaen-paul-crutzen/komplettansicht ,Theaterperformance Klagenfurt http://imsueden.at/termine/anthropozaen/, Symposien und Tagungen der Deutschen Bundesumweltstiftung zum Anthropozän, z.B. https://www.dbu.de/708ibook76845_36602_2486.html oder https://www.dbu.de/1254ibook76506_36460_2487.html ; Marx21: https://www.marx21.de/09-02-09-umwelt/, Turnschuh Anthropozän-Sneaker von Adidas: http://www.spikeartmagazine.com/de/artikel/adidas-anthropozan-sneaker u.v.m.
[4] Bundeszentrale für Politische Bildung, pers. Mitt.
[5] Auch die internationale Anthropocene Working Group, zu der der Autor gehört, befasst sich damit intensiv, etwa auf einem Workshop in Oslo im Frühjahr dieses Jahres. Auch werden einige Stellungnahmen zu speziellen Kritikpunkten vorbereitet bzw sind im Druck. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich darüber getrennt berichten.
[6] Statt einer näheren Stellungnahme sei hier auf die Stellungnahme von Christian Schwägerl verwiesen: http://christianschwaegerl.com/?p=1444
[7] Die skizzierten idealtypischen Zukunftspfade basieren auf meinem inhaltlichen Konzept für das Haus der Zukunft (seit 4.7.2016 umbenannt in Futurium). Eine vorläufige Version wurde ursprünglich hier auf diesem Blog unter dem Namen “Das Haus der Zukunt als Ort der Partizipation” vorab veröffentlicht (5. Okt. 2014), eine aktualisierte Version stellt Leinfelder (2016b) dar. Siehe auch aktuelles Interview zum Konzept im Tagesspiegel vom 10.7.2016 sowie weitere Artikel zum Futurium aus derselben Ausgabe zum Ausstellungskonzept, zum Reallabor, zur Architektur und generelles zur Zukunftsforschung.
Zitierte Literatur
Ayestaran, I. (2008): The second Copernican revolution in the Anthropocene: an Overview.- Revista International de Sustenibilidad,Tecnología y Humanidade.- No. 3. 145-157
Hamilton, C. (2016): The Anthropocene as a rupture.- The Anthropocene Review, doi:
Leinfelder, R. (2011): Von der Umweltforschung zur Unsweltforschung,- Frankfurter Allgemeinen Zeitung 12.10.2011, siehe auch http://www.scilogs.de/der-anthropozaeniker/unsweltforschung/
Leinfelder, R. (2013): Verantwortung für das Anthropozän übernehmen. Ein Auftrag für neuartige Bildungskonzepte. In: Vogt, M., Ostheimer, J. & Uekötter, F. (Hg), Wo steht die Umweltethik? Argumentationsmuster im Wandel.- Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung, Bd. 5., S. 283-311, Metropolis Verlag, Marburg.
Leinfelder, R. (2016a): Vom Parasitismus zur Symbiose. Zu den drei Hauptebenen des Anthropozäns.- Politik & Kultur 3/16 (Mai/Juni 2016), S. 20 (> download des gesamten Heftes)
Leinfelder, R. (2016b): Das Haus der Zukunft (Berlin) als Ort der Partizipation.- In: Popp, R. (ed.), Einblicke, Ausblicke, Weitblicke. Aktuelle Perspektiven der Zukunftsforschung S. 74-93, Berlin, Wien etc. (LIT-Verlag), ISBN 978-3-643-90662
Leinfelder, R., Hamann, A., Kirstein, J. & Schleunitz, M. (Hrsg.)(2016): Die Anthropozän-Küche. Matooke, Bienenstich und eine Prise Phosphor – in zehn Speisen um die Welt.- 236 S., Springer-Spektrum Verlag (Berlin, Heidelberg, New York), ISBN 978-3-662-49871-2
Leinfelder, R. & Haum, R. (2016): Die Reise ins Anthropozän.- In: Sommer, Jörg & Müller, Matthias (Hrsg.), Unter 2 Grad? Was der Weltklimavertrag wirklich bringt. S.133-141, Stuttgart (Hirzel-Verlag). ISBN 978-3-7776-2570-6 (erscheint am 20.4.2016)
2009), A Safe Operating Space for Humanity, Nature, 461, 472–5.
, et al. (Schellnhuber, H.-J. (1999): „Earth System“ Analysis and the second Copernican Revolution.- Nature, 402, supplement C19-C23.
Steffen et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. cience Science. Vol. 347, Issue 6223, DOI: 10.1126/science.1259855
Waters, C., N., Zalasiewicz, J., Summerhayes, C., Barnosky, A.D., Poirier, C., Galuszka, A., Cearreta, A., Edgeworth, E., Ellis, E.C., Ellis, M., Jeandel, C., Leinfelder, R., McNeill, J. R., Richter, D.B., Steffen, W., Syvitski, J., Vidas, D., Wagreich, M., Williams, M., Zhisheng, A., Grinevald, J., Odada, E., Oreskes, N.,& Wolfe, A.P. (2016): The Anthropocene is functionally and stratigraphically distinct from the Holocene.- Science, 8 January 2016: Vol. 351 no. 6269, DOI: 10.1126/science.aad2622
Williams, Mark, Jan Zalasiewicz, Colin N. Waters, Matt Edgeworth, Carys Bennett, Anthony D. Barnosky, Erle C. Ellis, Michael A. Ellis, Alejandro Cearreta, Peter K. Haff, Juliana A. Ivar do Sul, Reinhold Leinfelder, John R. McNeill, Eric Odada, Naomi Oreskes, Andrew Revkin, Daniel deB Richter, Will Steffen, Colin Summerhayes, James P. Syvitski, Davor Vidas, Michael Wagreich, Scott L. Wing, Alexander P. Wolfe andAn Zhisheng (2016): The Anthropocene: a conspicuous stratigraphical signal of anthropogenic changes in production and consumption across the biosphere.– Earth’s Future (Wiley) doi: 10.1002/2015EF000339
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Wäre es zukünftig vielleicht denkbar, dass wir unsere Maschinen künftig mit Kunstdiesel statt Biodiesel füttern?
Noch sind wir ja auf Pflanzen angewiesen, den dazu nötigen Kohlenstoff aus der Luft zu holen. Wäre es nicht sinnvoll, das direkt zu machen, ohne den umständlichen Umweg über die Natur zu nehmen.
Genug Energie dafür stünde uns ja an sonnigen Wochenenden oder an stürmischen Tagen an der Küste zur Verfügung (sofern es gelänge, diese künstliche Fotosynthese ohne Licht sondern mit Elektrizität zu betreiben, also Elektrosynthese).
Und vielleicht könnte man noch einen Schritt weiter gehen und auch unsere Nahrung nicht mehr vom Acker, sondern komplett aus der Fabrik beziehen.
Pflanzen beziehen ihr Material doch auch vorwiegend aus Wasser und Luft. Warum können wir das nicht auch ohne die Natur? Wäre das mit fortgeschrittener Nanotechnik möglich?
Nur eine kurze Antwort. Vieles erscheint möglich, wir wollen gerade auch solche Optionen am Futurium / Haus der Zukunft präsentieren bzw. visualisieren und diskutieren, es wird aber, schon weil derartige Entwicklungen noch lange dauern, um ein vielfältiges Portfolio gehen, wir können nicht so lange warten, bis es “die” Lösung geben wird (die wird nicht kommen, sondern eben eine hoffentlich große Vielfalt). ABer konkreter: es ist zu fragen, ob der Umweg über Flüssigtreibstoffe für alle Maschinen der richtige ist, Elektro aus Erneuerbaren ist da deutlich am effizientesten. Dennoch werden wir (etwa für Flugzeuge) noch lange Flüssigtreibstoffe brauchen. Aus künstlicher Fotosynthese (und Überschussstrom) könnte man Wasserstoff generieren, den man durch reaktion mit CO2 / C durchaus auch zu Kunsttreibstoff weiterverarbeiten kann. Und Farmscrapers sind natürlich schon sehr konkret angedacht (z.B. gestern auch in den Tagesthemen). Ja, auch synthetische Produkte sind nicht nur vorstellbar, sondern bereits in der Experimentierphase oder Anwendung, ob das nun Soylent ist oder Kunstfleisch aus dem Labor bzw. die Beyond-Meat-Bewegung. Astronautennahrung ist ja ebenfalls schon länger bekannt. Und Nanotechniken könnten hier durchaus eine große Rolle spielen, sie werden bereits jetzt eingesetzt, insbesondere auch unter Gesundheitsaspekten Allerdings ist zuerst die Frage nach eventuellen schädlichen Wirkungen umfassend zu prüfen und natürlich v.a. auch die gesellschaftliche Legitimierung zu diskutieren und ggf. zu erreichen, oder eben auch nicht.
Die Lehre vom Anthropozän bewegt und polarisiert. Sie polarisiert, weil es auf Einschätzungen des Schweregrades und der Bedeutsamkeit menschlicher Einwirkungen ankommt. Dies möchte ich mit einer Liste von kontrovers beurteilbaren “Epochenbrüchen” deutlich machen:
– Ist die Freisetzung von Radioaktivität durch den Menschen ein Epochenbruch oder ist er auf derselben Ebene anzusiedeln wie die Existenz von natürlichen Nuklearreaktoren wie es sie z.B. in Okio, Gabun, gibt?
– Ist der anthropogene Klimawandel herausragend in der Klimageschichte der Erde oder ist er ein relativ kleiner anthropogener Einfluss wenn man ihn mit Warmphasen in der Erdgeschichte vergleicht?
– Kann man wirklich von einem durch den Menschen ausgelösten Massen-Artensterben sprechen oder waren die früheren Artensterben nicht um Grössenordnungen bedeutsamer?
Diese Fragen sind schwierig zu beantworten. Möglicherweise gehen diese Fragen auch in die falsche Richtung. Ein viel wichtigere Frage scheint mir: Bedeuten die menschenverursachten Veränderungen des Erdsystems, dass die Menschheit in Zukunft das Erdystem (zu dem auch das Menschensystem gehört) lenken und managen muss, um zu verhindern, dass sich die zukünftigen Lebensbedingungen verschlechtern. Daran anschliessend muss man sich noch zwischen einem Erhaltenden/Konservierenden Ansatz (Vorsorgeprinzip) entscheiden und einem Interventionistischen (Geoengineering oder auch Verhaltensengineering).
Der obige Artikel hat die von mir gestellte Frage bereits positiv beantwortet: Die Anthropozäniker sind gerade darum Anthropozänker weil sie glauben, dass alles zukünftige Handeln des Menschen die Grenzen des Erdsytems berücksichtigen muss. Viele der oben dargestellten Optionen bezeugen für mich auch einen Machbarkeitswahn. Es ist der Glaube man könne sich aus einem Wunschzettel, einem Menu das auswählen was zum eigenen Temperament am besten passt. Man kann sich entscheiden zwischen
– rein Erneuerbar und total dezentral mit Kreislaufwirtschaft etc.
– Konsumverzicht
– dem Leben in Städten die alles bieten
– der Korrektur des Erdystems bei Bedarf.
Selbst wenn es so wäre – man also aus einem Menu auswählen könnte – dann wäre immer noch die Frage für welchen Menupunkt man sich entscheidet und wer sich überhaupt entscheidet: Kann jeder Einzelne sich für jeden der obigen Menupunkte entscheiden oder entscheidet sich die ganze Menschheit für einen der Menupunkte?
Grundsätzlich finde ich die Überlegungen richtig. Ich würde aber eine Station vorher ansetzen. Anstatt mit dem Zukunftsmenu zu beginnen würde ich mit den Leitplanken beginnen – also dem, was man auf alle Fälle verhindern möchte. Das geschieht ja auch und davon zeugt beispielsweise im Klimavertrag von Paris wo man sich einigte die Erderwärmung auf unter 2 Grad Celsius (oder gar noch tiefer) zu halten. Nur finde ich schon das was in Paris herausgekommen ist Ausdruck eines Wunschdenkens. Man wünscht sich eine Erwärmung weniger als 1.5° Celsius, also beschliesst man eine Erwärmung von weniger als 1.5°C. Ob es dann so kommt, sieht man ja dann. Paris zeigt für mich, dass es das Vorsorgeprinizip als Denkprinzip, aber nicht als Handlungsprinzip gibt.
Hallo Herr Holzherr, Ihre Eingangsfragen sind überwiegend Skalenfragen, erdgeschichtliche Skalen und kurzskalige dürfen einerseits nicht durcheinandergeworfen werden, sonst sind das unzulässige “Killerargumente” (Beispiel: Ja, Korallenriffe sind in der Erdgeschichte mehrfach ausgestorben und wiedergekommen, hat aber zwischen 3, 5 und einmal sogar 140 Millionen Jahren gedauert, bis die Flachwasserriffe mit Korallen wieder da waren, letztes Beispiel war das Intraoberdevon, Frasne/Famenne-Grenze. Erst ab der Mittleren Trias dann wieder korallenreiche Flachwasserriffe). Andererseits müssen gerade heute gesellschaftliche Skalen mit erdgeschichtlichen verknüpft werden, denn die derzeitigen Veränderungen des Planeten haben tatsächlich zum teil erdgeschichtlich lange Auswirkungen, sic Anthropozän.
Ansonsten zu Zukunftsoptionen: das Skizzieren / Visualisieren und ggf. auch Utopisieren von idealtypischen Zukunftsszenarien soll die “future literacy”, also auch die Diskursfähigkeit zu Zukunftsfragen und Lösungsansätzen erhöhen. Tatsächliche Lösungen werden je nach Thema, Kulturkreis und Gesellschaftsituation Mischungen aus verschiedenen Optionen sein und, da gebe ich Ihnen natürlich recht, auch hinsichtlich Leitplanken etc “geframed” sein. Es geht aber tatsächlich darum, nicht nur über wahrscheinliche Zukünfte, sondern v.a. auch über mögliche Zukünfte zu diskutieren, um daraus ggf. wünschbare Zukünfte identifizieren zu können. Wünschbare Zukünfte müssen aber kompatibel mit bzw. eingerahmt/begrenzt sein von den Global Goals und den Planetary Boundaries / Leitplanken. Es geht damit nicht um Wunschdenken, sondern verbesserte Kompetenzen, aus möglichen Zukünften tatsächlich wünschbares auszuwählen, ohne mit den Global Goals und Planetary Boundaries zu kollidieren. Siehe dazu bereits mein allererstes Konzept für das Haus der Zukunft (nun Futurium), welches ich im Sept. 2014 hier auf Scilogs veröffentlicht habe sowie z.B. (gerade hinsichtlich des Framings) meinen Vortrag auf dem Global Goals Curriculum 2016 in Berlin
Aloha!
Ja, vielen Dank für den Bericht inklusive Einschätzung.
Das Anthropozän findet statt bzw. es macht Sinn mit diesem Begriff und Konzept zu arbeiten, loge. [1]
Als Feedback mal was vom Lektor:
‘Scilogs’ vs. ‘Scllogs’ ginge, ‘Philosophie’ ebenso, an einer Stelle ginge ‘abgesehen’ vs. ‘abgesehenen’ und ‘einmal’ vs. ‘einmals’ ebenso.
Heißt es wirklich ‘Gewissenschaftler’ (Schellnhuber)? (Manche missen hier das kleine O oder mögen zumindest nicht das Gewissen als wissenschaftliche Maßgabe.)
‘Zunahme’ darf groß geschrieben werden.
Bei besonderem Bedarf wird weiter gegärtnert.
MFG + schönes Wochenende,
Dr. Webbaer
[1]
‘loge’ im Sinne von ‘logisch’, als Metaphorik; ist altes Punk-Sprech
Lieber “Lektor”, besten Dank für die Typo-Meldungen (war und bin noch erkrankt, keine Ausrede, aber ein Erklärungsversuch für die Typos, versuche Besserung, in jedem Sinne). Gewissenschaftler war allerdings so gemeint und ist nun mit einem erläuternden Link hinterlegt. Beste Grüße, Reinhold Leinfelder
Lieber Herr Leinfelder,
vielen Dank für Ihre Reaktion; ob es sinnvoll ist im Sinne der Geowissenschaften eine neue Epoche festzustellen, ist (noch) nicht ganz klar, Ihr Kommentatorenfreund aber hat nicht nur keine Probleme damit, sondern begrüßt diese Einordung, zugegebenermaßen: auch aus politischen Gründen.
Wobei bei Vorhaben wie Große Transformationen (hier mal die Zusammenfassung für Entscheidungsträger webverwiesen, wir sind doch ‘Entscheidungsträger’, oder?) betreffend nicht immer direkt zugestimmt wird, im Sinne von “Muss ich haben, jetzt & sofort!”
MFG + weiterhin viel Erfolg!
Dr. Webbaer
Wenn Sie die Zusammenfassung für Entscheidungsträger nicht hinreichend finden (- ich wüsste allerdings nicht, wo dort stünde, muss ich haben jetzt & sofort, Kohle ist in unseren Szenarien z.B. noch Jahrzehnte Teil des Portfolios – ), wie wäre es mit unserer Comic-Adaption, die ist an die breite Gesellschaft gerichtet, siehe http://www.wbgu.de/comic-transformation/ bzw. http://www.die-grosse-transformation.de bzw. kostenlos in der englischsprachigen Version: http://www.wbgu.de/en/comic-transformation/
Schöne Grüße, R. Leinfelder
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