Austausch über den Tellerrand: Was bestimmt Normalität in Bildung und Wissenschaft?

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… aber nicht einfacher
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Übermorgen ist es wieder soweit: dann beginnt die vierte Ausgabe unserer deutsch-italienischen Sommerschule zur Astrophysik. Dieses Jahr geht es nach Florenz bzw. ans Observatorium in Arcetri. Dabei sein werden mehr als 70 Lehrer, Lehramtsstudenten und Astronomen, überwiegend aus den vier Standorten, zwischen denen die Sommerschule in den letzten Jahren gewandert ist: Universität Heidelberg / Haus der Astronomie, Universität Padua, Universität Jena und eben Universität Florenz / INAF. Möglich wurden diese Sommerschulen durch die Förderung der W.E.-Heraeus-Stiftung. Hier ist unser Gruppenfoto von vor zwei Jahren in Padua (eigenes Bild mit Padovaner Assistenz): Erfolgreicher Austausch in vielerlei Hinsicht: Gruppenfoto der deutsch-italienischen WE Heraeus-Sommerschule 2016Ich habe bei den bisherigen Sommerschulen fachlich gehörig etwas gelernt – teils beim Vorbereiten eigener Vorträge, teils als Zuhörer –, aber mit das Interessanteste war jeweils der direkte Austausch mit den und zwischen den Lehrern, deutsch und italienisch, im Schuldienst oder noch im Studium.

Gerade bei der ersten Sommerschule in Heidelberg waren die verschiedenen Ausbildungs- und Bildungssysteme in Deutschland und in Italien ein häufiges und ergiebiges Gesprächsthema gewesen. Rückblickend, mit ein paar Jahren Abstand, bringt mich das Nachdenken über die Sommerschulen allerdings zu einem allgemeineren Thema: Warum es in der Wissenschaft soviel direkten Austausch gibt, und in den Schulen nach allem, was ich sehen kann, so vergleichsweise wenig – und was das für die beiden Systeme bedeutet.

Austausch bestimmt, was normal ist

Wissenschaft hat die Kommunikation direkt mit eingebaut. Was jemand im stillen Kämmerlein für sich allein beim Forschen herausfindet und dokumentiert, ist in einem wichtigen Sinne eben noch keine Wissenschaft. Teil der Wissenschaft werden Ergebnisse erst, wenn sie in geeigneter Form veröffentlicht und damit für die wissenschaftliche Community zugänglich sind. Erst dann können andere Forscher bezug darauf nehmen, auf die entsprechende Arbeit verweisen und die betreffende Forschung kritisieren oder weiterführen.

Praktisch ist die Kommunikation über Forschungsartikel aber nur ein Teilaspekt vielfältigen Austausches, der dazu beiträgt, dass zumindest die Wissenschaft ein und desselben Fachgebiets, etwa die Astronomie, wirklich eine wissenschaftliche Gemeinschaft bildet und keine komplett unabhängigen Sub-Gemeinschaften. Wichtige weitere Mechanismen sind internationale Konferenzen, auf denen sich Wissenschaftler/innen aus den unterschiedlichen Ländern treffen und, vermutlich am wichtigsten, das Postdoc-System: Nach der Doktorarbeit geht es in der Regel für einige Jahre an ein anders Institut, danach oft noch an einige weitere – und das in der Regel nicht nur im eigenen Heimatland, sondern auch im Ausland.

Das schafft zum einen bestimmte Gemeinsamkeiten – bei allen Unterschieden der wissenschaftlichen Kultur in verschiedenen Ländern oder sogar bereits verschiedenen Instituten sorgt der Austausch dafür, dass sich keine Gruppe soweit individuell fortentwickeln kann, dass der Anschluss an die Wissenschaft als Ganzes verlorengeht. Analog zur biologischen Evolution gesprochen: kein Institut ist so isoliert, dass es eine ganz eigene Spezies von Wissenschaftler ausbilden könnte.

Zum anderen bleibt die Institutskultur auf diese Weise lebendig. Wer anderswo Gepflogenheiten und Bräuche kennengelernt hat, die er/sie für sinnvoll und förderlich hält, kann sie auch am eigenen Institut einführen – oder dies zumindest versuchen: ein tägliches Vormittagstreffen mit kostenlosem Kaffee etwa, um informelle Diskussionen im Institut anzuregen, oder eine bestimmte Variante von Journal Club, in dem aktuelle Fachartikel gemeinsam diskutiert werden. (Generell ist skeptisch-konservativen Kollegen gegenüber der Hinweis, das vorgeschlagene Vorgehen werde am Institut XYZ bereits seit Jahren erfolgreich praktiziert, als Argument nicht zu unterschätzen.)

Die Parallelen zu den Wanderjahren der klassischen Handwerksausbildung, und zu deren Nutzen für das Handwerk allgemein, sind offensichtlich.

Austausch im Institut

Apropos tägliches Vormittagstreffen mit kostenlosem Kaffee: die häufigsten Anlässe für Austausch ergeben sich in der Regel innerhalb des eigenen Instituts. Auf offizieller oder halboffizieller Ebene durch die regelmäßigen Vorträge, bei denen sich die Wissenschaftler des Instituts gegenseitig ihre Arbeit vorstellen, durch entsprechende Präsentationen und Diskussionen bei den Abteilungs-, Gruppen- oder Teamtreffen; inoffizieller und umso intensiver in den persönlichen Diskussionen mit Kollegen, mit denen man enger zusammenarbeitet (und mit denen sich im günstigsten Falle auch Freundschaften entwickeln).

Diese Art von Austausch ist nicht zuletzt für jüngere Wissenschaftler wichtig, um die eigene Rolle zu finden und sich selbst richtig einschätzen zu können. Der Vergleich mit Kollegen zeigt nicht zuletzt die eigenen Schwächen und Stärken – zeigt, wo die anderen auch nur mit Wasser kochen und in einigen Fällen auch, dass es Menschen gibt, die dann doch in punkto Forschung um Klassen besser sind als man selbst (in meinem Falle: hallo Niklas!). Auch was gute und was zweifelhafte wissenschaftliche Praxis ist, verinnerlicht man in solchen Diskussionen – im kritischen Austausch über den Vortrag mit den nicht ganz so gut begründeten Schlüssen, den man eben gemeinsam angehört hat, ebenso wie beim anerkennenden Gespräch z.B. über das neue statistische Verfahren, über das man gerade einen Artikel gelesen hat.

Zum Austausch gehört auch das Feedback zur Präsentation der eigenen Arbeit: das Gegenlesen von Entwürfen für Fachartikel oder für Konferenzposter; für wichtige Vorträge das Halten von Probevorträgen mit anschließender Rückmeldung.

Wie sieht der Austausch in der Schule aus?

In meiner Arbeit am Haus der Astronomie habe ich zum einen mit Wissenschaftler/innen, zum anderen aber auch mit Lehrer/innen und Lehramtsstudent/innen zu tun. Und, wie gesagt: bei der deutsch-italienischen Lehrerfortbildung beispielsweise bringen wir diese drei Gruppen in direkten Kontakt.

Was mir mit etwas Abstand im Vergleich auffällt, ist, wie wenig Austausch es offenbar innerhalb der Schulen gibt – im Vergleich mit dem, was ich aus der Wissenschaft gewohnt bin. Da ich an dieser Stelle nicht nur anekdotische Informationen aus zweiter Hand dazu weitergeben wollte, wie ungewöhnlich bzw. regelrecht verpönt es an Schulen beispielsweise ist, sich von Kollegen Rückmeldungen zum eigenen Unterricht geben zu lassen, habe ich mich im Netz etwas schlauer gemacht. Diese Meldung hier und die darin vorgestellte Studie zur Lehrerkooperation in Deutschland (Fokus auf Sekundarstufe I) geben konkretere Informationen: eine besonders wenig ausgeprägte Feedback-Kultur, nur neun Prozent der Lehrer hospitieren häufiger im Unterricht von Kollegen. Und häufig ungünstige Randbedingungen für diese Art von Austausch- und Kooperationskultur, insbesondere kaum gemeinsame Zeit nach dem/außerhalb des Unterricht/s.

Dabei würde ich mir von verstärktem Austausch der Lehrer untereinander und von der Möglichkeit, auf diese Weise Beispiele für gute Unterrichtspraxis und für das, was mit Schülern geht, viel versprechen. Ich merke ja, wie das in der Wissenschaft läuft – und stelle mir vor, dass einige der durchaus engagierten Lehrer, die ich von unseren Veranstaltungen her kenne, eine ähnliche positive Rolle spielen könnten wie entsprechende Kolleg/innen in der Wissenschaft, die zeigen, wie es geht. (Gibt es im deutschen eigentlich eine gute Entsprechung von “best practice”?)

Immerhin scheint es einige Initiativen in diese Richtung zu geben. Die erwähnte Studie beispielsweise wurde von der Bertelsmann-Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung, der Stiftung Mercator und der Deutsche-Telekom-Stiftung gefördert. Und unsere binationale W.E.-Heraeus-Fortbildung fördert ja auch nicht nur den internationalen Austausch, sondern auch den der Lehrer/Lehramtstudenten untereinander. Mein Bauchgefühl: Hier institutionelle Anreize, geeignete Rahmenbedingungen und eine Kultur zu schaffen, in der Feedback, Kooperation und Austausch, wie sie in der Wissenschaft gang und gäbe sind, auch in der Schule selbstverständlich wären, dürfte deutlich mehr bringen als so manches, was in deutschen Schulen in den letzten Jahren reformiert wurde.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

3 Kommentare

  1. Warum müssen sich auch die Naturwissenschaftler von den feministischen Sprachler/*Innen vergewaltigen lassen?
    Mehr Mut, Selbstbewusstsein. Schützt unsere Sprache.

    Wie liest man das? grrrrr

  2. Ein Gedankenaustausch zwischen Schulen müsste mit dem Gedankenaustausch zwischen Lehrern und Lehrerinnen beginnen. Dass es diesen Gedankenaustausch nicht schon heute gibt bedeutet, dass die Lehrer und Lehrerinnen nicht die richtigen Lehrer hatten. Auf meiner Maturareise in die Toscana entschuldigten sich die dortigen Maturanden für ihr schlechtes Englisch mit dem schlechten Englisch ihrer Lehrer – und damit hatten sie wahrscheinlich recht.
    Übrigens: Mit dem obigen habe ich nichts anderes geschrieben als im Artikel schon steht. Meine eigene Erfahrung und mein eigenes Urteil bestätigen also nur. Zudem deckt sich meine Einschätzung mit der von John Hattie, der in seinem Buch Visible Learning nach Einflussgrössen für den Lernerfolg gesucht hat und dabei das Selbstbild des Schülers und den Einfluss des Lehrers weit vor andere Faktoren gestellt hat. Den grössten Schulerfolg haben damit wohl jene, die an sich selbst, an ihren Lehrer und an ihr eigenes Lernen glauben.

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