Gaia rollt die Astronomie auf

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… aber nicht einfacher
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Modell des ESA-Satelliten Gaia
Modell des ESA-Satelliten Gaia.

Ich bin von der bisherigen Online-Berichterstattung der Massenmedien über die erste Datenveröffentlichung (DR1) der ESA-Mission Gaia eher etwas enttäuscht. (Bei der ZEIT nur hier im Blog, hier in der Südeutschen, hier Spiegel Online, hier FAZ.)

Was ist wichtig bei Gaia?

Wissenschaftsjournalismus soll ja einordnen und betonen, was wichtig ist. Das ist bei Gaia sicher zum einen die Sternverteilung in der Milchstraße und die entsprechenden Sternbewegungen, aber was Gaia besonders macht ist, dass an ihren Messungen alle Entfernungsmaßstäbe über die Milchstraße hinaus hängen. Entfernungsbestimmung ist in der Astronomie besonders schwierig – wir sitzen nun einmal, galaktisch gesehen, an einem einzigen festen Punkt im Weltall.

Die Position eines Objekts am Himmel ist vergleichsweise einfach genau zu bestimmen. Die dritte Koordinate, der Abstand des Objekts, deutlich schwieriger. Astronomen nutzen dafür eine “Entfernungsleiter” aus mehreren aufeinander aufbauenden Verfahren. Verkürzt gehören dazu: Radarmessungen innerhalb unseres Sonnensystems, auf dieser Grundlage sogenannte Parallaxenmessungen wie bei Gaia oder ihrem Vorgänger Hipparcos, darauf aufbauend einige weitere Messungen und am Ende, wieder darauf aufbauend, sogenannte Standardkerzen. Das sind Objekte, deren Strahlungsleistung man kennt oder aus Beobachtungen erschließen kann. Da uns von einem Objekt umso weniger Licht erreicht, je weiter es von uns entfernt ist, kann man aus dem Vergleich der Strahlungsleistung und der gemessenen Helligkeit auf die Entfernung des Objekts rückschließen.

Mithilfe sogenannter Cepheiden (bestimmter veränderlicher Sterne) kommt man bis in andere Galaxien, im nächsten Schritt mit sogenannten Supernovae vom Typ Ia bis in einige der größten gemessenen Entfernungen, auf kosmologische Skalen. Insbesondere gehören dazu die Entfernungen, bei denen sich die Beschleunigung der kosmischen Expansion zeigt.

Fehlerfortpflanzung bei den Entfernungen

Bei der Entfernungsleiter bauen die verschiedenen Verfahren zur Entfernungsbestimmung aufeinander auf: Ohne die Radarmessungen im Sonnensystem keine genauen Messungen von Gaia, und von den Gaia-Daten wiederum hängt die Genauigkeit so gut wie aller jener Methoden ab, die noch größere Entfernungen messen.

Das hat Auswirkungen bis hinauf zu kosmologischen Größenskalen, weit jenseits der Entfernungen, die Gaia direkt messen kann. Damit spannt Gaia einen riesigen Bogen von Objekten, die es direkt beobachten kann (Sterne, aber auch Asteroiden) über indirekte Messungen (Nachweis von Exoplaneten anhand der winzigen Verschiebungen von Sternpositionen) über die großräumige Struktur der Milchstraße (enthält Hinweise darauf, wie unsere Heimatgalaxie entstanden ist)

Was läuft da an Studien?

Dementsprechend ist derzeit viel los – zahlreiche Astronomen sind dabei, die ersten Gaia-Daten für ihr Gebiet auszuwerten. Subjektiv gesehen habe ich soviel Aktivität zuletzt nach der Bekanntgabe des ersten direkten Nachweises von Gravitationswellen gesehen.

Da wären zum Beispiel Durchmusterungen, die ideal dafür sind – und zum Teil extra so angelegt wurden – um die Gaia-Messungen zu ergänzen. Die RAVE-Durchmusterung beispielsweise liefert für zahlreiche mit Gaia vermessene Sterne Spektren, aus denen sich via Dopplereffekt die Bewegung dieser Sterne auf uns zu oder von uns weg bestimmen lässt – also gerade jener Bewegungsanteil, den Gaia nicht liefert. (Updates liefert regelmäßig Matthias Steinmetzauf Twitter als @GalacticRAVE.) Zusammen ergibt sich mit RAVE und Gaia eine dreidimensionale Bewegungskarte von knapp einer halben Million Sternen. Hier ist eine Überblicksversion einer solchen Bewegungskarte zu sehen: RAVE_largeDie Pfeile zeigen dabei die von Gaia festgestellten systematischen Positionsänderungen der Sterne am Himmel an, die farbigen Punkte die Bewegungskomponente von Sternen auf uns zu (blau) oder von uns weg (rot; grüne und gelbe Werte liegen zwischen den Extremen). Dominiert wird dieses Bild durch die Bewegung unserer Sonne relativ zu den Sternen unserer Heimatgalaxie; unser Sonnensystem bewegt sich auf den Ort Mitte links im Bild zu, wo die Pfeile so kurz sind, dass man freien Durchblick auf das Hintergrundbild hat. Für die Forscher, die die Dynamik unserer Milchstraße erforschen wollen, wird das Bild erst wirklich interessant, wenn man die Bewegung unserer Sonne abzieht und sich anschaut, was an echten Sternbewegungen in unserer Milchstraße übrig bleibt.

Geschwindigkeitsstruktur der Großen Magellanschen Wolke. Bild: Roeland van der Marel (STScI) and Johannes Sahlmann (ESA)
Geschwindigkeitsstruktur der Großen Magellanschen Wolke. Bild: Roeland van der Marel (STScI) and Johannes Sahlmann (ESA)

Gaias direkte Entfernungsmessungen reichen sogar bis in unsere nächste (kleine) Nachbargalaxie, die große Magellansche Wolke. Prompt haben Astronomen den ersten Data Release genutzt, um noch am Tag der Veröffentlichung einen Artikel zur Geschwindigkeitsstruktur dieser Zwerggalaxie einzureichen.

Und auch für die Kosmologie sind die Gaia-Daten schon eingespannt worden: Adam Riess, einer der Mitentdecker der Dunklen Energie, hatte bereits im Juli eine Bestimmung der Hubble-Konstante abgeliefert, also so etwas wie der momentanen Expansionsrate des Weltalls, die von der Bestimmung eben jener Konstante aus Messungen an der kosmischen Hintergrundstrahlung etwas abweicht. Woher diese Abweichung kommt, ist noch nicht verstanden. Nach dem Gaia-Datenrelease hat Riess mit einigen Kollegen nachgeprüft, was die Verbesserung der Entfernungsbestimmung durch Gaia für Auswirkungen auf die Bestimmung der Hubble-Konstante hat, und sieht das Ergebnis als Bestätigung für die Kalibration, die seinen Juli-Messungen zugrundeliegt.

Eine ganze Menge an Aktivität. Dabei ist der jetzige Daten-Release noch in einiger Hinsicht vorläufig. Er rekonstruiert die Messungen, aus denen sich Entfernungen bestimmten lassen, aus einer Art Kombination der neuen Messungen mit dem Rahmen, den die vorausgehenden Messungen des ESA-Satelliten Hipparcos geliefert haben. Entfernungsbestimmungen, die ohne dieses Hilfsgerüst auskommen und deren systematische Genauigkeitsgrenzen dann auch sehr viel besser bekannt sein dürften wird es erst bei einer der nächsten Datenveröffentlichungen der Gaia-Mission geben. Aber selbst mit den vorhandenen vorläufigen Daten haben Astronomen bereits eine Vielzahl ganz unterschiedlicher astronomischer Auswertungen vorgenommen. Schade, dass diese aufregende Phase zumindest an den Lesern der Massenmedien bislang so weitgehend unbemerkt vorbeizieht.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

6 Kommentare

  1. Zustimmung: Entfernungsmessungen und Bewegungsmessungen der beobachteten Sterne sind die entscheidende Leistung von Gaia. Damit den von Gaia erhobenen Daten wirklich vertraut werden kann braucht es Referenzen, also unabhängige Messungen an Einzelsternen/Einzelobjekten, mit denen die aus den Gaia-Daten berechneten Entfernungen, Sterngeschwindigkeiten und Sternbeschleunigungen verglichen werden können.
    Ein Hinweis darauf, dass solche Referenzen nötig sind zeigen die Hipparcos-Daten (Hipparcos ist der Gaia-Vorgänger, der eine ähnliche Tehcnologie wie Hipparcos nutzte). Dort hat sich eine Kontroverse um die Entfernung der Pleiaden entwickelt:

    In August 2014, the discrepancy between the cluster distance of 120.2±1.5 parsecs (pc) as measured by Hipparcos and the distance of 133.5±1.2 pc derived with other techniques was confirmed by parallax measurements made using VLBI,[49] which gave 136.2±1.2 pc, the most accurate and precise distance yet presented for the cluster.

    Was die wissenschaftsjournalistischen Leistungen betreffend Gaia-Berichtserstattung angeht, stimme ich dem Autor voll zu. Wenn man in der Süddeutschen liest:

    Die Detailschärfe der “Gaia”-Daten sei vergleichbar mit Aufnahmen des “Hubble”-Weltraumteleskops. Es sei wie eine “Hubble”-Aufnahme des gesamten Himmels, erläuterte Brown.

    so assoziert man das was Gaia vermessen hat mit entsprechenden bisherigen Sternkatalogen oder dem was Hubble innerhalb unserer Milchstrasse untersucht hat.
    Eigentlich vermisst Gaia die Kräfte-Dynamik, die in der Milchstrasse herrscht. Gaia vermisst
    – das Wirken der Gravitationskräfte in der Milchstrasse (inklusive dem Zittern des Sterns um den gemeinsamen Schwerpunkt mit seinen Planeten)
    – die Spektren der Milchstrassensterne
    – den Transit von Planeten vor ihrem Heimatgestirn

    • Die Hipparcos-Pleiaden-Frage ist allerdings eher eine Anomalie; da geht es ja eher um zu helle Sterne als um wirklich weit entfernte Objekte. Aber klar: Dass Gaia da ein Votum in Richtung der herkömmlichen Messungen gegeben hat (mit Hipparcos als Outlier) war ein wichtiger Schritt. Was da für systematische Fehler im Spiel waren wird man hoffentlich mit einem der nächsten Gaia-Daten-Releases verstehen.

  2. Mir scheint, die Gaia-Mission ist nur ein Schritt auf dem Weg zur totalen Kartierung unserer Milchstrasse. Eine totale Kartierung würde den Ort und Bewegungszustand aller Milchstrassenobjekte (Sterne/Gasansammlungen) erfassen und zudem Rückschlüsse auf die Exoplaneten der Sterne erlauben.
    Folgende Fragen stellen sich mir in diesem Zusammenhang:
    – Wie müsste eine Gaia-Nachfolgemission ausgestattet sein, welche mit der Gaia-Technologie die Nachweisgrenzen um den Faktor X erhöht?
    — Wieviele Exoplaneten im Umkreis von X Lichtjahren bis zu welcher Grösse herunter könnte eine Gaia-Nachfolgemission mittels Astrometrie (Wackeln des Zentralsterns) und Transitmethode nachweisen?
    — Wie müsste eine Gaia-Nachfolgemission beschaffen sein um alle Asteroiden einer gewissen Grösse- und Helligkeitsklasse in unserem Sonnensystem zu bestimmen? Und könnten damit alle gefährlich grossen Asteroiden/Kometen mit Kollisionskurs zur Erde bestimmt werden?

    – Was würde es bringen einen Gaia-artigen Satelliten in einer Mars- oder Jupiterumlaufbahn zu platzieren? Wie viel besser würden dadurch Entfernuungsbestimmungen?

    Daneben könnte man sich auch fragen, welche Milchstrassendurchmusterungen im Radiowellenbereich sinnvoll wären und wie ein entsprechender Satellit ausgestattet sein müsste.

  3. Gaia hat auch ein Spektrometer zur Bestimmung der Radialgeschwindigkeit von Sternen, also ein RVS wie dem arxiv-Artikel THE GAIA SPECTROSCOPIC INSTRUMENT (RVS): A TECHNICAL CHALLENGE zu entnehmen ist. Gaia hat damit eine Schwäche von Hipparcos (dem Vorgängerprojekt der Gaia-Technologie) überwunden. Dies relativiert den obigen Satz etwas:

    Die RAVE-Durchmusterung beispielsweise liefert für zahlreiche mit Gaia vermessene Sterne Spektren, aus denen sich via Dopplereffekt die Bewegung dieser Sterne auf uns zu oder von uns weg bestimmen lässt – also gerade jener Bewegungsanteil, den Gaia nicht liefert.

    • …den Gaia zumindest jetzt noch nicht liefert; im DR1 sind, soweit ich weiß, keine Spektren enthalten. Aber in der Tat: In Zukunft wird Gaia auch solche Messungen liefern. Und, ganz wichtig: daraus abgeleitete physikalische Parameter aus den Messungen für jeden Stern. Damit beschäftigt sich hier am Max-Planck-Institut für Astronomie eine ganze Gruppe.

  4. Der BBC-Artikel Gaia space telescope plots a billion stars vom 14. September 2016 geht auf Sternparallaxen und wie Gaia sie für die Bestimmung von Stern-Distanzen nutzt, detailliert ein – nicht nur textlich, sondern zudem noch graphisch veranschaulicht. Damit steckt der BBC-Artikel die entsprechenden Berichterstattungen in der ZEIT, der Südeutschen, in Spiegel Online und FAZ locker in die Tasche.
    Zudem bespricht der BCC-Artikel auch die Bedeutung der Radialgeschwindigkeitsmessungen der beobachteten Sterne:

    One eagerly anticipated measurement is the radial velocity of stars. This describes the movement they make towards or away from Gaia as they turn around the galaxy.

    If this measurement is combined with the stars’ proper motion, it will lay bare the dynamics of the Milky Way.

    It should be possible, for example, to make a kind of time-lapse movie – to run forwards to see how the galaxy might evolve into the future, or to run backwards to see how our cosmic neighbourhood came to be the shape it is today.

    Das hier angestellte Gedankenexperiment, man könne mit diesen Daten Zeitrafferfilme der Milchstrassenvergangenheit und Milchstrassenzukunft erzeugen, scheint mir sehr anregend und instruktiv für interessierte Leser. Der BBC-Artikel vermittelt damit auch die Intentionen hinter dem Gaia-Experiment.

    Folgerung: Es gibt sie, die gelungenen und guten Berichterstattungen über das Gaia Weltraumteleskop, über die gerade erhobenen Gaia-Daten und die angestrebten Forschungsziele – wenn auch nicht im deutschsprachigen Raum.
    Immer mehr gilt in der globalisierten Welt nicht nur für Forscher sondern auch für Interessierte und einfache Leser: Es gibt die erstklassigen Berichte, man muss sie nur finden. Und man findet sie nicht selten bei der BBC, der New York Times oder gar bei Nature.

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