Adventskalender, Tag 3: 24 Gedanken und Wünsche für Hochbegabte

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Eigentlich sollte ja heute ein anderer Gedanke kommen, aber nachdem ich den, wie ich finde, sehr schönen Kommentar von Name beim ersten Türchen gelesen habe, wollte ich daran anknüpfen. (Wir haben ja auch noch ein paar Tage vor uns, da kommt wohl noch einiges zusammen.)

Insofern kommt der heutige Gedanke von mir: “Die Schule ist nicht die Welt.” Schule und insbesondere die eigene Klasse sind vielfach eine Zwangsgemeinschaft; Sprengelerlässe, denen zufolge Schülerinnen und Schüler eine bestimmte Grundschule (und z.T. auch weiterführende Schule) in ihrem Bezirk besuchen müssen, gibt es in vielen Bundesländern, mit dem Ziel, die Schülerströme zu steuern (oder damit die als gut bekannten Schulen nicht überrannt werden?). Ob man also in dieser relativ überschaubaren Gruppe unbedingt auf jemanden trifft, mit dem man sich wohlfühlt und bei dem man sich verstanden fühlt, ist ziemliche Glückssache.

Gerade bei hochbegabten Jugendlichen habe ich den Eindruck, dass ihnen die Gemeinschaft mit anderen Hochbegabten gut tut. (Die empirische Befundlage ist bislang noch eher spärlich, insbesondere in Relation zu den zahlreichen Befunden zur Leistungsentwicklung, deutet aber in eine positive Richtung.) Identitätsentwicklung ist ja das große Thema im Jugendalter; die Befunde zum sogenannten stigma of giftedness zeigen, dass insbesondere “leistungsfeindliche” Attitüden der Peergruppe dazu führen können, dass Hochbegabte ihr Potenzial nicht ausleben; Beliebtheit (und gutes Aussehen) stehen in dem Alter nun mal hoch im Kurs. Hinzu kommt, dass Leistung in unserer Gesellschaft ja durchaus einen hohen Stellenwert hat; die Auseinandersetzung mit (und Abgrenzung von) den Werten der Erwachsenenwelt trägt möglicherweise ein übriges dazu bei.

Nun bringt die Hochbegabung ja nun mal einerseits das Potenzial zur hohen Leistung mit. Entsprechend müssen sich die Hochbegabten mit den sich daran knüpfenden Erwartungen seitens ihres Umfelds auseinandersetzen. Hohe Erwartungen (die die Jugendlichen ja oft genug an sich selbst stellen – da braucht es u.U. gar keinen großen Druck von außen) können zu negativem Perfektionismus, Angst vor Fehlern und somit Stress führen, und, wie gesagt, eben auch zu Problemen mit den Peers. Sich diesen Erwartungen zu entziehen, ist aber auch keine Lösung: Underachiever leiden unter ihrer Situation, da herrscht weitgehend Einigkeit unter Forschern wie Praktikern.

Andererseits müssen sich die Hochbegabten auch mit der Kehrseite der gesellschaftlichen Erwartungen auseinandersetzen – nämlich den Negativklischees der sozialen Inkompetenz. Grundsätzlich unterscheiden sich Hochbegabte in sozialer und emotionaler Hinsicht nicht großartig von durchschnittlich Begabten (allenfalls in einzelnen Teilbereichen, und da heben sie sich sogar eher positiv ab), aber das Klischee ist nun mal da. Passt man sich diesem an, indem man gezielt den “Nerd” raushängen lässt, oder versucht man, die eigene Begabung weitgehend zu verstecken? (Beide Strategien werden angewandt, wie die besagte Forschung zum stigma of giftedness zeigt.)

Eine Umwelt zu finden, in der es okay ist, so zu sein, wie man ist (und wo man als Hochbegabte/r das eigene Potenzial ausleben kann, ohne dass andere komisch gucken oder gar feindselig handeln) – diese Passung ist, denke ich, das A und O. Dass der Schulunterricht intellektuell “passt”, ist eher unwahrscheinlich; insofern spricht es sehr für die Resilienz und Anpassungsfähigkeit der Hochbegabten insgesamt, dass sie sich von den durchschnittlich Begabten in Sachen Emotion und Sozialverhalten kaum unterscheiden!

Wie wir aus Längsschnittstudien wie dem Marburger Hochbegabtenprojekt wissen, durchlaufen die meisten Hochbegabten ihre Schullaufbahn ohne größere Probleme. “Ohne größere Probleme” heißt aber eben nicht, dass das Potenzial optimal umgesetzt wurde. Und ich glaube, deshalb ist es so wichtig, die Perspektive der Hochbegabten dahingehend zu erweitern, dass die Schule nicht alles ist, sondern dass die Welt viel, viel mehr bereithält – insbesondere Kontexte, in denen die Passung (aufgrund ähnlicher Fähigkeiten, ähnlicher Interessen …) eher gegeben ist als in einer mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelten Schulklasse. Aktuell sind wir von echter Binnendifferenzierung noch weit entfernt. Deshalb ist die außerschulische Förderung, denke ich, auch so wichtig, sowohl im Bereich der Leistungsförderung (z.B. Wettbewerbe, Sommerakademien … – vgl. beispielsweise die Projekte von Bildung und Begabung e.V.) als auch in Form gemeinsamer Aktivitäten, die eher im sozial-emotionalen Bereich ansetzen (z.B. Hochbegabtenvereine wie Mensa e.V. oder die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V.).
Sollten Sie also jemals im Zweifel sein, ob Sie Informationen über solche Initiativen weitergeben sollen: Tun Sie’s. Vielleicht findet irgendwer dadurch genau den Entwicklungkontext, den er/sie gerade braucht.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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