Moses: Jahwes besiegter Konkurrent?

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Michelangelos MoseEin Beitrag zur Stellung der mythologischen Figur Mosis in Kult und Tradition

Links: Michelangelos Mose

I. Einleitung

In diesem Beitrag geht es um eine Vermutung, nämlich, dass die mythologische Figur Mosis nicht nur – oder nicht immer bzw. nicht von Anfang an – die Funktion eines rein menschlichen Vermittlers zwischen Israel und dessen Gottheit erfüllte. Es sollen hier folglich Indizien herausgearbeitet und analysiert werden, die darauf hinweisen, dass Moses auch Charakteristika aufweist, die im Zusammenhang mit dem Numinosen (s. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau: Trewendt & Granier 1917) stehen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass dabei zwar begründete Fragen gestellt und Hypothesen vorgeschlagen, aber keine endgültigen Antworten, geschweige denn Beweise gegeben werden können.

II. Die Suche nach dem Ersatzführer in der Sinaimythologie

Exodus 32:1 weiß uns Folgendes zu erzählen:

»Als das Volk sah, dass Moses säumte, vom Berg herunterzukommen, scharte es sich um Aaron und sagte ihm: ›Steh auf und mach uns einen Gott, der vor uns schreitet, denn jener Moses, der Mann, der uns aus Ägypten herausgeführt hat – wir wissen nämlich nicht, was mit ihm geschehen ist!‹ «

Das Volk wendet sich an Aaron, weil er in diesem Text als der Hohepriester, d.h. als der für den Gotteskult Zuständige figuriert, nachdem er und seine Söhne bereits in Ex. 29 in dieses Amt initiiert worden sind. Bereits hier fällt auf, dass Moses über die herkömmliche Mythologie hinausragt: Während Aaron als Erzvater des aaronitischen Priestertums angeblich klare Spuren hinterlässt, wie es in der israelitischen Mythologie etwa die Erzväter bis Jakob sowie dessen Kinder auch tun, verschwindet sein Bruder Moses, sobald er das Volk bis ans Land gebracht hat, gänzlich, d.h. ohne der Nachwelt Sprosse zu hinterlassen, die seine Funktion übernehmen und fortsetzen (Josua ist ja kein Sohn Mosis, dessen eigene Söhne seit Ex. 18 keine Rolle mehr spielen). Umso verwunderlicher wird der Gegensatz Mosis zu den menschlichen Figuren, wenn man bedenkt, dass Moses in dieser Mythologie eine weit gewichtigere Rolle spielt als alle anderen Figuren – bis auf die Gottheit Jahwe, die dem Volke ebenfalls keine Nachkommen schenkt, die es führen könnten. Doch wenn Moses auf dem Berg Nebo die Bühne verlässt, hat er zumindest seine Aufgabe in der israelitischen Mythologie bereits erfüllt. Was passiert aber, wenn eine so zentrale Figur vorzeitig verschwindet? Dies erfahren wir in der obigen Bibelstelle, der Erzählung vom Goldenen Kalb.

Wenn Moses in dieser Erzählung (nur) der menschliche Vermittler zwischen Gott und Israel bzw. zwischen Gott und Aaron wäre, würde das Volk von Aaron verlangen, dass er für den fehlenden Moses selber aufkommt und dessen Funktion erfüllt. Das tut das Volk jedoch nicht: Obwohl Aaron in Ägypten schon im Auftrage Mosis gewirkt hat, scheint er gar nicht in Frage zu kommen, wenn es Moses selbst zu ersetzen gilt. Obwohl das Volk, wie uns die Bibel erzählt, für den Weg durch die Wüste einen neuen Führer braucht, der vor dem Volke zieht, bittet es Aaron nicht darum. Stattdessen fordert es vom Erzpriester Aaron einen Gott als Ersatz für den fehlenden Moses; keinen menschlichen Führer also, sondern einen neuen Wegegott.

Diese Gleichsetzung des alten Moses mit dem neuen Gott erklärt das Volk nicht. Auch Aaron wundert sich gar nicht über diese Forderung und stellt dem Volk keine Frage. Im Gegenteil: Die Forderung scheint ihm so klar zu sein, dass er unmittelbar zu reagieren weiß und zwar positiv (Exodus 32:2). Es scheint hier folglich beiden Seiten bzw. allen Anwesenden selbstverständlich zu sein, dass die Figur Mosis nur durch einen anderen Gott zu ersetzen ist.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Apposition »האיש« bzw. »der Mann« als späteren Zusatz zu interpretieren: »[…] jener Moses [, der Mann], der uns aus Ägypten herausgeführt hat […]« Wenn Moses wirklich nur ein Mensch wäre, bräuchte das Volk Aaron nicht zu erklären, dass Moses ein Mann ist bzw. dass es den Mann Moses meint und kein anderes Wesen gleichen Namens. Dieser Zusatz dient anscheinend dem Zweck, die ursprünglich vorhandene Gegenüberstellung von »Gott« und »Moses« zu tarnen: »Mach uns einen Gott […] denn wir wissen nicht, was mit Moses geschehen ist«.

Tatsächlich entspricht der ursprüngliche Wortlaut von Ex. 32:1 dem üblichen Muster des im Auszug aus Ägypten verankerten Gotteslobes: »Moses, der uns aus Ägypten herausgeführt hat« steht – abgesehen von den Deklinationsunterschieden, die vom jeweils unterschiedlichen Verhältnis zwischen Ansprechendem und Angesprochenem abhängen – ganz im Einklang mit dem dekalogischen Wortlaut dieser Formel (Ex. 20:2): »Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus Ägypten herausgeführt habe […]« Ist diese auffällig identische Formulierung des Moses- und Jahwelobes ein reiner Zufall?

In ganz enger Beziehung steht Ex. 32:1 aber zum darauf folgenden Glaubensbekenntnis des Volkes zum Kalb in Ex. 32:4b: »da sagten sie: ›Das, Israel, ist dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat‹ «. Weil das Kalb vom Hohepriester Aaron geschaffen worden ist, um Moses zu ersetzen, wird es jetzt in derselben Weise gepriesen wie Moses. Daraus aber, dass das Kalb offensichtlich als Gottheit angebetet wird, lässt sich vielleicht folgern, dass die mit eben dieser Formel gepriesene Figur Mosis ebenfalls eine göttliche oder zumindest gottähnliche Funktion innehat, zumal diese Formel auch auf die Gottheit Jahwe angewendet wird.

Es scheint sich hier also um eine Formel zu handeln, die gewissermaßen als Glaubensbekenntnis fungiert und in dieser Funktion Moses und das Kalb einerseits mit der Gottheit Jahwe andererseits gleichsetzt. Wie Freud erklärt hat (Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Wien: Heller, 1913), besteht auf dieser religionsgeschichtlich eher frühen Etappe noch keine Widersprüchlichkeit zwischen dem Tierischen und dem Göttlichen – ganz im Gegenteil.

Es prallen hier anscheinend zwei unterschiedliche Quellen israelitischer Mythologie aufeinander: In der einen Quelle ist es Moses, der als Heiland und Erlöser angebetet wird, weil er das Volk aus dem schlimmen Schicksal errettet hat. Die andere Quelle, die womöglich eine spätere Schicht darstellt, kennt hingegen eine alleinige Gottheit namens Jahwe. In dieser alternativen Überlieferung ist diese Gottheit, welche die große Rettungstat für sich beansprucht. Im vorhandenen Wortlaut werden beide Überlieferungen zu einer Erzählung verschmolzen. Dies hat zur Folge, dass Moses zum rein menschlichen »Mann« degradiert und aus der Erzählung praktisch verdrängt wird (im Pentateuch als Ganzem wird er ja zum Adjutanten seines Konkurrenten Jahwe herabgesetzt).

Seinen Platz nimmt nunmehr ganz und gar die alleinige Gottheit Jahwe. Die Erzählung wird dementsprechend geändert bzw. aktualisiert und zwar nicht nur in Ex. 32:1, sondern etwa auch in v.32:5b, wo Aaron ausruft: »[…] ein Fest für Jahwe ist morgen!« Nur ergibt hier die plötzliche Einbeziehung Jahwes eigentlich keinen Sinn und steht ziemlich zusammenhangslos da, denn das Volk hat ja gar nicht von Jahwe gesprochen bzw. nach ihm verlangt.

Jedoch bleibt der grundlegende Tatbestand dieser Mythologie auch nach ihrer »Jahwifizierung« erhalten: Es ist die Abwesenheit Mosis, die veranlasst, dass das Volk nach einer Ersatzgottheit verlangt und dass Aaron in seiner Funktion als Hohepriester diesem offensichtlich als plausibel empfundenen Wunsch unmittelbar gerecht wird. Auf diesen Punkt, die Synthese zweier Traditionen, kommen wir späterhin anhand weiterer Erkenntnisse zurück.

III. Mosis Hörner: Eine religionsgeschichtliche Zwischenstufe?

Kaum hat das Volk die Geschichte vom Goldenen Kalb überlebt und schon geht es weiter mit folgender Erzählung (Ex. 34:29-35):

»Als Moses vom Berg Sinai herunterkam, waren beide Zeugnistafeln in Mosis Hand auf dessen Weg vom Berg herunter; Moses wusste aber nicht, dass sein Gesichtshaut hornig geworden war, während er mit ihm gesprochen hatte. Aaron und alle Kinder Israels sahen Moses und da war seine Gesichtshaut hornig; sie fürchteten sich, sich ihm zu nähern. Moses aber ruf ihnen zu und sie kamen, Aaron und alle Volksoberhäupter, zu ihm zurück; dann sprach er zu ihnen. Danach näherten sich ihm alle Kinder Israels und er gebot ihnen alles, was Jahwe am Berg Sinai mit ihm gesprochen hatte. Als Moses mit ihnen zu Ende sprach, legte er eine Hülle über sein Gesicht. Wenn Moses (fortan) vor Jahwe trat, um mit ihm zu sprechen, nahm er die Hülle ab, bis er herausging; und wenn er herausging, sprach er zu den Kindern Israels, was er geboten worden war. Da sahen die Kinder Israels das Gesicht Mosis, dass Mosis Gesichtshaut hornig war, und Moses legte die Hülle wieder über sein Gesicht, bis er wieder hineintrat, um mit ihm zu sprechen.«

Auf die Zeugnistafeln kann im Rahmen dieses Beitrages nicht zwar eingegangen werden, es wäre aber zumindest darauf hinzuweisen, dass sie in religionsgeschichtlicher Hinsicht auch als ein steinernes Totem (wie etwa der Schwarze Stein in der Kaaba zu Mekka) interpretiert werden können, das erst durch Rückprojektion in freilich weniger auffällige Gesetzestafeln verwandelt wurde.

Nun stellt sich also die Frage, warum hier קרן עור פניו nicht, wie sonst üblich, mit »Ausstrahlung«, sondern mit »Hornigwerden« übersetzt worden ist. An dieser Stelle ist auf Theodor Reiks psychoanalytische Studie zu Michelangelos Moses (als Anhang von: Theodor Reik, Probleme der Religionspsychologie, Leipzig und Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1919 [=Das Ritual. Psychoanalytische Studien, 1928]) hinzuweisen, wo er etwa anhand von Aquilas griechischer Übersetzung erklärt, warum der ursprüngliche Sinn von קרן wirklich mit Hörnern zusammenhängt und die Interpretation als Ausstrahlung eine zurückprojizierte Sublimierung ist, zumal der übertragene Sinn »strahlen« in sprachwissenschaftlicher Hinsicht wohl erst viel später entstanden ist als der unmittelbare Sinn. Michelangelos Plastik stellt mithin das richtige Textverständnis dar.

Wie es scheint, hat das Volk Angst vor Mosis Hörnern, weshalb Moses sich die Hülle aufsetzt. Möglicherweise ist diese Angst in der Erfahrung mit dem Goldenen Kalb begründet, das sich ja ebenfalls durch Hörner kennzeichnet; immerhin hat das Volk erst vor kurzem Jahwes Zorn aufgrund der Anbetung des Goldenen Kalbes knapp überlebt. Allerdings ist diese Erklärung nicht unproblematisch, weil diese moralistische Oberschicht, wie späterhin erklärt, wohl erst in einer Epoche eingefügt wurde, als man sich (im Südreich) vom (nordisraelitischen) Kalbkult und der damit zusammenhängenden Mythologie distanzieren wollte.

Warum fürchtet sich also das Volk vor Mosis Hörnern? Lassen wir uns nochmals versuchen, den einfachen Wortlaut zu verstehen: Moses erscheint wieder vor dem Volk, jedoch sind ihm inzwischen Hörner gewachsen. Das Volk und dessen Fürsten sehen die Hörner und fürchten sich vor Moses. Moses ruft ihnen zu, dann kommen sie doch zu ihm, zunächst die Fürsten und dann das ganze Volk. Als Moses ihnen schon alles gesagt hat, was er zu sagen gehabt hat, setzt er sich eine Hülle auf.

Dieser Sachverhalt soll aber näher betrachtet werden: Wenn sich das Volk vor Mosis Aussehen fürchtet, warum kommt es auf Moses zu, ehe er die Hülle aufgesetzt hat? Und warum setzt er sich die Hülle erst auf, wenn das Volk eh keine Angst mehr zu haben scheint und sie auch deswegen überflüssig ist, weil er ja nichts mehr mit dem Volk zu tun hat? Wie Hugo Gressmann (vgl. Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den Mosesagen, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1913, S. 247) erklärt, liegt hier eine Umdrehung vor (die ebenfalls erst in einer sehr viel späteren Epoche, etwa bei der Verschriftung der Mythologie, vollzogen worden sein darf). Damit diese Stelle wieder Sinn ergibt, muss sie also zurückgedreht werden: Moses trägt die Hülle, eine Art Maske, während er mit dem Volk kommuniziert.

So sind wohl auch die folgenden Verse (34-35) zu verstehen, die keine einmalige Begebenheit mehr, sondern einen regelmäßigen Brauch beschreiben: Überliefert ist uns der Brauch so, dass Moses mit dem Volk kommuniziert und dieses dabei sieht, dass Moses Hörner hat; dieser setzt sich jedoch erst danach die Hülle auf, bis er wieder vor Jahwe tritt. Eigentlich muss es umgekehrt stattgefunden haben: Um mit dem Volk zu kommunizieren, setzt sich Moses die Hülle auf, woraufhin das Volk seine Hörner sieht – und eben deswegen vor ihm Angst hat.

Nun stellt sich die Frage, warum Moses sich eine Maske aufsetzen soll, um mit dem Volk zu kommunizieren. Wahrscheinlich haben wir hier jedoch nicht mit dem mythischen Moses zu tun, sondern mit einem Priester, der in einer späteren Epoche als Moses agiert, indem er zu Moses wird. Dies tut er, wie in »primitiven« Naturreligionen üblich, durch die Aneignung eines Wahrzeichens des Wesens, mit dem er sich im wahrsten Sinne des Wortes identifizieren will, hier also durch die Aneignung von Mosis Wahrzeichen, den (wie bei Michelangelo wohl noch kleinwüchsigen) Hörnern des mosaischen Kalbes (Reik interpretiert die Stelle so, dass hier keiner zu Moses wird, sondern dass es wirklich Moses war, der hier zu jemand anderem geworden ist, nämlich zu Jahwe). In dieser Funktion kann dann dieser Priester als Moses agieren und dem Volke, vielleicht in einem tranceartigen Zustand, Anweisungen verkünden, wie es der Brauch in v.34-35 tatsächlich beschreibt. Nun wird auch verständlich, warum das Volk Angst hat, wenn er auf unmittelbare Art und Weise der mythologischen Figur begegnet, dem Erlöser also, »der uns aus Ägypten herausgeführt hat«. Die Angst des Volkes ist folglich als Ehrfurcht, also als Scheu vor dem Numinosen zu verstehen, das immer dann gegenwärtig ist, wenn Moses vergegenwärtigt wird.

Wenn wir also zwischen dem mosaischen Kalbkult und den mosaischen Hörnern einen Vergleich ziehen, kommen wir zum Schluss, dass beide Kontaktformen zwar sehr eng miteinander zusammenhängen, aber in religionsgeschichtlicher Hinsicht auf unterschiedliche Entwicklungsstufen zurückgehen, die es auseinanderzuhalten gilt: In der früheren Stufe der Hülle agiert jemand als eine Gottheit, d.h. er selbst wird vorübergehend zu dieser Gottheit, während in der späteren Stufe, derjenigen von Jerobeams Kälbern, auf die sich auch die Mythologie des Goldenen Kalbes bezieht, die Gottheit bzw. das Numinose in eine Plastik hineinprojiziert wird.

IV. Das Signifikat hinter dem nordisraelitischen Kalbkult

Im Nordreich scheint der Jahwekult nicht so weit verbreitet gewesen zu sein. Daher rührt wohl die besondere Aufmerksamkeit, die der Text in II. Könige Kap. 10 Jehus auffällig gewaltsamem Bekenntnis zu Jahwe schenkt. Vor diesem Hintergrund wird auch erklärlich, warum Hosea im Nordreich Jahwe im Allgemeinen und dessen Alleinigkeit im Besonderen zu propagieren suchte.

In diesem Zusammenhang stehen auch die Kultstätten in Beth-El und Dan, die von Jerobeam errichtet wurden. Aber im Gegensatz zum jahwistischen Tempel in Jerusalem standen die nordisraelitischen Kultstätten nicht unterm Zeichen der Bilderlosigkeit und Undarstellbarkeit. Ganz im Gegenteil: In Beth-El und Dan wurde ein Gott verehrt, der durch ein Kalb dargestellt und abgebildet wurde (I. Könige 12:28 f.):

»Er [Jerobeam] ließ sich beraten und zwei goldene Kälber anfertigen; er sprich zu ihnen [dem Volke]: ›Ihr habt genug nach Jerusalem hingepilgert! Das ist, Israel, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat!‹ Er ließ das eine Kalb in Bet-El aufstellen und das andere in Dan.«

Bis auf die kleine Verwechslung von אלה in Ex. 32 durch הנה in II. Könige 12, die vom Wortsinn her überhaupt nichts ausmacht (zumal die Pluralform אלה auf das einzelne Kalb in Ex. 32 angewandt wird und nicht auf die beiden Kultstätten in II. Könige 12), wiederholt Jerobeam mit dieser Einweihe wortgetreu eben jene Gotteslobformel, die bereits für Moses und dessen Darstellung durch ein goldenes Kalb verwendet worden ist. Es scheint, dass der Kalbkult Jerobeams I. sehr eng mit jenem Kalb zusammenhängt, durch das Aaron die Abwesenheit Mosis zu kompensieren suchte (Israel Knohl zeigt, dass das Verhältnis sich auch umgekehrt verstehen lässt, nämlich so, dass die Erzählung vom Goldenen Kalb nicht nur als [frühe] Mythologie, sondern auch als [späte] Kritik an Jerobeam I. zurückgeführt werden kann: ישראל קנוהל, מאין באנו. הצופן הגנטי של התנ״ך [אור יהודה: כנרת, זמורה־ביתן, דביר 2008], עמ׳ 104). Ist dies auch ein Zufall? Oder versucht Jerobeam mit dem jahwistischen Jerusalem zu konkurrieren, indem er sich in eine alternative, nämlich in die mosaische Tradition stellt?

V. Hauptfest des Südreichs: Keine mosaische Mythologie

Die Konkurrenz gegen das jahwistische Südreich eröffnet Jerobeam zunächst durch die Festlegung eines Einweihefestes »im achten Monat, am fünfzehnten Tages des Monats« (I. Könige 12:32a), das offensichtlich das jahwistische Sukkoth verdrängen soll, das am bzw. ab dem 15. des siebten Monats stattfindet (vgl. Lev. 23:33 ff.; 39 ff. scheint sowohl vom Inhalt als auch von der Sprache her ein späterer Zusatz zu sein, weshalb hier die Bezeichnung »Laubhüttenfest« falsch wäre).

Tatsächlich ist das südisraelitische Hauptfest, mit dem der nordisraelitische Alternativkult konkurriert (oder umgekehrt), Sukkoth. Dieses ist das Tempfelfest schlechthin, wie dem beispiellos massiven Opferdarbringungsritual in Num. 29:12 ff. zu entnehmen ist. Allerdings ist dort dieses auffällige Opferritual in keinem besonderen Grund verankert. Es ist folglich nicht so, als würde das Opferritual dem Fest einen Sinn verleihen, denn das Fest ist mit dem Opferritual identisch, d.h. es ist ein Opferfest. Wohl ist es aber dieses Opferfest, das seinerseits dem jahwistischen Tempel eine Bedeutung verleiht. Sukkoth ist also das Opfer- und Tempelfest schlechthin.

Die zentrale Bedeutung von Sukkoth als Hauptfest des Jahwekultes bestätigt auch die Erzählung von der Weihe des jahwistischen Tempels durch Salomon (I. Könige 8:1 f.):

»Dann beorderte Salomon die Ältesten Israels, alle Stammesoberhäupter und Sippenobersten der Kinder Israels zu sich nach Jerusalem, um Lade des Bundes mit Jahwe heraufzubringen von der Stadt Davids, also Zion [zum höher gelegenen Moriaberg]. Es versammelte sich bei Salomon ganz Israel, bei Vollmond, im Fest, also im siebten Monat.«

Vollmond gibt es mitten im hebräischen Monat, also am 15. des Monats, und angegeben ist hier der siebte Monat. Die Tempelweihe findet also genau zu Sukkoth statt (vgl. auch v. 65 f.). Sukkoth bedeutet also das Haupt- und Tempelfest, das hier schlichtweg »das Fest« heißt, also als das Fest schlechthin bezeichnet wird (wie im frührabbinischen Sprachgebrauch auch). Eine ähnliche Stellung von Sukkoth im Jahwekult ist auch in Hesekiel 45:25a bezeugt: »Im siebten [Monat], am fünfzehnten des Monats, im Fest, soll sieben Tage lang Folgendes vollzogen werden […]«: Das Fest vom 15. des siebten Monats, also Sukkoth, figuriert also auch hier als »das Fest« schlechthin.

VI. Hauptfest des Nordreichs: Das mosaische Nationalnarrativ

Vor diesem Hintergrund fällt die Abwesenheit eines anderes Festes auf, dass eigentlich von zentraler Bedeutung sein müsste: Pessach. Dieses Fest, das im Gegensatz zum Opferfest Sukkoth eng mit einer mythologischen Geschichte zusammenhängt und sehr viel Narrativ aufweist, kommt sehr lange in so gut wie keiner nachmythologischen Erzählung vor.

Nach dem Pessach, das in Josua 5:10 begangen wird, ist es erst Josia, der im Zusammenhang mit der angeblichen Wiederentdeckung der »Bundesschrift« das Pessach feiert (II. Könige 23:21 ff.):

»Der König gebot dem ganzen Volk: ›Macht Jahwe, eurem Gott, ein Pessach, wie es in dieser Bundesschrift geschrieben steht!‹ Denn ein solches Pessach war nicht begangen worden seit der Zeit der Richter, die über Israel regiert hatten, und während der Zeiten aller Könige Israels und Judas. Erst im achtzehnten Jahr [der Herrschaft] des Königs Josia [mithin wohl 623 v. u. Z.] wurde Jahwe in Jerusalem dieses Pessach gemacht.«

Dass der Staatskult zu Josias Zeit überhaupt zentralisiert und verschriftlicht wurde (sowie nunmehr die Alleinigkeit für sich beanspruchte), hängt mit dem geopolitischen Erdbeben zusammen, das diesen Entwicklungen vorausgegangen war: Der Niedergang des einst mächtigeren Nordreiches (s. im Beitrag »Göttliche Geburtswehen«). Doch hier stellt sich eine schwierige Frage: Wenn das Fest weder im Nord- noch im Südreich gefeiert wurde, wo konnte es denn in die Schrift herkommen? Auf welche Tradition konnten die Verfasser der Schrift zurückgreifen?

Dass das Pessach im Südreich erst zu einem Zeitpunkt gefeiert wurde, als das Nordreich nicht mehr bestand, verrät uns möglicherweise, was sich hinter den Kulissen abgespielt haben dürfte: Es kann die Tradition nordisraelitischer Flüchtlinge und Priester gewesen sein, die bei der josianischen Reform aufgegriffen wurde. Denn lange Zeit galt es, diese Tradition der Neuankömmlinge in den südisraelitischen Staatsapparat zu integrieren, der nunmehr für das Narrativ ganz Israels verantwortlich geworden war.

Diese Möglichkeit legt auch die Tatsache nahe, dass das Pessach-Narrativ sehr deutlich vom Auszug aus Ägypten handelt, in dessen Mittelpunkt jener Moses steht, »der uns aus Ägypten herausgeführt hat« und durch Jerobeams Kälber dargestellt wird. Im Nordreich, wo es anscheinend keinen jahwistischen Tempel gab, in dem jenes reichliche Opferritual von Sukkoth hätte vollzogen werden können, wurde ein anderes Fest begangen. Das nordisraelitische Hauptfest darf also kein Tempel-, sondern ein Volksfest gewesen sein, in dem der Ursprungsmythos des Volkes, das sehr viel später als »nordisraelitisch« bezeichnet werden sollte, der nächsten Generation weitergegeben wurde (Ex. 13:8a): »Zu jener [Pessach-]Zeit sollst du deinem Sohn erzählen […]« (danach ist im Vers zwar von Jahwe die Rede, doch darf das in der Schrift überlieferte Anbetungsobjekt auf Änderungen bei der Verschriftlichung des nunmehr synthetischen Kultes zu Josias Zeit zurückgehen). Dies war also die Tradition, welche die nordisraelitischen Flüchtlinge und vor allem deren priesterliche Kultelite nach Jerusalem mitbrachten, wo sie offensichtlich zunächst auf Ablehnung stießen.

Spuren eines Machtkampfes zwischen zwei priesterlichen Kreisen lassen sich noch im biblischen Text finden. In der Geschichte vom Goldenen Kalb kommt Aaron eine zentrale Rolle zu. Die Verfasser wollten es anscheinend ganz deutlich machen, dass Aaron an jener Tat »schuld« war, die sie für verpönt halten (Ex. 32:35): »Jahwe schlug das Volk nieder, weil sie das Kalb hatten machen lassen, das Aaron angefertigt hatte.« Doch stammen nicht alle Priester von Aaron?

Offensichtlich nicht: Ab dem Zeitpunkt, wo David die Bundeslade nach Jerusalem bringen lässt, wissen die Bücher II. Samuel und I. Könige (wie auch I. und II. Chronik und vielleicht auch Esra und Nehemia) ziemlich oft von einem Priester namens Zadok zu erzählen sowie von dessen Kindern, die sich zwar auf deren Vater berufen, aber auf keine aaronitische Blutlinie. Auch Hesekiel kennt dieses zadokidische Geschlecht und hält von dessen Angehörigen nur Gutes:

»[…] Das sind die Söhne Zadoks, die einzigen unter den Söhnen Levis, die Jahwe nahen, um ihm zu dienen.« (40:46b), »[…] die levitischen Priestern aus dem Geschlecht Zadoks, die mir nahen – spricht Jahwe, mein Herr -, um mir zu dienen […]« (43:19a), »Aber die levitischen Priester, die Söhne Zadoks, die den Dienst in meinem Heiligtum bewahrt haben, als die Kinder Israels von mir abfielen, die sollen mir nahen, um mir zu dienen.« (44:15a), »[Das Heiligtum Jahwes soll gehören] den geweihten Priestern [oder: den Tempelpriestern] aus dem Geschlecht Zadoks, die meinen Dienst bewahrt haben und nicht abgefallen sind, als die Kinder Israels so abgefallen sind, wie die Leviten abgefallen sind.« (48:11)

Ganz abgesehen von den eher widersprüchlichen, weil bald positiven, bald negativen Bezugnahmen auf die Leviten, scheint hier eines klar zu sein: Die wohl historische Figur des Zadok und die eher mythologische Figur Aarons sind keineswegs miteinander zu vereinbaren. Von Zadok und seinem Geschlecht wissen wir, dass sie für den südisraelitischen Kult zuständig waren und in dieser Funktion wohl auch für die spätere Aufnahme der nordisraelitischen Traditionen in die neue Schrift. Von Aaron wissen wir, dass er in der Mythologie für den im Nordreich verbreiteten Kalbkult verantwortlich war und nunmehr in der Schrift sehr negativ dargestellt wird. Das lässt nunmehr darauf schließen, dass die Figur des Aaron genauso für das nordisraelitische Priestertum steht wie die des Zadok für den südisraelitischen.

Es dürfen mithin die aaronitischen Priester gewesen sein, die als Flüchtlinge den mosaischen Kalbkult mitsamt dem in der Figur Mosis verankerten Pessach ins zadokidische Südreich mitbrachten.

VII. Zurück zum Goldenen Kalb: Eine Synthese?

Möglicherweise liegt hier der Schlüssel zum Verständnis des rätselhaften Verhältnisses zwischen den beiden Konkurrenten in der Erzählung vom Goldenen Kalb: Moses und Jahwe. Die spezifische Form der überlieferten Erzählung kann nämlich als eine zurückprojizierte Abkehr vom nordisraelitischen Moseskult interpretiert werden, die während der herausfordernden Umstrukturierung des südisraelitischen bzw. der Entstehung eines gesamtisraelitischen Kultes stattfand.

Nun also, ein Jahrhundert nach dem großen Erdbeben, scheint die allmähliche Verschmelzung beider Kultformen erfolgreich abgeschlossen zu sein: Die Alleinigkeit Jahwes darf durch die integrative Aufnahme ehemals konkurrierender Traditionen ermöglicht worden sein. Im Gegenzug zum Verzicht auf die bildnerische Darstellung Mosis durch Kälber konnte die aaronitische Kultelite zumindest die Figur Mosis erretten, wenn auch in stark reduzierter Form eines Jahwe unterworfenen Vermittlers, der rein menschlicher Natur sein soll: »Moses, der Mann, der uns aus Ägypten herausgeführt hat«.

Die neue Hierarchie kommt etwa in der dementsprechend aktualisierten Auszugsgeschichte, an der Jahwe nunmehr weitgehend beteiligt ist, zum Vorschein (Ex. 14:31): »Dann glaubten/vertrauten sie [=das Volk] (an) Jahwe und (an) Moses, seinen/seinem Knecht«. Wie in diesem bedeutungsvollen Abschlussvers das Verbum »וַיַּאֲמִינוּ« genau übersetzt werden soll, ist uns jetzt bei weitem nicht so wichtig wie die Tatsache, dass hier sowohl Jahwe als auch Moses im selben Atemzug genannt werden. Dem einst nordisraelitischen Moses wird in dieser gesamtisraelitischen Synthese zwar die zweithöchste Stellung eingeräumt, gleichwohl muss jetzt ausdrücklich erläutert werden, dass er fortan nur noch der Knecht des ehemals südisraelitischen Jahwe ist.

Im Zuge dieser Reformen musste also auch die Erinnerung an den Kalbkult neu konstruiert, d.h. einerseits Jerobeam als Götzendienst unterstellt (vgl. I. Könige 12:30a: »Diese Sache aber wurde zur Sünde« sowie ebd. v.33a: »[…] den er aus seinem Herzen erdacht hatte« – beides muss ausdrücklich erklärt und erst dadurch abgelehnt werden), andererseits aber als eine falsche Form der Jahweverehrung immerhin plausibler bzw. verträglicher gemacht werden (vgl. der oben bereits besprochene Ausruf Aarons in Ex. 32:5b »[…] ein Fest für Jahwe ist morgen«). Jedoch scheint im biblischen Text, wie oben erklärt, zumindest der grundlegende Tatbestand der mosaischen Mythologie erhalten geblieben zu sein.

VIII. Das nachbiblische Narrativ: Moses in der Haggadah

In einem anderen Text sieht der grundlegende Tatbestand jedoch ganz anders aus: In der frührabbinischen Pessach-Haggadah, die im 1. oder 2. Jh. n. u. Z. entstanden ist, mithin ca. 7 bzw. 8 Jahrhunderte nach der Entstehung der biblischen Synthese. Die Grundstruktur der frührabbinischen Haggadah ist uns in der Mischna (Traktat Psachim, Kap. 10) überliefert; auf ihr basiert bis auf wenige Änderungen (v. a. die Vorverlegung des erzählerischen Teils) die spätere Haggadah, wie diese etwa bei Seadja Gaon vorhanden ist. Es ist anzunehmen, dass nicht nur die Struktur, sondern auch die den verschiedenen Überlieferungen gemeinsame Grunderzählung ebenfalls auf frührabbinische Zeiten zurückgeht.

Die haggadische Erzählung gibt den einst nord- und nunmehr gesamtisraelitischen Ursprungsmythos wieder. Obwohl sich der haggadische Text sonst eng an die biblische Grundlage hält, weicht er in einem Punkt doch sehr stark von dieser ab. Die Haggadah weiß nämlich eine Auszugsgeschichte zu erzählen, in der Moses nirgendwo vorkommt!

Die Figur des Erlösers, die selbst im synthetischen Bibeltext noch eine zentrale Rolle spielt und die Handlung trägt, ist im frührabbinischen Text schon gänzlich wegretuschiert. Da eine so vollkommene Verdrängung kein Zufall sein kann, handelt es sich um eine Art Tabu. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Worin darf diese Verdrängung Mosis aus dem Nationalmythos begründet gewesen sein? Warum ist Moses in der Haggadah tabuisiert?

Wie mir scheint, handelt es sich beim haggadischen Narrativ um eine Fortsetzung der spätbiblischen Tendenz zur Verringerung der Rolle Mosis im Ursprungsmythos, um diejenige Jahwes zu vergrößern. Über die Jahrhunderte hinweg wurde die Erinnerung an die Stellung Mosis in der nordisraelitischen Mythologie wohl immer weniger bequem. Die neuen Vorstellungen vom nunmehr entfesselten Jahwe (s. auch hierzu den besagten Beitrag »Göttliche Geburtswehen«) dürfen genauso zu dieser Entwicklung beigetragen haben wie die noch strengeren Vereinheitlichungsreformen infolge des Unterganges des Südreiches. Je mehr das neue Israel jahwifiziert wurde bzw. unter dem Zeichen Jahwes stand, umso unerträglicher wurde die Erinnerung an den einstigen Konkurrenten Jahwes.

Zu frührabbinischen Zeiten, als es das haggadische Narrativ festzulegen galt, wurde diese Entwicklung bis ins Extrem getrieben, d.h. bis zur Tabuisierung Mosis. Die vielleicht nur noch halbbewusste Erinnerung an die Herkunft Mosis muss immerhin präsent genug gewesen sein, um als unerträgliches Tabu empfunden zu werden und somit die offenbar absichtliche, weil ausnahmslose Verdrängung dieses zweit-, wenn nicht allerwichtigsten Protagonisten aus der Auszugsgeschichte zu erzwingen bzw. notwendig erscheinen zu lassen. Wir können nur vermuten, wie der Pentateuch bis in unsere Hände überliefert worden wäre und heute aussähe, wenn die frühen Rabbiner nicht nur den Auszugsmythos gänzlich jahwifiziert, sondern auch eine gründliche Revidierung des biblischen Textes gewagt hätten.

Dass zu jener Zeit eine andere Figur aus dem Volke Israel, nämlich Jeschua bzw. Jesus, von nicht wenigen im Zentral- und vor allem Ostmittelmeerraum als Erlöser angesehen und teilweise auch vergöttlicht (s. hierzu den Beitrag »Die Gottessohnschaft wieder besucht«) wurde, darf dazu beitragen haben, dass die Erinnerung an den Erlöser Moses, dem in nordisraelitischen Kultstätten einst gedient worden war, den Gründern des rabbinischen Judentums umso gefährlicher erschien.

IX. Fazit

Was für eine Funktion die Figur Mosis ursprünglich gehabt hat, werden wir wohl nie erfahren können, da uns aus diesen vorbiblischen Zeiten, ob durch Zufall oder Absicht, kaum Spuren überliefert worden sind.

Die frühesten Spuren, die erhalten geblieben sind, deuten jedoch auf einen Moseskult hin, in dem Moses mit dem Kalb bzw. dessen Hörnern identifiziert wurde. Zu biblischen Zeiten war der Moseskult (nur noch?) im Nordreich verbreitet, wo er mit dem Mythos vom Auszug aus Ägypten entweder allmählich in Verbindung gebracht wurde oder von vornherein zusammenhing.

Als zu Josias Zeiten eine Synthese nord- und südisraelitischer Traditionen stattfand, wurde Moses ein für allemal Jahwe unterstellt und der Moseskult nunmehr sehr negativ dargestellt. Allerdings muss die Erinnerung an den ursprünglichen Moses selbst zu frührabbinischen Zeiten noch präsent genug gewesen sein, um seine spurlose Verdrängung aus der Haggadah, dem Nationalmythos vom Auszug aus Ägypten, zu erzwingen, möglicherweise in Anbetracht der sowohl theologischen als auch politischen Bedrohung durch den sich damals Bahn brechenden Kult der Figur Jesu.

 
 
 

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Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

13 Kommentare

  1. War Moses ein vergotteter Mensch?

    Hallo Herr Sapir,

    ich bin aus Ihren Überlegungen zur Konkurrenz des mythologischen Moses mit dem Unsagbaren Jahwe nicht ganz schlau geworden. Halten Sie Moses für eine rein mythologische Figur? Oder gehen Sie von einem Menschen bzw. Volksführer aus, der in statt Jahwe vergottet wurde?

    Angeregt durch junge Theologen, die mir beibrachten, dass Moses nicht der Verfasser der nach ihm benannten Bücher sein kann, habe ich mich mit Moses auseinandergesetzt: u.A. Prof. Assmanns Deutung als Gedächnisspur Eschnatons, Prof. Otto, ebenso wie die Sichtweise der allegorischen Auslegung des AT bei Philo von Alexandrien. Auch die historische Kritik, die an einem historischen Auszug zweifelt und weitere im AT geschilderten Begebenheiten in Frage stellt, sind sicherlich bei der Beurteilung der Geschichtsgestalt Moses mit zu berücksichtigen.

    Und schließlich wird heute davon ausgegangen, dass das gesamte AT nur wenige Jahrhunderte vor Jesus verfasst wurde, eine Rückprojektion der sog. Exilszeit ist, in die ganz bewusst alte Mythen aufgenommen wurden, um die Geschichte fortzusetzen.

    Inzwischen gehe ich davon aus, dass Moses doch der Verfasser der nach ihm benannten biblischen Bücher war. Auch wenn ich dabei keinen schreibenden Menschen sehe, sondern vereinfacht ausgedrückt: die Schöpfungsvernunft/den
    Wort-Verstand bzw. den von Eschnaton ausgehende Monotheismus im Wandel.

    In diesem Sinne löst sich möglicherweise auch die Konkurrenz zu Jahwe auf. So wenig wie Jesus als lebendiges Wort die Konkurrenz zum Schöpfergott war (auch wenn es so gesehen wird, wenn er nicht als lebendiges Wort zu verstehen ist), scheint der ehemalige Verstand in menschlicher Personifikation (Moses) ein Ersatz für den Schöpfergott gewesen zu sein.

    Wie sehen Sie die Gestalt Moses: besonderer Mensch, Mythos oder Personifikation des jüdischen Monotheismus?

    Gerhard Mentzel

  2. Guter Artikel

    Hallo !

    Ich möchte nur kurz erwähnen, daß ich den Artikel gut finde. Es ist eine interessante Theorie. Zwar ziemlich gewagt, aber doch recht gut begründet. Einiges davon ist aber sehr interprätationsabhängig (zum Beispiel der Gedanke, daß die Verhüllung der Hörner in der Wirklichkeit in umgekehrter Ordnung geschah), was Schwachpunkte darstellt.
    Der Titel ist ein wenig zu reißerisch geraten, weil wenn ich den Artikel richtig verstehe, wird darin nicht behauptet, Moses sei tatsächlich ein vollwertiger Konkurrent Jahwes gewesen, er hatte nur schon fast soviel Respekt erfahren, wie Gott, aber aus (meiner Meinung nach) anderen Gründen.
    Ich denke, daß Moses wie ein Prophät und Nationalheld großes Ansehen genoß, was zum Teil Auswirkungen haben konnte, die einer Gottesverherung einigermaßen nahe kamen.

    Auf jeden Fall finde ich es sehr gut, wenn jemand mutige, neue Theorien aufstellt und nicht dogmatisch denkt. Deswegen möchte ich zum Artikel gratulieren. Weil selbst wenn diese Theorie nicht stimmen sollte (was ich für wahrscheinlich halte), ist es wertvoll und nützlich über denkbaren Alternativerklärungen oder über ergänzende Erklärungen zu wichtigen Ereignissen zu schreiben. Wenn man viele denkbare Alternativerklärungen findet, ist es wahrscheinlich, daß ein kleiner Teil davon die Wahrheit trifft und dann war das schon was Wert.

    viele Grüße,
    Janosch T.
    (Katholik, nicht religiös)

  3. @ theologie-der-vernunft

    1. Zweifelsohne bildet Moses von seiner narrativen Bedeutung her eine mythologische Figur. Allerdings ist “Mythos” nicht mit “Fabel” oder sonstwie Fingiertem gleichzusetzen. Denn die Problematik von Mythen als “Meistererzählungen” besteht nicht darin, dass sie jedwedes historischen Kerns entbehrt, im Gegenteil; sie verdanken ihre identitätsstiftende Macht eher der Tatsache, dass sie weit über das rein Historische hinausgehen und den historischen Kern zur Vermittlung einer bestimmten Botschaft verwenden bzw. manipulieren. So wurde etwa Karl Marx im Ostblock (von einem kritischen Blickpunkt aus) zu einer mythischen Figur. Im Hinblick aufs heutige Deutschland oder das heutige Israel kann man etwa sagen, dass “Auschwitz” als Sinnbild insofern eine mythische Funktion erfüllt, als mit diesem Sinnbild mehr vermittelt bzw. angedeutet wird als aus der reinen Chronik des Lagers hervorgeht.

    2. Ob es wirklich einen Auszug aus Ägypten gab, spielt für die obige Fragestellung im Endeffekt keine Rolle. Denn dieses Narrativ liegt der uns bekannten Bibel zugrunde. Das heißt: Im Gegensatz zu anderen, bestenfalls zweitrangigen Erzähltraditionen, die dem biblischen Erzählstoff bei dessen Entstehung hinzugekommen sein mögen, geht die Vorstellung von einem Auszug aus Ägypten dem biblischen Erzählstoff eindeutig voraus. Bei der Entstehung der verschiedenen Texte der Bibel konnte man nicht mehr darüber entscheiden, ob dieses Grund- bzw. Gründungsnarrativ berücksichtigt wird, sondern höchstens nur beeinflussen, wie es weitergegeben wird (was dazu gehören soll und was nicht). Zudem darf man nicht so leichtfertig davon ausgehen, dass gerade ein dermaßen zentrales Narrativ vollends fingiert ist und jeglichen historischen Kerns ermangelt, auch wenn der biblische Mythos wohl sehr weit von diesem Kern entfernt ist. Hierzu hat der israelische Bibelforscher Israel Knohl geschrieben, allerdings liegt sein Buch noch nicht übersetzt vor.

    3. Echnatons Kult war eine Art Naturreligion, in deren Mittelpunkt eine Naturgottheit stand, nämlich Aton, der Sonnengott. Diese Gottheit war nicht nur darstell- und abbildbar, sondern zeigte sich allen Menschen täglich in Form der Sonnenscheibe. Bei allem Respekt vor seiner kurzlebigen Reform des altägyptischen Kultes, die ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Jahwismus gewesen sein mag, ist diese Kultform an sich doch meilenweit entfernt von den israelitischen Vorstellungen von einer grundsätzlich unsichtbaren Gottheit, die kein Bild hat, nicht dargestellt werden darf und erst dadurch überhaupt “in der Lage” ist, sich (nur in Ausnahmefällen) zu offenbaren.

    4. Ich glaube nicht, dass, kritisch betrachtet, von “einem” Moses die Rede sein kann, denn aus meiner Sicht erfuhr diese Figur im Laufe der Religionsgeschichte Israels große Wandlungen, deren Spuren im biblischen Text bisweilen noch zu erkennen sind.

    5. Moses darf durchaus (auch) innerhalb des entstehenden Jahwismus eine Ersatzfuktion erfüllt haben bzw. als eine Art Sohnesgottheit angesehen worden sein. Dafür gibt es zumindest aus meiner Sicht tatsächlich einige Indizien, allerdings bedarf dieses Thema eines eigenen Beitrags. Vielleicht kommt das noch.

  4. @ Janos

    Danke für deine Worte.

    1. Ich behaupte, dass es möglich sein kann, dass Jahwe und Moses zu einem relativ sehr frühen Zeitpunkt noch nebeneinander (im Süd- bzw. Nordreich) existierten und dass Moses erst später, im Laufe der Zeit und im Zusammenhang mit geschichtlichen Entwicklungen, (wieder) als eine rein menschliche Figur erachtet und einem nunmehr universalisierten Jahwe unterworfen bzw. untergeordnet wurde. Ich versuche, die Indizien herauszuarbeiten und zu erklären, welche m. E. auf diese Möglichkeit hindeuten.

    2. Wie verstehst du das mit der Hülle? Welchen Sinn ergibt es aus deiner Sicht, wenn Moses immer dann die Hülle trägt, wenn er nichts mit dem Volk zu tun hat, dessen Angst vor dem Anblick Mosis den Grund für das Aufsetzen einer Hülle bildet?

  5. Moses: historisch Realität

    Danke für die Ausführungen,

    und selbstverständlich sehe auch in Moses (bzw. sich wandelnden Gotteswortverstand, Monotheismus) eine historische Realität, die hinter dem Mythos steht. Auch wenn es dann nicht um einen zum Mythos erhobenen vorchristlichen Karl Marx bzw. Menschen geht.

    Und wenn ich vom “wandelnden” Gotteswortverstand ausgehe, erklärt das nicht möglicherweise die vielfältigen Darstellungen der Geschichtsgestalt des Moses bzw. der Veränderungen beim Verständnis des Wortes, das nicht mehr von Eschnatons Sonnengestalt, sondern vom Unsagbaren ausging? Aber weiter einen realen, rationalen Grund in der Geschichte, wie in der Genesis hatte? (Damit in Wirklichkeit nicht in Konkurrenz zu Jahwe stand, sondern nur den Verstand des in Schöpfung- bzw. Geschichte gesprochenen Wortes verkörpert.)

    Gerhard Mentzel

  6. Antwort

    Hallo !

    Ich möchte auf diese Frage eine mögliche Erklärung anbieten :
    “2. Wie verstehst du das mit der Hülle? Welchen Sinn ergibt es aus deiner Sicht, wenn Moses immer dann die Hülle trägt, wenn er nichts mit dem Volk zu tun hat, dessen Angst vor dem Anblick Mosis den Grund für das Aufsetzen einer Hülle bildet?”

    Also erstens, da steht geschrieben, daß das – Gesichtshaut – von Moses hornig geworden ist.
    Wäre es nicht denkbar, daß damit eine krankhafte Hautveränderung gemeint ist ? Hornig im Sinne von “Hornhaut”, also erhärtete, vielleicht von der Sonne stark versengte Haut oder gar eine Hautkrankheit ? In diesem Falle wäre es so, daß das Volk nicht deswegen sich von Moses fernhält, weil Moses durch Hörnern übersinnlich erscheint, sondern ganz einfach deswegen, weil die Menschen sich vor einer Infektion fürchten. Wenn es tatsächlich Hörner sein sollten, dann warum wird immer von Gesichsthaut geschrieben und nicht einfach von Stirn ?

    Außerdem ganz am Anfang, als Moses vom Berg herunter kam, trug er die Hülle noch nicht, weil er nicht daran dachte, daß das nötig wäre. Als er denn seine erste Rede zu Ende gebracht hatte, hatte er womöglich ohne was Besonderes dabei zu denken, als einfache Geste die Hülle über sich gezogen (vielleicht um zu signalisieren, daß er nun mit seiner Rede fertig sei und hätte nichts mehr zu sagen) und als er dabei bemerkte, daß diese Verhüllung das Volk beruhigte, hatte er das bei zukünftigen Reden schon bewußt angewendet.
    Und vor Gott trug er die Hülle nicht, weil er vielleicht dachte, daß vor Gott er sowieso nichts verhüllen kann und Gott würde ihn so wie er ist akzeptieren.

    “Dieser Sachverhalt soll aber näher betrachtet werden: Wenn sich das Volk vor Mosis Aussehen fürchtet, warum kommt es auf Moses zu, ehe er die Hülle aufgesetzt hat?”
    – Weil das Volk sich zwar fürchtet, aber sich doch zum Näherkommen überreden läßt. Man tut manchmal auch solche Dinge, die Angst machen, wenn man glaubt, es sei durch die Vernunft geboten es zu tun oder einfach durch Neugier. Das Volk wollte sicherlich aus erster Hand erfahren, was mit Moses geschehen war und Neugier triumphiert über der Angst.

    “Und warum setzt er sich die Hülle erst auf, wenn das Volk eh keine Angst mehr zu haben scheint und sie auch deswegen überflüssig ist, weil er ja nichts mehr mit dem Volk zu tun hat?”
    – Wie bereits erwähnt, aus dem einfachen Grund, daß er nicht sofort die Idee hatte, die Hülle aufzusetzen. Menschen die eine ungewöhnliche, als unschön empfundene “Mal” haben verdecken dies oft, weil sie sich so wohler fühlen. Sie wollen nicht unangenehm auffallen, sie wollen die Mitmenschen nicht stören.

    Ja, was ich geschrieben habe ist nur Spekulation, aber das ist das, mir dazu einfällt.
    Ich möchte aber nochmal betonen, daß ich es nicht für unmöglich halte, das du mit deiner Vermutung Recht hast. Ich überlege nur, wie es sonst noch hätte sein können. Oft ist aber die Wahrheit die einfachste Erklärung, sogar genau so wie es beschrieben steht und je weiter man die Erklärungen verkompliziert, deste mehr entfernt man sich von der Wahrheit.

    mfg,
    Janos

  7. @ Janos

    Danke für die alternative Erklärung; dazu hätte ich gleich eine Folgefrage:

    Wie erklärst du also den weiteren, nunmehr regelmäßigen Gebrauch der Hülle (s. Ex. 34:34-35)?

    Läge es – aus der Perspektive deiner Interpretation – nicht näher, dass Moses von nun an die Hülle gleich nach der Kommunikation mit Jahwe und somit noch vor der Kommunikation mit dem Volk aufsetzen würde?

    Mit anderen Worten: Warum ist es – wie aus v.35 hervorgeht – so wichtig, dass das Volk jedes Mal die Hörner bzw. die hornige Gesichtshaut sieht, wenn Moses ihm die Anweisungen der Gottheit verkündet?

    Hier ist nochmals meine Übersetzung von v.35: “Da sahen die Kinder Israels das Gesicht Mosis, dass Mosis Gesichtshaut hornig war, und Moses legte die Hülle wieder über sein Gesicht, bis er wieder hineintrat, um mit ihm zu sprechen.”

    Auch wenn man deine Erklärung zum ersten Gebrauch der Hülle akzeptiert: Ergäbe es nicht mehr Sinn, in Bezug auf den weiteren, nunmehr regelmäßigen Gebrauch der Hülle die Sache so zu verstehen wie Gressman und dementsprechend zu sagen, dass das Volk gerade deswegen sieht, dass Mosis Gesichtshaut hornig ist, weil Moses die Hülle trägt?

  8. Klassische rabbinische Antworten?

    @Yoav:
    Ich frage mich, warum Du die klassischen rabbinischen Antworten auf die von Dir aufgeworfenen Fragen ignorierst bzw der Leserschaft vorenthälst. Mir erscheinen sie jedenfalls plausibler.

    Gut Schabbes

    YM

  9. @ Yankel Moishe

    …weil es hier um kein pseudointellektuelles Pingpong von Kuschijot und Teruzim geht, dessen Ziel in der Selbstbestätigung rabbinischer Vorstellungen besteht.

  10. Nur damit ich das richtig verstehe…

    … jemand, der Rabbiner werden möchte, bezeichnet hier die Schriften von z. B. Jehuda haLevi und Ramban als “pseudointellektuell”? Oder gar den ganzen rabbinischen Diskurs?

    Ich hätte einfach vermutet, es gehört zum guten wissenschaftlichen Stil, ältere wichtige Erklärungen zur diskutierten Fragestellung zumindest zu erwähnen.

    Aber wer weiß, vielleicht wird ja auch Dein Blog noch nach acht Jahrhunderten studiert.

    YM

  11. @ Yankel Moishe

    Yankel,

    nein, die rabbinische Literatur besteht nicht nur aus pseudointellektuellen Gedankengängen, jedoch wurde dort leider oft auch auf solche Methoden zurückgegriffen. Ein erheblicher Teil rabbinischer Diskussionen zielt einfach darauf ab, das Bestehende und sowieso als Gültig Erachtete zu untermauern. Das gilt insbesondere für Fälle wie den obigen, in denen keine halachische “Nebensache”, sondern das (auch) im Rabbinertum herrschende Paradigma *an sich* infrage gestellt wird – und es dieses durch Apologetik (also das, was du “klassische rabbinische Antworten” nennst) von vornherein zu bestätigen gilt.

    Schon im Pentateuch als überliefertem Gesamtwerk wird – zumindest auf der Oberfläche des Textes – ein Bild von Moses als Prophet alleine, d.h. als menschlicher Figur vermittelt. Ob dieses Bild ganz und gar dem entspricht, was bei der Entstehung Israels stattfand, oder das Geschehene zumindest teilweise “beschönigt”, ist eine Frage, auf die wir mangels einer “Zeitmaschine” wohl nie eine endgültige Antwort werden geben können. Sicher ist nur, dass für diese auf unsere nebligen Urzeiten bezogene Fragestellung keine weit entfernte Apologetik relevant ist; daher auch nicht die, welche Menschen wie Rihal und Ramban, um deine Beispiele zu verwenden, Jahrtausende später schrieben.

    Das traditionelle Bild von Moses als rein menschlicher Figur ist jedem meiner Leser bekannt, der in einer jüdischen, christlichen oder islamischen Umgebung aufgewachsen ist, was wohl auf all meine Leser zutrifft. Jedenfalls habe ich es hier vorausgesetzt. Die rabbinische Apologetik dieses Bildes wird im obigen Beitrag aus einem einfachen Grund nicht behandelt: Sie hat nichts mit diesem Beitrag zu tun. Denn der Beitrag befasst sich nicht mit dem traditionellen Bild von Moses, sondern mit der Plausibilität einer bestimmten Alternative zu diesem Bild; nicht mit rabbinischen Schriften des Mittelalters, sondern mit biblischen Hinweisen auf mögliche Entwicklungen bei der vor- und frühbiblischen Entstehung Israels.

  12. Die Hörner von Moses

    Hallo !

    Ich war lange von dieser Seite abwesend, aber gestern habe ich das Buch “Das verlorene Symbol” von Dan Brown zu Ende gelesen und darin wurde auch kurz Moses mit den Hörnern erwähnt – da fiel mir diese Website wieder ein.

    In dem Buch steht, daß die Hörner von Moses auf eine falsche Übersetzung zurückzuführen sind. Eigentlich sollte es ursprünglich heißen, daß das Gesicht von Moses strahlte (oder was Ähnliches).
    Jemand mit wirklich guten Hebräisch Kenntnissen könnte im Originaltext nachschauen.

    Dazu habe ich noch den eigenen Gedanken, daß wenn die Verfasser der biblischen Texte etwas Außergewöhnliches beschreiben mußten, dann hatten sie es sehr schwer, weil ihnen oft die nötigen Worte fehlten. Sie mußten auf das bekannte Vokabular zugreifen und damit was umschreiben. Deshalb sollten wir immer wenn wir etwas Unverständliches lesen zu erst darüber nachdenken, welche Übersetzungen es noch geben könnte und dann welche Interprätationen, Deutungen es noch geben könnte.

    mfg,
    J.T.

  13. @ Janos

    Hallo Janos,

    Dan Brown spricht damit die inzwischen weit verbreitete Umdeutung dieser Stelle an, die er anscheinend – ich hab das von dir erwähnte Buch nicht gelesen – fälschlicherweise für die chronologisch ursprüngliche Bedeutung hält.

    Diese Frage wird im 3. Teil des obigen Beitrages, dort insb. im 4. Abschnitt, berührt. Nun habe ich die Gelegenheit, näher darauf einzugehen.

    Im Hebräischen gibt es für “Strahl”, “strahlen” etc. keine eigene Wurzel. Stattdessen wird dafür – auch heute noch – das Wort “Horn” herangezogen. Wenn auf Hebräisch von Sonnenstrahlen die Rede ist, heißt es also wörtlich: “Die Hörner der Sonne”. Es hört sich allemal sehr poetisch an, weil wir hier mit einer sprachlichen Schichtung zu tun haben: “Strahlung” ist nämlich nicht der eigentliche bzw. unmittelbare, sondern erst der übertragene Sinn des Wortes “Horn”.

    Dass das im Hebräischen so ist, mag sehr wohl in der Bibelstelle begründet sein, mit der wir uns hier befassen. Im Nachstehenden möchte ich erklären, warum das mit sehr plausibel erscheint.

    Sprachforscher gehen ja davon aus, dass Bezeichnungen von einfachen, in der unmittelbaren Umwelt greifbaren Objekten (Blut, Sonne, Wasser) bzw. wahrnehmbaren Erfahrungen (Tod, Licht, Durst) in der Entwicklungsgeschichte menschlicher Kulturen und Sprachen grundsätzlich früher entstanden als Bezeichnungen für relativ komplizierte Sachverhalte (Mauer, Säen, Bewässerung).

    Mir erscheint es eindeutig, dass das Wort “Horn” zu den einfachen Wörtern zählt, die in der ur- oder vorhebräischen Entwicklungsgeschichte schon sehr früh entstanden. Schließlich waren der Mensch von Anfang an, geschweige denn die spätere Gruppe “Semiten”, von Tieren umgeben, die einem begegneten und die man bekämpfte und tötete. Die Bekämpfung von Tieren mit Hörnern galt zweifelsohne als eine besonders mutige Tat, und deswegen verwendete man die dem toten Tier entnommenen Hörner als Kraft- und Machtsymbole im sozialen und kultischen Sinne (die damals noch gar nicht voneinander zu trennen waren). Vor diesem Hintergrund ist auch ihre Verwendung durch “Urmoses” zu verstehen.

    Tatsächlich gab es auch innerjüdische Übersetzungen (wie etwa Aquilas Übersetzung ins Griechische), die diesen Sinn beibehielten. Übersetzungen sind überhaupt ein sehr spätes bzw. erst hochantikes Phänomen; bis dahin war die religionsgeschichtliche Entwicklung Israels bereits sehr fortgeschritten, sodass der (erst im Rückblick als ursprünglich zu bezeichnende) Sinn dieser Bibelstelle immer weniger bequem werden musste. Jedoch wurde die Bibelstelle doch noch so verstanden wie bislang, sodass diesem Sinn entsprechend übersetzt wurde. Wohl auch später wurde dieser Sinn im kollektiven Gedächtnis als der eigentliche erkannt, sodass man auf dieses Wissen noch zurückgreifen konnte, bevor diese Übersetzungsweise – mit Hörnern – im Laufe der Zeit zugunsten von “Strahlen” verdrängt wurde.

    Das Phänomen der “Strahlung”, etwa im Sinne von Sonnenstrahlen, zählt hingegen sicherlich zu den komplizierten bzw. feinen Sachverhalten, deren Beschreibung erst sehr viel später nottat. Ich würde behaupten, dass es sogar in der Frühantike noch kaum Bezeichnungen dafür gegeben hat, jedenfalls nicht im Althebräischen. Erst als das Phänomen – natürlich nicht in allen Kulturen zugleich – langsam wahrgenommen wurde und als etwas, was irgendwie doch von Bedeutung ist, ins Bewusstsein drang, konnte es linguistisch “Platz nehmen”.

    Im damaligen, hoch- oder vielleicht noch spätantiken Israel erlangte das Naturphänomen wohl deswegen Bedeutung, weil man langsam begann, mit Hinweis darauf die inzwischen schon ganz und gar unerträgliche Bibelstelle umzudeuten. Das Wort “Horn” und das davon abgeleitete Verb erfuhren somit eine Sinnerweiterung, d.h. die Wurzel wurde auf etwas Neues übertragen.

    Weil also die Hörner Mosis im Laufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung Israels zu einer theologisch-religiösen Schwierigkeit wurden, die es – dann allerdings ohne weitere Eingriffe in den Wortlaut selbst! – zu beseitigen galt, kam es dazu, dass zur Bezeichnung des Naturphänomens “Strahlen” im Hebräischen kein spezifisches Wort entstand bzw. von einem bestehenden abgeleitet wurde, sondern dass das hebräische “Horn” direkt, d.h. wie es in der Bibel steht, um diesen übertragenen Sinn bereichert werden musste, der notabene bis zum heutigen Tage in Gebrauch ist – z. B. indem man im heutigen Israel von radioaktiver “Hörnung” spricht und damit natürlich nichts anderes meint als die Strahlung.

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