Endzeitliche Intoleranz?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Der Leser Christopher hat mir hier (als Reaktion auf diesen Text) eine sehr interessante Frage gestellt. Ich hoffe, seine Fragestellung wie folgt zusammenfassen zu dürfen:

Birgt in sich der jüdische Diskurs, so sehr er auf Israel auch konzentriert ist, nicht doch eine "latente", weil bis auf die Endzeit hinausgeschobene Intoleranz, die sich in der biblischen (ebd. von mir erwähnten) Endzeitprophetie andeutet, wenn nicht gar bekundet?

Gemeint ist hier also eine globale Form der Intoleranz, die über die gewohnten Geltungsansprüche des Jahwismus in einem bestimmten Volk und dessen bestimmtem Land hinausgehen die ganze Welt zu umfassen scheinen. Ob das jüdische Gedankengut solche Züge aufweist? Darauf will ich im Nachstehenden eingehen.

I. Universalismus, Partikularismus und die nunmehrige Mischung von beidem im Judentum

Die eigentlichen Weltreligionen, nämlich das (Heiden-)Christentum und der Islam, beziehen ihr weltanschauliches Gedankengut auf den einzelnen Menschen ohne jegliche Differenzierung: Jeder Mensch kann und soll Christ oder Moslem werden. Das bedeutet, dass die Botschaft, d.h. die Erwartung bzw. die Pflicht, die aus dem jeweiligen Gedankengut hervorgeht, dem Menschen als solchem gilt. Das Pendant zur allein herrschenden Gottheit, d.h. das Objekt, mit dem diese religiösen Ideologien operieren, ist im Endeffekt bzw. idealerweise die ganze Menschheit. Das zu bekehrende Objekt ist mithin genauso uneingeschränkt wie die Gottheit selbst, in deren Namen bekehrt wird. Diese Religionen sind also (im wahren Sinne des Wortes) katholisch bzw. weltumfassend – und somit auch expansionistisch. Nur so konnte es ja überhaupt zum Phänomen der Weltreligionen kommen: Zunächst, auf dem hellenistischen Synkretismus und der hellenistischen "Weltöffentlichkeit" basierend, im Heidenchristentum – und später im Islam.
 
Demgegenüber gibt es in Israel eine grundsätzlich andere Struktur; ich nenne sie die auf den Kopf gestellte Pyramide: Die universalisierte Stammes- und Ortsgottheit Jahwe umfasst nunmehr "den ganzen Himmel", während ihr Geltungsbereich auf Erden eigentlich nach wie vor eingeschränkt bleibt wie in Jahwes Anfangszeit, als er noch nicht universalisiert wurde und es sich um eine (für damalige Verhältnisse) ganz normale Stammes- und Ortsgottheit handelte. Das heißt, dass der jüdische Jahwe-Kult – und somit auch seine Geltungsansprüche – sogar heutzutage sowohl sozial als auch geographisch deutlich beschränkt ist und sich mithin auf ein bestimmtes Volk bzw. (im Wesentlichen) auf dessen bestimmtes Land fokussiert.

II. Die Exklusivität als Grundprinzip

Im Gegensatz zum gezielten Universalismus der Weltreligionen beschränkt sich der jüdische Diskurs selbst – und differenziert von Anfang an ganz bewusst zwischen dem Volk Israel, dem die Ansprüche der israelischen Gottheit gelten, einerseits und den anderen Völkern andererseits; es ist eine für die Kultur Israels grundlegende Differenzierung, die etwa in der rabbinischen Liturgie immer wieder explizit betont wird (die jüdische Gottheit wird etwa dafür gelobt, dass sie Israel von allen anderen Völkern trennt).

Die jahwistischen Ansprüche – mitsamt dem Götzendienstverbot selbst, das ja erst im Rabbinertum quasi "erweitert" wird (es zählt zu jenen unter den Noachdischen Geboten, die sich nicht auf das Noach und seinen Söhnen Gesagte stützen) – gelten also keinem Individuum als solchem: Dem Juden gelten sie nur in seiner Eigenschaft als Teil Israels, auf den Nichtjuden treffen sie als Volksfremden grundsätzlich nicht zu (vgl. Rut 1:16: "Dein Volk ist mein Volk" – und erst demzufolge – "dein Gott ist mein Gott").

Daraus resultiert, dass der jüdische Diskurs sich von Anfang an durch die Vorstellung von einer exklusiven, unauflösbaren Beziehung zwischen Israel und seiner Gottheit kennzeichnet. Diese Grundannahme stellt eine identitätsstiftende Schranke bzw. Grenze dar, die genauso wichtig ist wie die Vorstellung vom einzigen Gott. Die Überschreitung dieser Grenze durch Paulus hat etwa zur Entstehung eines Heidenchristentums geführt.

III. Die Endzeitprophetie: Unbedingt eine Herausforderung der Exklusivität?
 
Nun stellt sich die Frage, wie wir die israelische Endzeitprophetie, etwa das von Christopher herangezogene Motiv der Völkerwallfahrt, lesen bzw. verstehen: Stehen diese Visionen noch im Einklang mit der Exklusivitätskonvention? Oder wird diese Konvention etwa durch das Völkerwallfahrtsmotiv überschritten?

Christopher und ich sind, wenn ich mich nicht irre, beide der Meinung, dass es nicht darum geht, dass die anderen Völker keine "Völker" mehr wären, sondern in Israel aufgehen würden. Das spricht zunächst dafür, dass das vorerwähnte Motiv die Exklusivität bzw. die Grunddifferenzierung zwischen Israel und den anderen Völkern nicht in Zweifel zieht. Bei der Völkerwallfahrt würden die anderen Völker zwar einen Bezug zu Jahwe entwickeln, aber offensichtlich nach wie vor als Außenseiter, die die eheliche Beziehung, die Hosea (s. hier) vorschwebt, nicht berühren.
 
Was dieser "lockere" Bezug der Außenseiter zur israelischen Gottheit zu bedeuten vermag, ist eine Nebenfrage, mit der wir uns hier m. E. nicht zu befassen brauchen. Denn jetzt kommt es, was Christophers Frage bzgl. universaler Geltungsansprüche angeht, nur noch auf eines an: Ist dieser endzeitliche Bezug der Völker zu Jahwe als Pflicht zu verstehen, wie es im Christentum und dem Islam der Fall ist? Mit anderen Worten: Sollten sich die Menschen gemäß diesem Motiv zu Jahwe bekennen, wie sie im Christentum bzw. dem Islam Christen bzw. Moslems werden sollen? Oder dürften sie es einfach?

IV. Die endzeitliche Völkerwallfahrt: Ein Zugeständnis an die Völker?

An dieser Stelle ist m. E. darauf hinzuweisen, dass die jüdische Endzeitprophetie, sofern sie Fremde ins Auge fasst, sich – dem jüdischen Diskurs entsprechend – eigentlich nicht auf Individuen bezieht, sondern auf Völker (daher etwa der Begriff der "Völkerwallfahrt"). Es scheint also sowieso nicht darum zu gehen, dass jeder einzelne Mensch nach Jerusalem pilgern würde. Da diese Visionen in der Antike entstanden, sollen wir uns wohl Delegationen vorstellen, die vor Jahwe in Jerusalem die jeweiligen Völker vertreten (wie damals gewohnt aus den Reihen der Eliten). Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die südisraelitischen Delegationen in die Stadt Aššur, wo der Gott Aššur wohnhaft war, zu dem die Assyrier notabene eine exklusive Beziehung führten, sodass Aššur bei der Genese Jahwes eine Vorbildfunktion erfüllt haben mag.
 
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir unwahrscheinlich, dass die jüdischen Endzeitvorstellungen vom einen, partikularistischen Extrem sofort ins andere, d.h. gleich zu einer katholischen, weil weltumfassenden Pflicht eines jahwistischen Glaubensbekenntnisses übersprängen; viel wahrscheinlicher scheint mir eine allmähliche Entwicklung, die an die damalige Wirklichkeit anknüpft und in der die Schranken nicht jäh abgebaut, sondern etwas aufgelockert werden: Den fremden Völkern, die aus israelitischer Sicht bislang gar nicht an Jahwe und seinem Kult teilhaben durften, wäre es demnach zur Endzeit erlaubt, durch ausgewählte Gesandte vor Jahwe, dem König, zu erscheinen und ihm damit sozusagen Tribut zu zollen, wie es mit damaligen Herrschern ja gang und gäbe war.

Ob das einer "Annullierung" fremder Kultformen gleichkäme, weiß ich als Nichtprophet natürlich nicht, aber m. E. besteht kein Zwang, die jüdische Endzeitprophetie dahin gehend zu interpretieren, im Gegenteil. Selbst das relativ späte bzw. rabbinische Phänomen der messianischen Endzeitvorstellungen, die mit der Endzeitprophetie nicht so viel zu tun haben und in der Bibel eigentlich nicht zu finden sind, enthalten nicht unbedingt eine weltumfassende Bekehrung. Bei Maimonides etwa bleiben die anderen Völker zur Endzeit doch so, wie sie schon vor der Endzeit waren, nur schließen sie dann alle Frieden mit dem gesalbten König Israels und folgen ihm bei Bedarf (wohl gleichsam Vasallen), sodass ihre Glaubenssysteme dadurch kaum berührt werden müssen.

In diesem Sinne des friedlichen Nebeneinanders, in dem jedes Volk vom Jahwismus inspiriert werden kann und zu Jahwe finden darf, aber seine Eigenart zugleich bewahrt, heißt es in Micha 4:1-5 (meine Hervorhebung):

In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über die Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken; denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet. Ein jedes Volk wird im Namen seines Gottes wandeln, aber wir werden im Namen des HERRN wandeln, unseres Gottes, immer und ewiglich!

V. Fazit

Meine Antwort auf Christophers Frage lautet daher, dass aus dem jüdischen Diskurs m. E. nicht hervorgeht, dass es schließlich auf eine "Annullierung" fremder Gottesvorstellungen hinauslaufen müsste. Es gibt freilich auch andere Ansichten, aber meinem Verständnis nach bleibt der Geltungsanspruch der jüdischen Gottheit auch in der Endzeitprophetie so stark auf Israel fokussiert, dass andere Völker eigentlich kaum davon betroffen werden müssen. Damit bleibt, sofern man verallgemeinern kann, der "pyramidale" Charakter des jüdischen Diskurses bestehen: Schwerwiegende Ansprüche nach innen bei weitgehender Gleichgültigkeit nach außen.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

4 Kommentare

  1. Lieber Yoav – zunächst danke für deine ausführliche Antwort. Ich gebe im Folgenden also, wenn es dir, wie ich vermute, recht ist, (weiterhin) den advocatus diaboli (c;

    Ich erlaube mir zunächst deine Analysen zu Christentum und Islam hier weitgehend unkommentiert zu lassen, damit wir uns nicht auf Nebenschauplätze verirren – nur eine Sache: Das Christentum hat interessanterweise den offenkundigen Anspruch schon jetzt, auf seine spezifische Weise, Anteil an diesem „jüdischen Diskurs“ zu haben; interessant ist dazu z.B. die Verarbeitung von Hosea (bes. Hos 2,25) im Römerbrief 9,24ff. (was solche Ansprüche für das jüdisch-christliche Verhältnis bedeuten können/müssten, lasse ich an dieser Stelle mal ausgeblendet).

    Um damit gleich auf den Punkt zu kommen, der mir in unserer Sache der entscheidende scheint: Tatsächlich ziehe ich „die Grunddifferenzierung zwischen Israel und den anderen Völkern“ , von dir mit dem schönen prophetischen Bild der „Ehe“ umschrieben, nicht in Zweifel. Damit ist aber über die Stellung der „Heidenvölker“ zum Gott Israels in eschatologischem Horizont natürlich keineswegs negativ entschieden – diese bleibt allererst, gerade im Lichte dieser unbestrittenen Sonderstellung Israels, zu bestimmen. Und hier scheint mir, mit Verlaub, die Rede vom “‘lockere(n)‘ Bezug der Außenseiter zur israelischen Gottheit“ doch wesentlich zu schwach – denn, um prophetisch zu reden: „Er [nämlich der Gott Israels] zeige uns [nämlich: „vielen Nationen“ bzw. „allen Völkern“] seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen“ (Jes 2,3); ich würde das, kurz gesagt, geradezu als umfassende Unterstellung „heidnischen“ Lebens unter den göttlichen Willen, seine „Wege“ lesen. Und wie immer wir uns das im Detail vorstellen wollen, es ist m.E. eine den prae-eschatologischen Zustand entscheidend überbietende Hinwendung zum Gott Israels, der eben als „Herr“ und „Wegweiser“ angenommen wird – und zwar, nochmals, natürlich unbeschadet der „Ehe“ mit Israel (was ja gerade darin zum Ausdruck kommt, dass die Völker explizit zum „Gott Jakobs“ (ebd.) ziehen).

    Die von dir sodann hervorgehobene Micha-Stelle berührt natürlich eine exegetische Spezialfrage – zumindest auffällig ist aber m.E. a. dass die Parallele in Jes 2 den von dir akzentuierten Vers 5 (zumindest mit der Pointierung, um die es dir zu gehen scheint) gerade nicht kennt; und b. dass immerhin fraglich ist, ob Mi 4,5 tatsächlich die eschatologische Wirklichkeit meint oder nicht doch eher auf die Zeit des Propheten gemünzt ist. Sollte Ersteres der Fall sein, ergibt sich mMn ein Widerspruch zu der (von uns beiden) bereits zitierten Stelle Mi 4,2/Jes 2,3, wo die Völker sich in eschatologischem Horizont explizit den „Wegen“ des Gottes Israels unterstellen. Zu lösen wäre dieser Widerspruch, wenn wir verstehen: JETZT gehen die Völker auf ihren Wegen (Israel dagegen den Weg JHWHs), EINST werden die Völker (in einer wie immer näher zu bestimmenden Weise) auf die Wege des Gottes Israels einschwenken. Ich sehe in dieser Stelle also eher meine Position gestützt als deine…(c; (Bin aber kein Exegese-Spezialist, man müsste also wohl noch ein bisschen Literatur wälzen, um hier klarer zu sehen.)

    Ich möchte aber, auch unabhängig vom exegetischen Detailbefund, doch nochmals darauf hinweisen, worin ich den Vorteil des von mir angedachten „eschatologischen“ Modells sehe. Es ist wesentlich ein zweifacher: Einerseits ermöglicht es uns, im Hier und Jetzt als „good neighbours“ (wie du schreibst) zu leben, sofern die besagten „universalen“ Ansprüche nicht aktuell durchgesetzt werden müssen – es entbindet also, kraft eschatologischer Zuversicht, von allem (sit venia verbo) „Missionierungsdruck“ (wie ihn Christentum und Islam ja verspürt haben/verspüren).
    Andererseits sichert es dennoch die Möglichkeit, religiöse Aussagen universalen Charakters zu formulieren und damit den Binnen-„Diskurs“ zu transzendieren. Hierbei geht es aber mE keineswegs um („‚latente‘“) „Intoleranz“, nicht um die Artikulierung einer eschatologischen Bekehrungs-„Pflicht“ o.Ä. – hier scheint mir deine Terminologie doch eine Differenz in unser beider Grundverständnis dieser eschatologischen Aussagen anzuzeigen; ich würde nämlich formulieren: Es geht um eschatologische Hoffnungs(!)-Aussagen, nicht um eschatologisch verlängerte „Intoleranz“ – darauf, dass auch die „Völker“ den von mir als universalen Schöpfer und „Herrn der Welt“ bekannten Gott als solchen anerkennen werden, seine „Wege“ zu ihren „Wegen“ machen; oder, wie du sagst: „zu Jahwe finden“ werden (über die „technischen“ Details dieses Findens müssen wir uns an dieser Stelle (noch) keine Gedanken machen). In diesem Sinne möchte ich die besagten „universalen“ Ansprüche, die über das recht indifferente Nebeneinander unterschiedlicher religiöser Diskurse mit ihren jeweiligen Binnen-Ansprüchen hinausgeht, verstanden wissen.
    Im ersten Punkt nun treffen sich, wenn ich recht sehe, unsere beiden Analysen, nicht aber im letzten.

    Besten Gruß aus Eisenstadt
    Christopher

  2. Hi Christopher,

    “Spezialist” kann in solchen Fragen nur sein, wer direkt mit Micha & Co. sprechen kann…

    Als Erstes möchte ich darauf hinweisen, dass Luthers Übersetzung von Mi. 1:5 möglicherweise irreführend ist. Im Original steht nämlich der ganze Passus im selben Tempus, also in der Zukunftsform, wie es sich einer bewusst endzeitlichen Prophezeiung gebührt. Auch ist “Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet” kein eigenständiger Satz. Vermutlich hatte hier Luther eine ähnliche Schwierigkeit wie du, interpretierte folglich das Ende dahin gehend, dass es inhaltlich nicht mehr zur Prophezeiung gehören würde, und änderte daraufhin dementsprechend das Tempus. Jetzt habe ich also die obige Übersetzung korrigiert – zumindest in sprachlicher Hinsicht.

    Nun soll ich vielleicht etwas näher erklären, warum mir die sog. “Lockerheit” des heidnischen Bezugs zur israelitischen Gottheit hier so wichtig erscheint: In der Antike, also bis zum hellenistischen Synkretismus, waren Orts- und Stammesgottheiten durchaus der Status naturalis. Der praktizierte Kult war also ein wesentlicher Bestandteil der Gruppenidentität, daher Rut 1:16. Die biblische Eifersucht gegen den israelitischen “Götzendienst” und gegen Mischehen hat, modern gesprochen, keinen (rein) theologischen, sondern einen soziologischen Hintergrund, denn Mischehen und der “Götzendienst” – beides hängt eng miteinander zusammen – würden auf Dauer die Auflösung des Volkes bedeuten (vermutlich entstand die biblische Haltung auch erst aus einer solchen Erfahrung).

    Wenn wir nun “seine (von den Heiden ggf. zu beschreitende) Wege” im kultischen Sinne interpretieren, bedeutet das, altertümlich gedacht, den Abbau des wichtigsten Merkmals, das damals zwischen Israel von den anderen Völkern trennte.

    Wie gesagt, sind hier viele Ansichten möglich, doch sehe ich hier keine Notwendigkeit, diese Vision (ob hier oder bei Jesaja) auf eine Weise zu interpretieren, die im damaligen Zusammenhang dem oben dargelegten Prinzip der Grunddifferenzierung widersprochen hätte.

    Schließlich haben solche “Weisungen” göttlichen Ursprungs einen breiten “Tonumfang” (man denke etwa ans antike Phänomen der Orakel). Die “Wege” können also viel anderes sein als Kultisches. Man kann es sich vielleicht so vorstellen wie es heutzutage mit dem US-Präsidenten ist: Jeder Staat hat seine eigene Regierung und dennoch werden alle mehr oder minder von einem “Herrn” in einem “Haus” (dem Weißen Haus nämlich) dirigiert, der ja “unter großen Völkern richtet und viele zurechtweist in fernen Landen”, was ich als Israeli bestätigen kann. Also beschreiten wir großteils die Wege des US-amerikanischen Herrn und hüten die Pax Americana, damit zumindest unter uns, also zwischen Deutschland und Frankreich oder etwa zwischen Frankreich und Israel, “kein Volk wider das andere das Schwert erheben” wird. Und bei alledem bleiben wir dennoch mit unserer jeweils eigenen Regierung, die auf dem globalen Spielbrett, dem weltpolitischen Pantheon, zwar dem Weißen Haus untergeordnet ist – aber nichtsdestoweniger bestehen bleibt.

    Dieser Vergleich hört sich vielleicht irre an, aber in der Antike waren Kult und Politik ja nicht voneinander zu trennen. Und tatsächlich kommt im obigen Zitat aus Micha der endzeitliche Bezug der Völker zum “Herrn” nicht in Kultfragen zum Ausdruck, sondern in einem Bereich, den wir heutzutage unter “Politik” einordnen würden:

    “Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.”

    Darum bin ich der Meinung, dass es sich hier wirklich um einen relativ lockeren Bezug handelt, zumal die Völker ja ihre jeweilige Eigenart bewahren und auch weiterhin als Völker bestehen bleiben, was aus altertümlicher Sicht die Bewahrung des eigenen Kultes und der eigenen Gottesvorstellungen voraussetzt, sodass v.5 hier völlig am Platze ist.

    Uns “Monotheisten” ist es natürlich unvorstellbar, dass man einerseits, etwa in inneren Angelegenheiten, “im Namen seines Gottes wandelt”, aber andererseits, was den Weltfrieden angeht, sich nach den Wegen des Gottes Jakobs und seinem Worte aus Jerusalem richtet. Aber in der Antike war es oft doch so, dass man sich einer “Weltmacht” und somit notwendigerweise auch ihrem Schutzgott unterwerfen musste, aber ansonsten nach wie vor seine herkömmliche Kultform betrieb (eine wichtige Ausnahme waren die Assyrer, die aufgrund des engen Zusammenhanges von Kult und Volkszugehörigkeit nicht wollten, dass andere Völker Assur angebetet hätten). In polytheistischen Gesellschaften, die ohnehin keine “jahwistische” Eifersucht kannten, war es kein großes Problem, noch einen oder einige Götter obendrauf zu setzen, je nachdem, welcher fremde Herrscher gerade an der Macht war. Oft wurden die fremden Götter mit den eigenen identifiziert, und zwar zu Recht, denn bei diesen Göttern ging es oft um die gleichen Vorstellungen (von einem Sturm- oder etwa einem Kriegsgott) unter verschiedenen Namen. Zu bedenken ist hier auch, dass Micha zu einer Zeit tätig war, als Jahwe noch eine ganz normale Orts- und Stammesgottheit war, deren Universalisierung sich durchs prophetische Denken erst anzudeuten begann. Andere Gottheiten – wie etwa Assur – lebten bei den umgebenden Völkern also noch ganz konkret und mächtig.

    Ohne anderen Sichten wie der deinigen “auf den Fuß treten” zu wollen, sehe ich also keinen Zwang, diese hebräischen Prophezeiungen als eine Art globales Glaubensbekenntnisses zu interpretieren. Vielmehr scheint es mir darum zu gehen, dass die bislang verschlossenen Pforten etwas aufgemacht werden, um den Fremden – die auch weiterhin Fremde bleiben – immerhin die Möglichkeit zu geben, einen lockeren Bezug zum “Gott Jakobs” zu entwickeln, ihn in ihrem “Pantheon” obendrauf zu setzen und sich, wenn auch nicht im wirklich kultischen bzw. monotheistischen, sondern etwa im international-politischen Sinne, nach seinen Wegen und Weisungen zu richten, d.h. sich “Jakob” mehr oder weniger unterzuordnen (also etwa so, wie es Maimonides vorschwebte).

    Aber wer kann schon wissen, wovon die Propheten sprachen, solange man nicht mit ihnen sprechen kann…

    Beste Grüße aus Haifa!
    Yoav

    PS.
    Deinen hoffnungsorientierten Ansatz kann ich, wenn ich hier ehrlich sein darf, nicht wirklich nachvollziehen… Findest du nicht, dass es dem wichtigsten Charakteristikum der Prophetie widerspricht? Damit meine ich die dem Wesen der Prophetie immanenten Gewissheit, dass das, was Jahwe verkündet, auch geschehen wird. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass ein Prophet Jahwes Worte als göttliche Hoffnung bzw. eine bloß “mögliche” Entwicklung gemeint hätte. Das mag vielleicht bei anderen, menschlicheren Göttern so gewesen sein, aber bei Jahwe musste, dünkt mich, jedes Wort als “sicher” gelten.

  3. Uh, Haifa versus Eisenstadt – da keimt bei mir fast Neid auf…(c;

    Aber zur Sache – ich versuche abzukürzen: mir ist deine Auslegung – Micha hin, Jesaja her –, wie du schon ahnen wirst, jedenfalls eine allzu enge, ja geradezu minimalistische Interpretation des eschatologischen Gedankens bzw. des biblischen „Universalismus“. Ist auch weiter nicht problematisch, du räumst ja ein, dass deine Interpretation eben eine neben anderen ist, die sich innerhalb des „jüdischen Diskurses“ finden – was es mir wiederum erspart, lang und breit Autoritäten herbeizuzitieren (der von mir andernorts angesprochene H. Cohen wäre sicher eine davon), die ich eher meiner Position zurechnen würde…

    Ich möchte diesbezüglich nur eine Sache noch ansprechen, in der ich mich gröber missverstanden sehe: Das ist die obige Rede von „Hoffnung“ – einen Begriff, den ich explizit als Gegenbegriff zu deiner Rede von „Intoleranz“, Bekehrungs-„Pflicht“ usw. eingeführt habe und der auch in genau diesem Zusammenhang, nämlich quasi als Akt des terminologischen Widerstands (c;, zu verstehen ist. Unnötig zu sagen, dass „Hoffnung“ hier kein vages „Vielleicht“ meint, sondern tatsächlich die religiös bekannte Zuversicht, „dass das, was Jahwe verkündet, auch geschehen wird“ – aber eben im Sinne eines eschatologischen, noch ausstehenden, die andersartige Realität im Hier und Jetzt überbietenden Geschehens. (Das Deutsche kennt ja tatsächlich das schöne altertümliche Wort „Hoffnungsgewissheit“, um ein solches Phänomen zu beschreiben, also in unserem Falle kontrafaktische, aber religiös als zukünftig gewiss bekannte Aussagen.)

    Kehren wir aber zum Ausgangspunkt dieser kleinen Kontroverse zurück (wir können natürlich über Eschatologisches gerne bei anderer Gelegenheit weiter sprechen) : Wir waren davon ausgegangen, dass nach deiner Analyse religiöse Diskurse, in denen je spezifische Gottesvorstellungen ausgehandelt werden, unverbunden nebeneinander existieren, wobei der „jüdische Diskurs“ keine Ausnahme mache – (mit deinen Worten) „[ü]ber andere Völker und deren Gottheiten besagt die Beziehung zwischen Israel und seiner Gottheit (…) nichts“ – „Jedes Volk und sein Diskurs, jedes Volk und sein Kult, jedes Volk und seine Gottheit(en)“.
    Zugleich hast du zuletzt, so „minimalistisch“ deine Auslegung des Eschatologischen auch ausfällt, doch zugestanden, dass im prophetischen Denken immerhin gemeint sei, dass die Völker einen „lockeren Bezug zum ‚Gott Jakobs‘ (…) entwickeln, ihn in ihrem ‚Pantheon‘ obendrauf (…) setzen und sich (…) nach seinen Wegen und Weisungen (…) richten“ werden – ein Umstand, der, wie du selbst im „PS.“ ausführst, nicht als vages „Vielleicht“ zu denken ist, sondern, zumindest prophetisch, als „Gewissheit“ zu stehen kommt. Nochmals: Der Prophet ist „gewiss“ (so scheinst du zuzugestehen), dass die Völker auf den (meinetwegen und unter Vorbehalt nur „politischen“) „Wegen“ des Gottes Israels wandeln werden und dass sie den Gott Israels als (Haupt-)Gott akzeptieren werden. Und gleichwohl willst du darauf bestehen, dass der „jüdische Diskurs“, in dem dieser Gott doch seinen Ort hat, keine universale Relevanz impliziert, sondern ein bloßer Binnendiskurs wie andere auch ist (und bleibt)? Wo wir doch, prophetisch, „gewiss“ sind, dass dieser bzw. seine Gottesvorstellung genau eine weitreichendere Bedeutung (bei anderen Völkern nämlich) erlangen wird (und sei es nur, wie du sagst, in dem Sinne, dass er als „Hauptgott“ inkulturiert wird)?
    Ehrlich gesagt, wie du diese beiden Pole: prophetische „Gewissheit“ einer universalen (oder zumindest „internationalen“) Bedeutsamkeit und bloßes Nebeneinander von Diskursen, die je bloß Binnenansprüche stellen, zusammenbringen willst, ist mir (wenn du die Sache nicht nach der einen oder anderen Seite hin aufweichen willst, was natürlich möglich ist) weiterhin eher unklar, nein, nach deinen letzten Ausführungen, unklarer denn je…

  4. Hi Christopher,

    ich habe nicht von einem “bloßen” Nebeneinander gesprochen, sondern davon, dass man die Fremden “bei allen guten Kontakten und aller gegenseitigen Befruchtung” bei ihrer Fremdheit lassen soll, sofern sie diese beibehalten wollen, d.h. dass es zu keinen expansionistischen Ansprüchen gegenüber anderen Gruppen kommen soll, die man nun mal nicht zu sich selbst bzw. zum jüdischen Diskurs rechnet – und das in Wirklichkeit auch nicht zu tun gedenkt. Das ist freilich nur ein Postulat, das aus meinen Reflexionen resultiert, die sich wiederum auf meine Wahrnehmung einer jahrtausendelangen Tradition stützen, die ich hier subsumierend den jüdischen Diskurs nenne.

    Ich glaube also, dass es im Endeffekt darauf ankommt, wie man hier den Diskursbegriff versteht. Mein Anliegen ist jedenfalls, diesen Begriff selbst zu relativieren bzw. eine dieser Tradition (aus meiner Perspektive) immanente Selbstbeschränkung darzulegen. Denn m. E. ist es kein Zufall, dass das jüdische Denken sich trotz aller universalistisch anmutenden Prophezeiungen kaum mit dem Schicksal anderer Völker befasst hat, sondern nach wie vor ganz narzisstisch auf sich selbst fokussiert bleibt.

    An die religionsgeschichtlich erstaunlichen Orakel über die antiken Völker, die etwa Jesaja I. artikuliert, hat sich nämlich nichts angeknüpft; Jahwe wurde zwar immer mehr als für die ganze Schöpfung zuständig angesehen, doch die Objekte da drin, d.h. die Völker, mit denen dieser jahwistische Kompetenzbereich befüllt ist, wurden/werden nicht als interessant genug empfunden, sondern blieben Instrumente zur Veranschaulichung dieses Kompetenzbereiches: Nicht ihr (etwa in Jesaja I. zugeschriebenes) Schicksal ist wichtig, sondern das Postulat allein, dass die jüdische Gottheit solche Schicksale bestimmt.

    Eine solche Relativierung des – sagen wir mal: theologischen – Diskurses ist im Christentum und dem Islam als vom Wesen her universalistisch-expansionistische, auf die ganze Menschheit eingerichtete Religionen unmöglich; für die jüdische Tradition hingegen, weil auf ein Volk (und dazu auch noch erheblich auf ein Land) fokussiert, ist das evidente Desinteresse an den anderen geradezu kennzeichnend. Zwar gibt es seit kurzem politische Strömungen, die meinen, Israel müsste als auserwähltes Volk seine Verantwortung für die anderen Völker wahrnehmen, Maßstäbe setzen und z. B. nicht an den Olympischen Spielen in einem menschenrechtsverletzenden Land wie China teilnehmen (apropos die “Wegen des Gottes Israels”); doch selbst für diese Randgruppierungen bleiben die anderen Völker *an sich* völlig uninteressant – wie auch ihre Kultformen; es geht nach wie vor um Israel und darum, was Israel tun bzw. unterlassen sollte.

    Dafür, dass Diskurse miteinander verwandt sein und dennoch eigenständig nebeneinander fortbestehen können, gibt es heutzutage, also noch vor der Endzeit, ein Beispiel: Das Heidenchristentum legt sich ja v. a. jüdische Schriften zugrunde und bezieht sich (eigentlich scheinbar) auf ein und dieselbe Gottheit wie die jüdische. Jedoch bleiben die beiden Diskurse, auch wenn sie sich im Laufe der Geschichte gegenseitig relativ stark beeinflusst haben, zwei unterschiedliche Diskurse, die auf grundsätzlich anderen Gottesvorstellungen basieren. Zum einen bleiben selbst jene Christen, die, um ein Stückchen Prophetie zu erfüllen, jährlich zum (eben erfolgten) Laubhüttenfest nach Jerusalem pilgern, als Subjekte eindeutig außerhalb des jüdischen Diskurses; zum anderen werden im jüdischen Diskurse zumindest m. W. keine Ansprüche artikuliert, die das Heidenchristentum betreffen und die Christen etwa als “sich zu Jahwe Bekennende” in den jüdischen Diskurs zu integrieren suchen.

    Das sog. Heidenchristentum beruft sich zwar auf die jüdische Gottheit, aber wie es diese Gottheit versteht bzw. was für einen Bezug es zu ihr hat, bleibt aus jüdischer Sicht völlig den Christen überlassen. Ansätze à la “wenn schon, dann solltet ihr aber…” gibt es im jüdischen Denken eigentlich nicht. Auch heutzutage ist die allgemeine Einstellung ungefähr so: “Ihr wollt zum Laubhüttenfest nach Jerusalem pilgern? Nun gut, das steht euch laut der Schriften eigentlich zu, aber für uns seid und bleibt ihr trotzdem Fremde, und eure Gottesvorstellungen gehen uns nichts an.”

    Darum ist es in meinen Augen kein Widerspruch in sich, dass jüdische Endzeitvorstellungen (von der Endzeit selbst reden wir ja nicht) einerseits eine weltweite Berühmtheit Jahwes schildern, zu dem aus aller Herren Länder gepilgert wird, und andererseits die fremden Völker auch weiterhin bei ihren Traditionen und somit eben eigenständige Völker bleiben lassen.

    Ohnehin scheint mir, dass wir eigentlich dasselbe meinen und es nur anders formulieren bzw. darin Anderes betonen.

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