Chanukka und jüdische Identitäten

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Nächste Woche, am Montag bzw. Sonntagabend, beginnt das achttägige Chanukka-Fest. Wie kein anderes Fest (mal abgesehen davon, dass Chanukka kein biblisches Tempelfest und daher nach rabbinischem Verständnis kein "richtiges" Fest ist) wirft Chanukka Fragen nach jüdischem Geschichtsbewusstsein und der damit zusammenhängenden Erinnerungsarbeit auf.

Hinter den Kulissen findet man einen vornehmlich innerjüdischen Krieg, in dem die von Gott unterstützten Extremisten gegen die von den Seleukiden unterstützten Assimilierten gekämpft und Letzere besiegt haben. Kurz danach haben sich die siegenden Hasmonäer selbst – aus realpolitischen Gründen – gewissermaßen in die weitgehend griechisch geprägte Umwelt assimiliert. Schließlich wurden die blutig erkämpften Errungenschaften 101 Jahre später (63 v. u. Z.) an die Römer verloren. Weiteres dazu steht im Internet wohl reichlich zur Verfügung, also erlaube ich mir gleich auf den Punkt zu kommen: Was macht man heutzutage mit diesem Erbe? Was soll eigentlich gefeiert werden? Welches Geschichtsbewusstsein soll gepflegt werden?

Im frührabbinischen Judentum wurde der Schwerpunkt verlegt: vom militärischen Sieg und der damit verbundenen Wiedereinweihung des Tempels (daher "Chanukka" – Einweihung) auf ein wohl zurückprojiziertes Ölwunder, das kaum eine (und aus wissenschaftlicher Perspektive: wohl keine) der alten Quellen kennt. Diese Form der Erinnerungsarbeit setzte sich jedoch durch und bildet die Grundlage des uns bekannten Festes.

Im Zionismus ist das Fest, wie es sich in einer nationalen Bewegung gebührt, neu bewertet worden: Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bedrohungen – nationale und kulturelle Assimilation einerseits, religiös-traditionelle Passivität andererseits – sind die Bekämpfung der Assimilation sowie die physisch-militärische Kühnheit als solche hervorgehoben worden, während die Wundergeschichte – als Quintessenz des Religiösen – beiseite geschoben worden ist.

Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen des Rabbiners S. J. L. Rapoport um eine Synthese, eine orthodoxe Neubewertung des Chanukka-Festes und dessen Geschichte im Sinne eines bewusst gläubigen Nationalismus. Allerdings bildete sein Ansatz seinerzeit eher eine Ausnahme, die kaum rezipiert wurde (nebenbei bemerkt: auch heute steht er noch – vollkommen unberechtigterweise – am Rande des wissenschaftlichen Augenmerks).

Interessanterweise hat es die Geschichte so gewollt, dass die Tempelfrage im heutigen Israel wieder eine zenrale Rolle spielt, und zwar nicht mehr als Sinnbild der traditionellen, anti-nationalen Passivität, sondern gerade im Einklang mit dem neuen jüdischen Nationalismus. Dieser Zustand, der jetzt zum ersten Mal "seit 2000 Jahren" langsam wieder einkehrt, scheint den Geist dieses Festes eigentlich am treffendsten widerzuspiegeln: Die Verfolgung geistiger, d.h. religiöser und kultureller Ziele durch irdische, d.h. physische und politische Mittel.

Dies stellt jedoch eine große Herausforderung für Juden dar, die weder im militärischen Nationalismus noch im kulturell-religiösen Extremismus der Makkabäer ein festlich zu gedenkendes Vorbild erblicken wollen. Doch allzu leicht lässt sich dieses Fest nicht umdeuten.

Leider wird die Bedeutung dieses Festes an den meisten Orten vertuscht und die Fragen, die es aufwirft, i. d. R. gänzlich vermieden. Es wäre aber schön, wenn jüdische Gemeinden sich zu Chanukka nicht nur mit Latkes (dt. Kartoffelpuffer) und Sufganijot (dt. Berliner Pfannkuchen), sondern auch mit Geschichtsbewusstsein und Erinnerungspolitik befassen würden.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

12 Kommentare

  1. Nicht Recycling, sondern…

    eine allmähliche Auslese dessen, was im Rückblick würdig genug erscheint, um in diesen ernsthafteren Blog aufgenommen zu werden.

    Es freut mich aber, dass du meinen vorjährigen Beitrag nicht vergessen und andere Leser damit auf unsere damalige Diskussion hingewiesen hast (ich hoffe aber, dass man nur noch hier seine Kommentare hinterlässt).

    Warum “Extremisten”? Weil Matitjahus Bereitwilligkeit, im Namen Gottes jenen assimilierten Juden zu töten, zumindest aus meiner Perspektive der Gegenwart Extremismus gleichkommt. Und ein Fest wird m. E. immer in der Gegenwart begangen, über die dahinter steckende Vergangenheit folglich immer aus der Perspektive der Gegenwart reflektiert.

  2. Treppenwitz

    Ich meinte gar nicht unbedingt, dass Du Deinen Artikel wiederbenutzt. Es ging auch um den Verweis auf die bereits begonnene Diskussion.

    Aus meinem Erleben sind die meistzitierten Sforim bzgl Chanukkah
    1. Ner Mitzwah” (vom Maharal und
    2. Pachad Yitzchok (Hutner)

    Es ist ja eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Assimilationisten von heute Chunukkah, wo der wundersame Sieg über die Assimilationisten von damals gefeiert wird, als eine Art jüdisches Weihnachten begehen.

  3. Na, dazu würde ich sagen…

    …dass die Bedeutung eines Festes eigentlich immer primär aus der Religionsgemeinschaft heraus selbst zu deuten ist. So kann ich z.B. beisteuern, dass gerade in Deutschland das (zunehmend öffentliche) Entzünden der Chanukkalichter auch als Symbol für das staunenswerte Überdauern und Neuerblühen jüdischen Lebens in Europa gedeutet wird, aber nicht beurteilen, ob das eine legitime oder zukunftsweisende Deutung ist…

    Naja, aber eines kann ich – gerne – tun: Ein schönes Fest wünschen! Chanukka sameach! 🙂

  4. Marketing

    Das auch das orthodoxe Lager modernen Dingen wie offensivem Marketing nicht abgeneigt ist, sieht man wohl an der von MB erwaehnten Chabad-Kampagne mit dem Entzuenden ueberdimensionaler Chanukkah-Leuchter auf oeffentlichen Plaetzen. Diese ist insofern pikant, als die halachische Verpflichtung zum Lichterzuenden aus gutem Grund auf dem juedischen Haushalt ruht, so dass die erwaehnte oeffentliche Zeremonie, insbesondere wenn dabei der zugehoerige Segen gesprochen wird, etwas fragwuerdig ist.

    Bzgl Deutung von “Chanukkah”: Gerade in der Gegenwart duerfte es angebracht sein, auf den im Hebraeischen gemeinsamen etymologischen Ursprung der Worte “Chanukkah”(Einweihung) und “Chinuch” (Erziehung) hinzuweisen.

    Fuehrt man beides zusammen, ergibt sich das Offensichtliche: Juedische Erziehung sollte vom juedischem Heim ausgehen.

    YM

  5. Apropos “jüdisches Weihnachten”

    Religionswissenschaftlich betrachtet, scheinen beide Feste doch eine ähnliche Funktion zu erfüllen: ein warmes Fest mitten im Winter, dazu auch noch mit dem gemeinsamen Schwerpunkt “Licht” (ob durch die Chanukkijah oder durch Jesus), ganz zu schweigen von der Erlösungsthematik, die – bei allem Respekt vor Pessach und Ostern – auch hier dahinter steckt. Und die Vorstellungen von “Geburt” und “Einweihung” weisen ebenfalls eine gewisse Ähnlichkeit zueinander auf. Oder?

    PS. Yankel, wer bist du eigentlich, wenn ich fragen darf, und von wo schreibst du? Ich bin neugierig und es würde mich freuen, wenn du etwas über dich erzählen könntest.

  6. @ Yoav

    Ist es im Winter in Israel auch kalt? Wahrscheinlich von Region zu Region verschieden, oder?

    Wo Du gerade beim Aufzählen der Ähnlichkeiten bist. Was repräsentiert der Tempel im alten Israel denn? Als Salomon ihn das erste Mal einweihte und Bundeslade dort ihren Platz fand, zog die Herrlichkeit des Herrn ein. Gottes Wohnung unter den Menschen. Für mich repräsentiert das die Gegenwart Gottes auf Erden bzw. genauer bei seinem auserwähltem Volk.
    Mit der Geburt Jesus ist ja auch dieser Gedanke verknüpft. Vom christlichen Standpunkt aus war Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott, Gott wurde Mensch. Also auch hier die Gegenwart Gottes unter den Menschen, aber diesmal ganz nah, weil er selbst Mensch wurde. Das Licht bricht durch die Dunkelheit.

  7. @ Martin

    Ja, auch in Israel ist es im Winter kalt… In der Regel zwar nicht so kalt wie mancherorts in Deutschland, aber doch kalt. Und es ist ja auch alles relativ.

    Vom Tempel sagt die Schrift (Ex. 25:8): “Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne.” Also: Ja, es geht um die (ggf. Selbst-)Vergegenwärtigung Gottes. Dieser Ansatz ist im Christentum durch die Vorstellung von Menschwerdung weiterentwickelt worden (ob in der “richtigen” Richtung, ist eine andere Frage, die am besten diejenigen beantworten, die viel von der “richtigen” Richtung zu wissen glauben).

  8. @Martin:
    Einfach nach israel weather googeln.

    Unsere Weisen weisen darauf hin, dass sich betocham in Ex 25:8 nicht nur als “in ihrer Mitte”, sondern auch als “in ihnen” lesen laesst. Jedenfalls heisst es im Vers nicht “in ihm” (dem Tempel).

    Nach juedischer Sicht hat sich G-tt in der Torah offenbart. Wir muessen selber was tun, um Ihm nahe zu kommen, naemlich nach den Geboten und Verboten darin leben. No free lunches. Und nach dem Ende der Prophetie ist das “Gesetz” nicht “abgeschafft”, schon gar nicht “stellvertretend erfuellt”. Nach rabbinischer Sicht muessen wir in der Zeit der Dunkelheit und Stille auf eigene Faust mit Hilfe der Ueberlieferung von Generation zu Generation unter Leitung der Bestgebildeten unter uns durch die Geschichte navigieren.

  9. @ YM

    Die Schwierigkeit mit der Lesart “in ihnen” im sublimierten Sinne von “innerhalb eines jeden” ist, dass sie nicht erklärt, wozu es in dem Fall überhaupt des physischen Tempels bedarf. Ist er wirklich nur ein Zugeständnis an die Bedürfnisse des Menschen?

    Ich habe mal von Uri Cherki gehört (das ist kein Zitat, sondern eine Wiedergabe des Geistes seiner Worte, wie ich diesen verstanden und noch in Erinnerung habe), dass der physische Tempel eine Voraussetzung für den inneren Tempel, denjenigen im Herzen, sei. Ohne die Konkretisierung der Heiligkeit im Land, der Stadt und dem Tempel sei keine Einheit des Volkes möglich und daher auch keine richtige Heiligkeit “in ihrer Mitte”, geschweige denn in jedem einzelnen.

    Demnach reiche das Gesetz allein vielleicht doch noch nicht, um “durch die Geschichte zu navigieren”. Höchstens, um die Geschichte zu überleben. Es bedürfe nämlich auch der ganz physischen Rückkehr in die Geschichte, ins Land und die Stadt sowie der ganz konkreten Gegenwart Gottes in seinem Tempel, damit ein beliebiger Jude in der Lage sei, im Tempel seines Herzens Gott zu vergegenwärtigen.

    Will sagen: Obwohl andere es anders gesehen und erklärt haben, sei der physische Tempel laut Cherki “lechatchila” nötig und von Gott gewollt und kein “bediawad”-isches Zugeständnis an die Schwäche des Menschen.

    …nicht, dass man aus deinen Worten das Gegenteil hiervon verstehen könnte; sondern nur als Ergänzung.

  10. Ich wuerde Uri Cherky teilweise zustimmen.
    Ich hatte ja hier selbst geschrieben, dass es zwei juedische Identitaeten gibt, des Seins und des Tuns. Das sieht man unter anderem an den Stufen des Gijur-Prozesses, erst Brith, dann Kabbalath-Mitzwoth. Oder: Erst wurden wir am Fusse des Berges zu einem Volk (Ex 19:2, Raschi), dann erfolgte die Offenbarung/Gesetzgebung.

    Bzgl des Verhaeltnisses von Nation zu Torah sollte man vielleicht noch den Klassiker von Saadia Gaon in Emunoth weDeoth (3:7) erwaehnen, wo er sagt, wir seien eine Nation nur durch die Torah.

    Die beiden Lesarten fuer 25:8 widersprechen sich nicht. Ohnehin laesst sich die Torah bekanntlich auf mehreren Ebenen lesen. Verschiedene Kommentare, unter anderem der von mir geschaetzte SR Hirsch, erlauetern ausgiebig, wie Details des Heiligtums spirituelle Konzepte symbolisieren. Der physische Tempel also als Modell fuer den “inneren Tempel”.

    Du beruehrst da die kontroverse Diskussion um die Rolle der Rueckkehr nach Zion…

    YM

  11. @ Yoav: “Jüdische Weihnachten”

    Lieber Yoav,

    Du schriebst:

    “Religionswissenschaftlich betrachtet, scheinen beide Feste doch eine ähnliche Funktion zu erfüllen: ein warmes Fest mitten im Winter, dazu auch noch mit dem gemeinsamen Schwerpunkt “Licht” (ob durch die Chanukkijah oder durch Jesus), ganz zu schweigen von der Erlösungsthematik, die – bei allem Respekt vor Pessach und Ostern – auch hier dahinter steckt.”

    Dem kann ich nur zustimmen – wir haben z.B. das interessante Phänomen, dass sich das Weihnachtsfest mit den Lichtern derzeit in muslimische, japanische, chinesische usw. Kontexte ausbreitet, vor allem auf der Nordhalbkugel. Das deutet schon darauf hin, dass es ein menschliches Bedürfnis nach solchen Lichtfesten gibt, in denen Kälte und Wärme, Isolation und Gemeinschaft, Tod und Leben, Hochmut und Liebe etc. kontrastiert werden.

    Früher wurde da gerne polemisiert a la: Zuerst waren die heidnischen Lichterfeste (Saturnalien, Sol Invictus, Julfest etc.), dann kamen Weihnachten und Chanukka, alles Kopien. Inzwischen wird das gelassener gesehen: Festtraditionen haben sich immer gegenseitig beeinflusst und tun das heute noch. Feste sind lebendige Bestandteile religiöser Überlieferung, sie wandeln sich stetig – oder sterben, wenn sie das nicht mehr tun.

    Umso wichtiger finde ich es, den Religionsgemeinschaften aber auch zuzugestehen, immer wieder selbst zu definieren, was ihre Feste bedeuten. Als Religionswissenschaftler kann man beobachten, aber nicht normativ entscheiden, was sie “eigentlich” bedeuten. Da bin ich dann einfach gerne Zuhörer oder Gast – und freue mich mit.

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