Buchempfehlung: »Narzisstischer Universalismus«
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Ein beim Berliner Merve-Verlag neuerschienenes Werk beleuchtet den psychologischen Hintergrund des Erfinders des Christentums: »Narzisstischer Universalismus: Eine psychoanalytische Untersuchung der Paulusbriefe mit Freud und Lacan«
Wer dieses Blog verfolgt, kann wohl schon vermuten, warum nicht nur, aber gerade dieses Buch hier empfohlen wird. Doch auch abgesehen von meiner Mitwirkung finde ich das Buch ganz interessant. Es ist die erste Studie des israelischen Denkers Itzhak (Isaak) Benyamini, die auf Deutsch erscheint, und mich freut es persönlich sehr, dass der renommierte Philosophieverlag »Merve« sich dessen angenommen hat. Von klein auf fühlte sich Benyamini vom Christentum angezogen. So hat er sich später, nunmehr in der Position des kritischen Forschers, eben diesem Thema gewidmet. Ich zitiere aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe:
Zwei aus dem iranischen Isfahan emigrierten Eltern wurde in Israel ein Kind geboren. Zwangsweise wurde es in eine orientalische Identität hineingeworfen, deren europäischer Anhauch es nicht losließ: Als der Junge zufällig im Sand ein Kreuz zeichnete, sagte ihm seine Mutter, es sei verboten; sie fügte noch hinzu, dass sie auch in Persien große Angst gehabt hatten, dass die Deutschen jederzeit kommen könnten; und so schoben die Traktoren am Holocaustgedenktag im Fernsehen vor seinem erschütterten Blick massenweise hautdünne, fleischlose Leichen fort.
Jahre später schob dieses Kind in mir einen theoretischen Wagen an, um auf Altgriechisch einen altertümlichen, von der Frage des Gesetzes und des Vaters verfolgten, jüdischen Autor zu studieren, hin zu einer fremden, aber innerlich vertrauten Religion. Es zog sich ein großer, langer Kreis, der dazu diente, mir die Frage der israelischen und jüdischen Identität noch klarer zu machen. Und nun schließt sich für mich dieser existenzielle Kreis, wenn mein Buch über Paulus auf Deutsch erscheint und somit eine Rückkehr in eine Sprache vollzieht, die auch die deutsch-jüdische Renaissance erlebt hat.
Nun wusste aber der erwachsene Denker, dass das Christentum mit dem historischen Jesus und der historische Jesus mit dem Christentum nicht viel zu tun hatte, und dass es vor allem um das Bild Jesu im Christentum geht, welches wiederum weitestgehend auf Paulus zurückgeht. So hat sich Benyamini einer tiefgründigen Lektüre der Paulusbriefe gewidmet. Anders als frühere Autoren liest er Paulus in Begleitung zweier weiterer Denker, nämlich Sigmund Freud und Jacques Lacan, deren Einsichten in die menschliche Seele ihm helfen, Paulus besser denn je, und vielleicht auch erst recht, zu verstehen.
Benyamini skizziert, soweit dies nach fast zwei Jahrtausenden noch möglich ist, die Psyche des aus dem Saul gewordenen Paulus mit ihren Rissen und Konflikten, Hoffnung und Verzweiflung. Er bietet uns eine tiefenpsychologische Analyse dieser für die Geschichte des Abendlandes äußerst wichtigen Figur, die zwar unaufhörlich von »Jesus« redet, denselben aber im Rückblick in ihrem Schatten stehen lässt. Bei der Lektüre lernt der Leser gleichsam ein Therapeut den sich selbst quälenden, hin- und hergerissenen Protagonisten des Buches und der Weltgeschichte kennen, taucht in die Tiefen seiner Seele, wie diese sich in seinen uns überlieferten Schriften andeutet, ja wie diese das Christentum und somit eine ganze Zivilisation nachhaltig prägte.
Ist es ein Zufall, das dieses große Vorhaben von einem Juden vollzogen wurde? Schließlich ist der Autor keineswegs in einer christlichen Umgebung aufgewachsen. Was berechtigt ihn überhaupt, den Erfinder des Christentums einer Analyse zu unterziehen? Und ist es ein weiterer Zufall, dass dieser jüdische Autor sich auf den wichtigsten Denker der letzten Jahrhundertwende stützt, der ebenfalls Jude war? Und dass ihm dabei auch ein anderer, zwar kein jüdischer, aber durchaus jüdisch inspirierter Theoretiker zur Seite steht wie Lacan? Schließlich war ja auch Paulus kein Christ im eigenlichen, heidenchristlichen Sinne des Wortes.
Nur scheinbar handelt es sich um einen interreligiösen Dialog. Tatsächlich ist es ein binnen-jüdisches Gespräch, eine sich über zwei Jahrtausende hinausstreckende Reise ins Herzen des Judentums, in die Konflikte und Spannungen, aus denen nun mal das Christentum, die zumindest zahlenmäßig bedeutungsvollste Komponente des heutigen Abendlandes, entsprungen ist.
Abschließen möchte ich mit einem weiteren Zitat:
In bestimmter Hinsicht könnte meine vorliegende Studie mit dem Begriff der politischen Theologie im Einklang stehen, jedoch nicht so, wie dieser im derzeitigen Diskurs verstanden wird. Für mich handelt es sich bei der Lektüre der Paulusbriefe, auch bei deren psychoanalytischer Lektüre, nicht darum, den Briefen eine politische Ethik abzugewinnen, sondern darum, das Politische selbst zu erforschen, will sagen: Es geht um das Politische an sich und nicht darum, so zu tun, als wäre es durch eine externe politische Motivation getrieben wie etwa durch den Widerstand gegen Rom. Nur aus diesem Ansatz heraus wollte ich auch die etwaigen politischen Auswirkungen des theologischen Textes untersuchen. Mit anderen Worten: Mein Ziel war es nicht, irgendetwas ›Paulinisches‹ ohne das ›Christliche‹ herauszuarbeiten, sondern die religiöse Macht des Kreuzes für Paulus zu verstehen. In diesem Sinne ist die ›Gemeinschaft der Söhne‹, der Begriff also, den ich in diesem Buch erarbeitet habe, ein durch den psychoanalytischen Diskurs gestalteter theologischer Begriff, der die sozialen und politischen Auswirkungen jenes Christentums andeutet, das Paulus mit starken Geburtswehen zur Welt brachte.
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Interessant in diesem Zusammenhang auch:
Alain Badiou, Paulus – die Begründung des Universalismus. Diaphanes, 2009.
Freud. Hmm, wie hat der denn so geleistet?
MFG
Dr. W (dem durchaus bekannt ist, dass der Impact von Freud und Marx am einschlägigsten war)
Ist das Denken Links, Jüdisch, Christlich oder immer Ethnozentrisch?
Vielleicht kommt man mit einer Sicht auf die Welt welche sich nur jüdischer Quellen und Autoren bedient ganz gut durch die Welt – durch die Alte und die Neue. Selbst um das Christentum zu verstehen hilft wohl die jüdische Sicht. Ob sie genügt ist eine andere Frage. Könnte man die heutige Welt auch nur aus der Sicht christlicher Denker, Künstler, Autoren und Forscher verstehen? Das versuchen wohl nur wenige. Wer würde in der folgenden Liste der Künstler und Publizisten des frühen 20. Jahrhunderts Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka, Egon Schiele, Gustav Klimt, Paul Cassirer, Herwarth Walden, Karl Kraus schon eine Einteilung in jüdische und nicht jüdische vornehmen und wer überhaupt könnte aus dem Stegreif so etwas tun?
Narzistischer Universalismus
Zitat NZZ vom 24.12.2013:
Als ich das gelesen habe, dachte ich an den narzistischen Universalismus. Der Narzismus bezieht sich aber nicht auf eine Person, sondern auf eine Gemeinschaft. Gibt es diesen Narzismus nur im Christentum oder auch im Judentum? Oder unterscheidet nur der Universalismus Christentum von Judentum?
Das Ziel / die Aufgabe des Lebens / unseres vernunftbegabten Zusammenlebens ist einfach: “Wie im Himmel all so auf Erden” – Wo Mensch aber an “Individualbewußtsein” glaubt, kann es wohl keine gemeinschaftliche Wahrheit / keine wirklich-wahrhaftige Religion und somit kein geistig-heilendes Selbst- und Massenbewußtsein geben, sondern immer nur den unwahrheitlichen Narzismus im nun “freiheitlichen” Wettbewerb um …!? 😉
Klingt lesenswert.
Aber warum soll Freud der “wichtigste Denker der letzten Jahrhundertwende” sein? Gibt es inzwischen einen Grund, daß man Freud irgendwie ernst nehmen sollte?