Auf dem Bahnsteig

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Vor vier Jahren, eines Nachts in der Adventszeit, wartete ich verzweifelt auf eine Berliner U-Bahn, die nicht kommen wollte. Was ich mir dabei aufschrieb, dem stimme ich großteils (also nicht hundertprozentig) auch heute noch zu: eine Fortsetzung der winterlichen Reihe »Jugendliche Schreibversuche«.

Das Leben fließt. Es springt nicht.

Wenig ist viel. Und wer alles anstrebt, bleibt mit nichts. Denn zahlreich sind die Dinge, die sich am besten nur als Sehnsüchte genießen lassen.

Letzten Endes muss man doch mit sich selbst zufrieden sein.

Das Streben nach Ordnung ist eine Selbsttäuschung. Denn das Leben lässt sich nicht organisieren oder regulieren. Ganz im Gegenteil: Es rebelliert und wehrt sich fast grundsätzlich gegen den Versuch, es zu kategorisieren oder irgendwelchen Richtlinien zu unterwerfen.

Zumindest a bissl von fast allem, je nachdem, was der unbewusste Entwicklungsvorgang benötigt, wo er das Bewusstsein hinführt. Und dabei nicht vergessen, dem Bauchgefühl zuzuhören.

Alles, was man zu ernst nimmt, ist schädlich. Innere Ruhe, innerer Friede heißt, die eigene Seelenenergie zu schützen, sie nicht allzu schnell zu verbrauchen.

Der Wahnsinn kann den Menschen zwar viel Zeit kosten, aber wenn dieser sich über ihn freut, muss er ihn nicht mit Ärger zurückweisen, sondern er kann ihn dann aus Versöhnung mit sich selbst ausleben, was nicht zuletzt auch die dafür benötigte Zeit verkürzt.

Das Problem ist nicht das Geld, sondern die Sorge darum. Denn es ist die Sorge, die die Lebensqualität am meisten beeinträchtigt.

Ein wesentlicher Zug des Lebens ist eine andauernde, immer stärker herausfordernde Prüfung, wie man sich nicht ärgert, sondern die vermeintlichen Fehler mit Liebe zur Vielfältigkeit menschlichen Seins annimmt.

Das Leben ist im Grunde genommen irrational. Es kann höchstens von kurzen rationalen Ausbrüchen die Rede sein, und jeder Versuch, es trotzdem zu rationalisieren, d.h. rational zu erklären und zu beurteilen, muss früher oder später scheitern.

Die Ratio kann höchstens ein Mittel sein, aber nie der Sinn und Zweck des Lebens. Viele Probleme entstehen daraus, dass die Ratio zu oft angewendet und manchmal sogar als Kriterium bei der Beurteilung des Menschen und menschlichen Lebens gebraucht wird.

Wenn es starke Menschen gibt, dann sind es eher die selig Dummen.

Der Rechner, die Waschmaschine, die Karriere, die Menschen; beim Gehen, beim Essen, beim Fahren: Das Leben ist das Unzuverlässigste, dessen Zufälle keine Erklärung zulassen.

Der Mensch ist hauptsächlich nichts, schöpferisches Nichts. Nur am Rande seines Wesens kommen verhältnismäßig (also scheinbar) feste Inhalte vor, die ihm als Bezugspunkte dienen sollen, aber nie als Identifikationsmittel über ihn herrschen dürfen.

Wie seine Zeit, Kraft und Aufmerksamkeitsvermögen, genauso ist auch die Denkfähigkeit des Menschen begrenzt. Und deswegen muss man schließlich doch verallgemeinern, subsumieren, zusammenfassen und vereinfachen.

Man darf auch kurze Zeitungsbeiträge lesen und kann daraus viel lernen. Man darf kürzere Bücher lieber mögen, man muss sie auch nicht unbedingt durchlesen.

Viele Sorgen entstammen teilweise mangelhaftem Selbstbewusstsein.

Echtes Wissen kann nicht für die Zukunft gesammelt, sondern nur im jetzigen Augenblick erlebt werden.

Die allererste Ursache menschlichen Handelns ist immer Willkür, der allerletzte Zweck das Vergnügen.

Der eigentliche, wahrste, reinste Kern des Lebens ist das, was dir passiert und durch deinen Kopf fließt, wenn du auf dem Bahnsteig wartest und machtlos ins Nichts starrst.

Und in diesem Sinne: einen schönen dritten Advent allerseits.

(Ich habe hier einst schon mal geschrieben, dass ich es ziemlich unmöglich finde, im nichtjüdischen Ausland unsere hebräischen Feiertage zu feiern, entgegen der allgegenwärtigen Gemeinschaftsuhr.)

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

5 Kommentare

  1. @ Yoav

    “Denn zahlreich sind die Dinge, die sich am besten nur als Sehnsüchte genießen lassen.”

    Ich wüsste nicht, wie man eine “Sehnsucht” (also die “wehmütige Einsicht in den Mangel einer Sache”) “geniessen” sollte. Es sei denn, man wäre Masochist.

    Dass die Sehnsucht ein wesentlicher Bestandteil der Conditio humana ist – das geb’ ich sofort zu. Aber sie schmerzt. Und selbst in der sehnsuchtsvollen Liebe, ja, selbst in deren körperlichem Vollzug, ist keine Erlösung.

    Ich nehm’ mir die Freiheit, eine Jüdin zu zitieren, die das in sehr schöne, sehnsüchtige Worte gebracht hat:

    “Es ist ein Weinen in der Welt,
    als ob der liebe Gott gestorben wär,
    und der bleierne Schatten, der niederfällt,
    lastet grabesschwer.
    Du! Wir wollen uns näher verbergen!
    Das Leben ruht in aller Herzen,
    wie in Särgen.
    Du! Wir wollen uns tiefer küssen.
    Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
    an der wir sterben müssen.”

    Else Lasker-Schüler

  2. Best of

    Am besten gefällt mir:

    Letzten Endes muss man doch mit sich selbst zufrieden sein.

    Wie seine Zeit, Kraft und Aufmerksamkeitsvermögen, genauso ist auch die Denkfähigkeit des Menschen begrenzt.

    Das Leben ist im Grunde genommen irrational.

    Ich vermute aber, letzteres erscheint uns nur unserer begrenzten Aufnahmefähigkeit so.

Schreibe einen Kommentar