Simonyi – Kulturgeschichte der Physik
BLOG: Uhura Uraniae
gar nicht neu, aber ein Klassiker, den ich immer wieder gern empfehle:
Károly Simonyi (d.Ä.): Kulturgeschichte der Physik
sozusagen das "Standard-Schmökerbuch" aller Physiker, die sich nebenbei ein wenig geistig bereichern wollen. Das Buch erzählt die Geschichte der Physik von der frühen Antike bis quasi-heute. Gigantisch ist der Anspruch, großartig das Konzept: Neben dem Haupttext gibt es nicht nur zahlreiche Farbbilder, sondern auch ausführliche Marginalien. In den Randtexten zitiert der Autor oft auszugsweise historische Dokumente oder Texte. Dort kommt also mal Platons Timaios zum Einsatz, mal auch ein Gedicht von Einstein oder ein Zitat von Feynman, mal ein Minnesang des Walther von der Vogelweide und mal eine Newton-Biographie.
Das faszinierende an Simonyi ist, dass er es schafft, Physik mit einem historischen Leitfaden zu erklären. Er bereichert die physikalischen Erklärungen nicht nur um Formeln und Grafiken, was jedes gewöhnliche Physiklehrbuch tut, sondern auch um Lehrgedichte, um Passagen aus historischen Originaldokumenten und mitunter auch um biografische oder persönliche Bemerkungen zu bestimmten Autoren.
So sieht eine einigermaßen typische Seite in diesem Buch aus: rechts neben dem Haupttext gibt es einige ergänzende Schemata, links neben dem Haupttext ein Diagramm, das die im Text vertretene These visualisiert und argumentativ unterstreicht.
Das Buch ist sachlich richtig und sowohl physikalisch als auch historisch korrekt. Es dient daher als wunderbarer Schmökerschinken, empfehlenswert für alle Physikstudierenden ab dem ersten Semester und für FachwissenschaftlerInnen der Wissenschafts- und Technikgeschichte ebenso wie der Physik und Ingenieurwissenschaften. Simonyi führte selbst zwei Doktortitel, jeweils einen von jeder der beiden Budapester Universitäten: den Dr Ing von der TU, den Dr rer nat von der Eötvös-Universität.
Man sieht aus seiner Biografie aber auch: Simonyi war kein Historiker! – Und das merkt man auch an seinem Buch. (schnüff) So schön, wie es ist und so wunderbar es auch begleitend zum Physikunterricht die Physik erklärt und dies an historischen Beispielen, so ist es doch nicht wirklich ein Geschichtsbuch. Es ist schon gar nicht ein Buch eines Historikers, denn dazu fehlt ihm der kritische Diskurs. Als Physiker und Ingenieur schreibt Simonyi über Fakten, als wären diese denn auch in der Geschichtsforschung immer strikt gegeben, was nicht der Fall ist. Sehr schön und kontrovers stellt er aber gerade in ausgewählten Epochen (z.B. in der frühen Neuzeit und in der Zeitgeschichte) Wechselwirkungen und gegenseitige Rezeptionen einzelner WissenschaftlerInnen dar. Simonyis Prägung durch das sozialistische System merkt man ihm allerdings ebenso an, wie man seine Skepsis gegenüber Frauen als Naturwissenschaftlerinnen in manchen Nebensätzen (und nicht einmal zwischen den Zeilen, z.B. in der Bildunterschrift auf S. 426 über die Doppelnobelpreisträgerin Marie Curie) herauslesen kann. Nun – jedem seine Meinung, aber diese Meinungen sind mittlerweile längst überholt. Im Grunde verwundert das nicht, wenn man bedenkt, dass auch dieser großartige Autor bereits seit ca neun Jahren verstorben ist, also im vergangenen Jahrhundert lebte.
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Häkchen am Buch:
Einen echten groben Haken gibt es im eigentlichen Sinne nicht, aber das Buch ist eben doch schon einige Jahre alt. Das merkt man:
1. Simonyi hat es im sozialistische Ungarn geschrieben. Insofern lohnt es sich, den einen oder anderen Kapitel-Anfang bzw. die eine oder andere Einleitung zu überspringen. Ich denke, man muss nicht alle historischen Entwicklungen auf den Kontrast vom Kommunismus zur Sklavenhaltegesellschaft zurückführen und auch nicht die heuschreckenartige Profitgier mancher Unternehmer ausschließlich in den "bösen Kapitalismus" verbannen, nur weil man es gut mit Zitaten von Marx und Engels belegen kann. Ein humanes Zusammenleben verschiedener Menschen(typen) kann es in vielen Gesellschaftsformen geben, solange sich die Akteure (und Akteusen? ;)) eben human verhalten – unabhängig vom ihnen umschriebenen gesellschaftlichen Gesamtsystem.
Das gesellschaftspolitische Weltbild, das jedoch in dem Buch von Simonyi diktiert wird, mag nicht jedem gefallen und muss wohl unbedingt vor dem Hintergrund der Zeit der Ersterscheinung gelesen werden! Es sollte auf keinen Fall die sonst wirklich schöne Darstellungsweise schmälern. Die Physik bleibt richtig, ihre Zusammenhänge auch und ebenso die meisten historisierenden Darstellungen. Man muss schließlich jedes Buch "in seiner Zeit" lesen.
2. Wenn man mehr als 2000 Jahre historische Entwicklungen darstellen möchte, die naturgemäß keineswegs immer schnurgeradeaus verliefen, dann muss man auch in einem 600 Seiten dicken, ca DIN A4-formatigen Buch natürlich Abstriche machen: Man kann nicht alles beliebig detailliert erzählen und man muss vllt sogar das eine oder andere Kapitel weglassen. So fehlt bspw eine Darstellung der Entwicklungen des arabischen Mittelalters, die man nicht vermissen würde, wenn er sich auf den christlichen Kulturkreis explizit beschränken wollen würde – seine Integration der arabischen Welt in die Wissensgeschichte weckt allerdings den Eindruck, dass hier nur ein oberflächliches Wissen vorhanden war oder zumindest dem Autor an dieser Stelle hinreichend erschien. Leider bleibt es bei dieser Oberflächlichkeit an dieser und anderen Stellen, an denen man mit etwas mehr Recherche-Aufwand leicht hätte ein wenig gründlicher sein können. Nunja, es ist immerhin das Werk eines einzelnen (nicht eines Autorenkollektivs) und dafür ist es sagenhaft umfangreich.
Analog auch folgendes Beispiel: In der oben zur Darstellung des Inhalts abfotografierten Seite befindet sich z.B. links ein Diagramm, in dem längs eines Zeitstrahls die Aktivitäten in Wissenschaft und Kultur irgendwie geplottet sind. Hier schweigt der Autor über die genaue Methode der Darstellung, wie er zu diesem Diagramm kam, also welche Daten er dahinein einspeiste. Diese und ähnliche Ungenauigkeiten sieht man aber wohl erst bei der gründlicheren Lektüre, denn sie werden fürs Erste überdeckt durch einen hohen Wert an Anschaulichkeit abstrakter Themen und guter Erklärungen.
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Summa summarum
Alles in allem ist das Buch von Simonyi daher durchaus empfehlenswert! Es ist eine einzigartige Zusammenschau, großartig in seiner Darstellung von epochenübergreifenden und physikalische Teilbereiche umfassenden Zusammenhängen. Lehrende an Schulen und Hochschulen können dieses Kompendium wunderbar für die Vor- und Studierende für die Nachbereitung von Lehrveranstaltungen benutzen. Es eignet sich prima zum Schmökern und auch als Geschenkbuch fürs unaufhaltsam näherrückende Weihnachten.
Ob es ein wissenschaftliches Buch im engeren Sinn ist, darüber mag man streiten: es ist didaktisch gut aufbereitete Physik, die mit Erkenntnissen der Geschichtsforschung bereichert ist. Weder ist es ein Buch der aktuellen Physikforschung, noch der aktuellen Geschichtsforschung und auch kein wirklich "nur" populärwissenschaftliches Buch. Es ist ein sehr gutes Buch – aber es bedarf (an einigen Stellen mehr und vielen anderen weniger dringend) einer Überarbeitung!
Viel Freude beim Schmökern! 😉
Danke für den Tipp!
Ob es ein “Standard-Schmökerbuch” aller Physiker ist lass ich mal jetzt so als These stehen. 😉
Allerdings sind die Kosten für das
Buch mit 76€ ganz schön happig. Zum Glück ist es in der Kölner Bücherei vorhanden.
Ich interessiere mich auch für die Wissenschaftsgeschichte, empfehlenswert (aber mehr populärwissenschaftlich, dafür sehr spannend erzählt) ist auch das Buch “Big Bang: Der Ursprung des Kosmos und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft” von Simon Singh.
Standard-Schmökerbuch…
… habe ich den Simonyi genannt, weil er mir zuerst (als ich in Kl 13 war) von zwei Physiklehrern unabhängig empfohlen wurde, weil ich zweitens weiß, dass der eine dies sogar teilweise zur Unterrichtsvorbereitung ergänzend konsultierte und weil dies drittens eines der ersten Bücher war, die ich im Physikstudium empfohlen bekam. Ich weiß noch, wie unser Exp-Physik-Prof vorne stand und mit breitestem Grinsen verkündete, wie sollten doch da während des Studiums öfter mal rein schauen (“wenn Sie mal Zeit haben – höhö”), denn das Buch inspiriere und zeige mitunter größere Zusammenhänge auf.
Es war auch eines der ersten Bücher, dass ich mir von meinem BAföG-Einkommen zusammensparte.
Ich denke heute (nach Doppelstudium und während Promotion), dass es ein gutes Buch ist. Doch sehe ich heute, kritischer wertend, auch die vielen Schwächen des Buches, das die Physiker nicht sehen. Das ist ungefähr der wikipedia-Effekt: Wenn man gar keine Ahnung von einem Thema hat, ist man glücklich, wenn man wenigstens ein bißchen was geboten kriegt. Je mehr man weiß, desto höher der Anspruch an die Literatur.
Ich denke, der Preis von 76 Euro ist gerechtfertig für dermaßen viel hochwertigen Inhalts bedrucktes Papier. (Da steckt viel Arbeit von Layoutern, Autor, Drucker, Setzer … und auch Materialkosten drin.)
Gute Arbeit/ gute Ware kostet einfach Geld.