Heliozentrisches Weltbild in Afrika?
BLOG: Uhura Uraniae
Es wäre eine Sensation: ein heliozentrisches Weltbild in der südwestlichen Sahara, vor Kopernikus! Das Astronomiebuch von Chinguetti von 1435 (J) soll angeblich die Sphären der Planeten um die Sonne zeigen. Solche Gerüchte kursierten zumindest noch bis vor kurzem, vermutlich gedankenlos notiert und daher wollte ich dieser Sache auf den Grund gehen. Wäre es war, dann würde es viele Fragen beantworten und jedenfalls noch mehr weitere spannende Fragen aufwerfen, wie die Frage, nach dem Wissentransfer quer durch die Sahara im “Mittelalter” und könnte interessante neue Forschungsprojekte generieren. 🙂
Das Astronomiebuch von Chinguetti (korrekte Transliteration: Šinqīṭ, Mauretanien: wikipedia-link) ist berühmt. Es ist gehört zu einer der größten Bibliotheken Mauretaniens und es ist natürlcih im privaten Besitz einer Familie. Man muss also zu der Familie Kontakt aufnehmen, um es lesen zu dürfen. Nun leben die Mauretanier vom Tourismus und wenn da eine europäische Astronomin herumspringt, nur um ein Buch abzufotografieren, dann ist das nicht so finanziell erträglich wie viele zahlende Touris, die nur kurz gucken und staunen über die fremde Kultur. Darum hatte ich leider bei meinen Besuchen nicht die Gelegenheit, stundenlang das Buch zu lesen oder zu fotografieren. Ein paar Fotos durfte ich machen, aber leider nicht genug, denn es war leider viiiel zu wenig Zeit dafür.
Inhaltlich enthält das Buch alles, was damals “state of the art” war: Entstehung der Mondphasen, von Sonnen- und Mondfinsternissen und so weiter. Daher ist es auch nicht überraschend, dass in dem Buch ein kosmologisches System abgebildet ist. Planetenphären waren im Islam ebenso angesagt, denn auch die islamische Wissenschaft steht in der gleichen antiken Tradition wie die christliche. Man kopierte und kommentierte die gleichen antiken Autoren und nur den islamischen Gelehrten ist es ja schließlich zu verdanken, dass das antike Wissen nach Mitteleuropa in der Renaissance zurückkehren konnte. In Šinqīṭ, der alten, damals sehr bedeutenden Karawanenstadt, wurden und werden viele Bücher umgeschlagen, kopiert und gesammelt. So enthält auch dieses Buch alles Wissenswerte zur Astronomie.
Insofern wäre es auch gar nicht abwegig, dass es in Šinqīṭ alle antiken Kosmologien kursiert haben können: die heliozentrischen von Aristarch von Samos, Herakleides Pontikus u.a. und auch die populäreren geozentrischen Weltbilder der Antike, die man im christlichen Mittelalter bereits latinisiert hatte. Die Weltbilder müssten dann über die Karawanenstraße gen Osten direkt nach Mauretanien gelangt sein. Möglich wäre das, denn die Stadt ist als siebentheiligste Stadt des Islam bis heute ein Sammlungspunkt für die religiös vorgeschriebene Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka und sie war im Mittelalter ein sehr wichtiger Kreuzungspunkt von mehreren Karawanenrouten: der Nord-Süd-Route von Marokko in den Senegal und eben der westliche Endpunkt der Ostroute der Tuareq quer durch die Sahara. Man handelte vor allem Gold und Salz, also elementar wichtige Güter. Chinguetti hatte also eine sehr große Bedeutung – so wichtig, dass in alten Karten mitunter das ganze Umland nach der Stadt (Land von Chinguetti) benannt war.
Die Bibliothek der Familie Khabot in Šinqīṭ (wikipedia-link) besitzt also ein Buch über Astronomie aus dem 10./15. Jahrhundert, in der das Sonnensystem [“le système solaire et ses mouvements de rotation”] abgebildet sein soll. Nun könnte man noch annehmen, dass die wenig geschulten Touristenführer diese Vokabel einfach flapsig anwendeten und nicht “Sonnen”system in unserem heutigen Sinn meinten, sondern eigentlich Planetensphären. Allerdings heißt es auf einem anderen Info-Flugblatt: die Planeten “et sa rotation autour du soleil” (und ihre Rotation um die Sonne: also, das ist jetzt sehr eindeutig und weckt unbedingt den Forscherdrang 🙂 ).
Foto oben zeigt die benachbarte Ruinenstadt Ouadane, in der es ebenfalls berühmte Bibliotheken in Privatbesitz gibt. Und so sehen “Bibliotheken” aus: Das ist einfach ein Raum in einem privaten Wohnhaus, in dem in Lehmregalen die einzelnen Bücher liegen – moderne Paperback-gebundene Schulbücher genauso wie die alten, in bemaltes Ziegenleder eingeschlagenen Manuskripte aus dem 13., 14., 15. … Jahrhundert christlicher Zeitzählung.
Die Familie Khabut ist seit 660 (H)/ 1262 (J) in Šinqīṭ wohnhaft und hat also seit der Blütezeit dieser Karawanenstadt als großer Umschlagplatz im 14. jahrhundert über 1400 Manuskripte angehäuft; sie gilt als eine der bedeutensten Bibliotheken Mauretaniens. [Reise-Info 2007, Reisebericht 2008 von mir, Bibliotheken-Info 2008]
Das Astronomiebuch cIlm al-falak wa al-ṭabīcyat ist 22 mal 15 cm2 groß und umfasst 258 Seiten mit jeweils 21 Zeilen. Informationsblätter aus der Bibliothek für den Tourismus behaupten, es handele sich um eine Handschrift, die entweder auf Varici (persisch) oder Machreq verfasst ist, behaupten die Touri-Infos. siehe mein “Rätsel”-post dazu 2011
Es handelt sich laut Informationen vor Ort um eine Kopie aus der Feder von ‘Ibrahim Husdal des Sultans al-Ahsanbadi, der es im Jahre 838 H (1435) niederschrieb. Kommentiert wurde es angeblich von Sharkh Khakma, während – falls ich das hassanyya-französisch richtig verstehe – die Quelle das Buch cIlm al-falak (wörtlich: Kunde vom Weltkreis, also Astronomie) von einem Autor namens Khakim Shah al-Qazuini ist, der allerdings erst 928 H (1522) gestorben sein soll. Auch hier wird man stutzig: Sollte der Autor tatsächlich seinen Kopisten überlebt haben? Das erscheint doch sehr fraglich.
Und wenn es so wäre, wenn die Mauretanier heliozentrische Weltbilder gekannt haben würden: Woher hatten sie sie? Was war das ursprüngliche Buch, das dem hier genannten zugrunde lag? Irgendwer muss doch die Idee ins Spiel gebracht haben, dass die Sonne im Zentrum der Planetenbewegung steht?
Von Copernicus können die Mauretanier diese Lehrmeinung nicht gehabt haben: Sein Buch erschien in Europa übrigens 1543 (J), also 108 Jahre nach der Niederschrift des Buchs von Šinqīṭ durch ‘Ibrahim Khusdal.
Die Mauretanier können aber nicht einmal dieselben Quellen gelesen haben wie Copernicus (von dem man weiß, dass er die Idee zum Heliozentrismus von Aristarch hatte; er gibt im Vorwort zu De Revolutionibus seine Quellen/ Inspirationen und Beweggründe für die Änderungsvorschläge aus der Beobachtung an). Zum Zeitpunkt der datierten Niederschrift des mauretanischen Manuskripts im 14./15. (J) Jahrhundert war Spanien bereits nicht mehr maurisch, sondern durch die christliche Reconquista zurück gewonnen worden. Der Nordweg nach Europa war also “versperrt”, d.h. es gab keine direkte Verbindung mehr nach Europa und so war den Autoren und Kopisten in Šinqīṭ der Zugang zu europäischer Literatur wohl weitgehend verwehrt.
ABER
Merkwürdig an den hier vorliegenden Angaben ist auch, dass:
- die Abschrift durch ‘Ibrahim Husdal neunzig Jahre vor dem Tod des angeblichen Autors (Khakim) datiert ist – was auf dessen stolze Lebensdauer von mindestens 105 bis 120 Jahren schließen ließe. Zur damaligen Zeit ist das noch unwahrscheinlicher als heute.
- zwei verschiedene Datenblätter unterschiedliche Aussagen über die Sprache treffen (Varici oder Machreq?)
Die Touri-Info rückt dann noch ein Foto raus. Leider sehr schlecht, so dass man nur grob die Schrift erkennt und es schwer fällt, dies zu lesen. Dennoch denke ich – und damit bin ich offensichtlich nicht allein, wie mein Blog-post dazu 2011 zeigte -, dass die Schrift in der Abbildung arabisch ist: In der Mitte steht “Zentrum der Welt” [genauer: Zentrum des Seins, Zentrum der Macht… was aber auch auf die Erde zutreffen könnte, egal, ob man es geistlich oder politisch sieht – und auch auf verschiedene, denkbare Abstrakta anwendbar wäre]. Aber ich kann nicht erkennen, dass da auch stehen würde, dass die Sonne dieses Zentrum sei. Möglicherweise steht das im Text des Buches, aber wenn nicht einmal die Sprache zuverlässig angegeben wird, wie soll ich mich da auf Inhaltsangaben verlassen?
Wir lernen: Lieber alles kritisch hinterfragen, was die Leute erzählen und was im Tourismus gesagt und geschrieben wird. Ich war auch nie sicher, wie glaubwürdig die Aussagen der befragten Personen sind, denn der alte Herr Khabut spricht nur gebrochen französisch, was die Kommunikation mit ihm sehr schwer machte. Der junge Herr Khabut ist ein sehr verschlossener Mensch, auch in Bezug auf den Inhalt des Buches: Er scheint sich mehr auf den Tourismus zu verstehen als auf seine alten Buchschätze – und wie gut wenigstens der Ältere sich auf die Sternkunde im Speziellen versteht, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich wollte nur die offene Frage von 2011 hier noch einmal aufrollen und erklären. Die Antwort genauer zu ergründen, dazu sind wohl weitere Besuche nötig – vielleicht auch von Sprachkundigeren als mir. Vielleicht wird man dann herausfinden, was es tatsächlich mit diesem Buch auf sich hat?
Mehr Informationen über arabische Astronomie habe ich damals als Studentin mal in einer kleinen Monografie zusammengetragen (populärwissenschaftlich lesbar, hoffe ich). -Link-
Danke an Fa. wüstenwandern
Netter Bericht!
Ist aber sachlich nicht ganz richtig, oströmische Bibliotheken und diejenige in Alexandria sind u.a. durch islamische Progression vernichtet worden.
Im Westen des Lateinischen Reiches hatte man es mit “Barbaren” und der Völkerwanderung zu tun.
Antike Schriften haben sich demzufolge auch im Westen Europas erhalten bzw. sind aus Byzanz zurückgeführt worden.
Das Ereignis oder Vorfinden mit dem Buch mit dem angeblich heliozentrischen Weltbild scheint gut beschrieben.
MFG
Dr. W
äh … hier ist was irgendwie missverstanden oder durcheinander: Ich habe abkürzend geschrieben, dass manche antiken Autoren *nur* aus dem griechischen übers arabische gerettet wurden. Das ist und bleibt wahr.
Es ist andererseits auch wahr, wie der Kommentator schreibt, dass auch das christliche Mittelalter einige Texte aus dem griechischen (über andere Umwege) ins lateinische übersetzt wurden und im christlichen Mittelalter kopiert wurden. Hier haben sicher auch syrische Traditionen eine gewisse Rolle gespielt, die ich hier (aus Gründen didaktischer Reduktion: man kann nicht die gesamte Geschichte in einem blog-post aufrollen) komplett weggelassen habe. Auch waren jederzeit jüdische Gelehrte an den Übersetzungen beteilt – habe ich auch nicht behandelt.
Fakt ist die Schulweisheit: in der Antike schrieb man GRIECHISCH, nicht Latein. Im Mittelalter (christlich) schrieb man LATEIN, was teilweise aus spätrömischen Überlieferungen stammt, aber eben längst nicht den gesamten Wissenschatz der Antike abbildet. in der RENAISSANCE, also Wiedergeburt der Antike, sucht eman aktiv nach griechischen Werken in anderer Übersetzung und es tauchten weitere Werke auf, die den mittelalterlichen (lateinischen) Kopisten gar nicht vorlagen. Dieser Prozess des Wiederfindens und Rekonstruierens von Verlorenem ist übrigens bis heute nicht abgeschlossen und ich habe das Glück, mich in einem kleinen bescheidenen Rahmen mit einem eigenen Forschungsprojekt daran derzeit sogar aktiv beteiligen zu dürfen.