• Von Markus Pössel
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Zentraler Corona-Gedenkakt als Politikversagen, Steinmeier-Edition

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… aber nicht einfacher
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Die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sollte versöhnlich sein. Den Blick auf das menschliche Leid richten, der Spaltung unserer Gesellschaft entgegenwirken. Und sicher steht vieles in der Rede, das richtig und menschlich wichtig ist. Nachlesen kann man die Rede hier im Original. Aber das ändert leider nichts daran, dass die Rede auch einen beachtlichen Makel hat. Sie ist vieles Gutes, aber leider auch das: ein Schlag ins Gesicht derer, die sich in den vergangenen Monaten und Wochen über das Zögern, die Halbherzigkeit, die Ineffektivität der Länder und des Bundes bei der Pandemiebekämpfung geärgert und gesorgt haben.

Dabei fängt der entsprechende Teil der Rede noch recht harmlos an:

“Ich übersehe nicht, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Neben der Trauer gibt es bei manchen auch Verbitterung und Wut.”

Zweifellos gibt es die. In meiner Timeline bei Twitter habe ich naturgemäß keinen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung, sondern da sind vor allem diejenigene, die wissenschaftsaffin sind, die sich selbst vorsichtig verhalten und sich über jene ärgern, die es nicht tun. Und gerade in den letzten 2+ Wochen, sprich: seit die letzte MPK ausfiel und sich außer gelegentlichen Modell-Lockerungen scheinbar nichts mehr zusätzlich in Sachen Pandemiebekämpfung tat, während andererseits die Meldungen von “weicher Triage” an und um die Intensivstationen die Runde machten, gab es in meiner Timeline – das haben auch andere in ähnlicher Situation gemerkt – einen Stimmungsumschlag. Da ging gehörig Vertrauen in die Politik verloren, nämlich das Vertrauen, dass sich jetzt trotz der Lockerungs-Äußerungen doch noch einmal diejenigen durchsetzen würden, die einen konsequenten Lockdown zumindest solange einleiten könnten, bis wir aus dem derzeitigen Gefahrenbereich hinaus sind. Was stattdessen kam? Statt auf Inzidenzen zu reagieren, wurden Inzidenz-Richtwerte nach oben gesetzt, weit jenseits des noch wissenschaftlich (z.B. mit dem Nachverfolgungs-Vermögen der Gesundheitsämter) begründbaren Bereichs. Homeoffice-Pflicht? Aber nicht doch, das können wir der Wirtschaft doch nicht zumuten! Insofern gab es unter jenen Menschen auf alle Fälle, Verbitterung, Wut, und entsprechende Sorgen, wie es weitergehen. Soweit, so gut, schauen wir also auf den nächsten Absatz der Rede:

“Viele, die mir geschrieben haben, fragen sich, ob bestimmte Einschränkungen, die beschlossen wurden, um die Pandemie einzudämmen, zu viel Freiheit genommen haben. Sie fragen sich, ob bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, die Menschlichkeit manchmal auf der Strecke geblieben ist.”

Na gut, das ist dann erst einmal die andere Seite. Einerseits Querdenker, andererseits natürlich viel allgemeiner diejenigen, die zwar derzeit die wirtschaftlichen Einschränkungen direkt spüren, aber nicht die direkten Pandemiefolgen, und all diejenigen, die sich um ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen. Solche Zukunftssorgen muss man in der Tat ernstnehmen.

“Ich verstehe die Fragen, ich verstehe die Verbitterung.”

Bei denjenigen, die sich sorgen um die eigene Zukunft machen: ganz gewiss.

“Und ja, es stimmt: Wir haben Menschen Einsamkeit zugemutet, um andere vor Krankheit oder Tod zu schützen. Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten.”

Ah, wir waren mit dem Thema Einschränkungen noch nicht fertig. Zu dem Thema braucht es offenbar noch weitere Ausführungen. Hoffentlich kommt die Verbitterung über fehlendes Durchgreifen dann später in ähnlicher Gewichtung.

“Das ist ein Konflikt, aus dem es keinen widerspruchsfreien Ausweg gibt. Ich weiß, dass Einschränkungen, die in der Ausnahmesituation der Pandemie notwendig sind, unbeabsichtigt auch Leid und Not verursacht haben. Das ist die bittere Wahrheit.”

Nun gut, was heißt schon “widerspruchsfrei” – aber in der Tat, Einschränkungen haben zum Teil Leid und Not verursacht.

“Aber ich weiß auch: Die Politik musste schwierige, manchmal tragische Entscheidungen treffen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern. Wir alle, auch die Politik, haben lernen müssen, haben Fortschritte gemacht. Und wo es Fehler oder Versäumnisse gab, da müssen und werden wir das aufarbeiten. Aber nicht an diesem Tag. Nicht heute.”

Das wäre natürlich jetzt der richtige Übergang zur anderen Art von Frust und Bitterkeit gewesen. Dem Frust über das, was die Politik eben nicht getan hat, das aber nach Einschätzung einer ganzen Reihe von Betroffenen nötig gewesen wäre. Wobei unter denjenigen, die diese Einschätzung teilen, ja auch eine ganze Reihe von Intensivärzt*innen sind, die jetzt Hilferufe absetzen, und Wissenschaftler*innen, die in ihren Modellen gehörige Zeit vorher Anzeichen dafür gesehen haben, wo es hingeht.

Was ein großer Teil der Verbitterung dabei ist: Die Überzeugung, dass jene Versäumnisse mitverantwortlich für das Leid sind, das wir bei der Gedenkfeier vor allem teilen – das der Verstorbenen und ihrer Angehörigen, der schwer Erkrankten und ihrer Angehörigen.

“Meine Bitte ist heute: Sprechen wir über Schmerz und Leid und Wut. Aber verlieren wir uns nicht in Schuldzuweisungen, im Blick zurück, sondern sammeln wir noch einmal die Kraft für den Weg nach vorn, den Weg heraus aus der Pandemie, den wir gehen wollen und gehen werden, wenn wir ihn gemeinsam gehen.”

Langsam wird es mulmig Wieder sind wir nur bei denen, die über Einschränkungen wütend sind. Deren Schuldzuweisungen sind in der Tat rückwärtsgewandt. Wut, Frust und Sorgen derjenigen, deren Einschätzung nach ganz aktuell jetzt nicht genug passiert, um noch weiteren Schaden abzuwenden, sind durchaus nach vorne gewandt. Sie betreffen unmittelbar die Entscheidungen, die eigentlich jetzt, allerspätestens in den nächsten Wochen getroffen werden müssen. In der kritischen Phase, bevor wir das Infektionsgeschehen dann aufgrund der Impffortschritte dann hoffentlich in eine ganz andere Bahn gelenkt haben werden.

“Lassen wir nicht zu, dass die Pandemie, die uns schon als Menschen auf Abstand zwingt, uns auch noch als Gesellschaft auseinandertreibt!”

Und das war es dann auch schon. Die einzige Wut und Verbitterung, die zählen, ist diejenige, die sich gegen die Infektionsschutzmaßnahmen richtet. Daher leider: zu spät, Herr Steinmeier. Denn das Auseinandertreiben haben Sie hier bereits selbst in unmissverständlicher Weise besorgt. Die Sorgen derer, die lautstark über die Einschränkungen klagen, werden gehört. Selbst Querdenker, die auf entsprechenden Demonstrationen unter genüsslicher Missachtung der Vorsichtsmaßnahmen Polonäse getanzt haben, können sich von Ihren empathischen Worten mitgemeint fühlen.

Aber diejenigen, denen die Maßnahmen nicht weit genug gehen, die sich Sorgen machen, ob auf die derzeitige Situation angemessen reagiert wird, die stoßen Sie vor den Kopf. Deren Sorgen sind für Sie nicht erwähnenswert. Warum eigentlich nicht? Dass vor zwei Wochen 48% der Deutschen die Corona-Maßnahmen nicht weit genug gingen, solche Informationen sollte Ihnen ein*e kompetente*r Referent*in ja vermutlich vorgelegt haben. Was denken Sie denn, was bei jenen Befragten dahintersteht? Leidenschaftsloses Kalkül? Oder vielleicht doch eher Frust, denn wenn Maßnahmen in einer gefährlichen Situation nicht weit genug gehen, ist das ja nichts, was man als mitfühlender Mensch mal eben so abtun könnte.

Abtun kann man aber offenbar als Bundespräsident all die Menschen, deren Sorgen eben in diese Richtung gehen. Ein Unding.

Wie hätte die Rede weitergehen können, wenn wir einen Bundespräsidenten hätten, der in dieser Hinsicht den Überblick hat, der sich bewusst ist, was es in dieser Hinsicht für Frustrationen gibt, und der diese Sorgen daher selbstverständlich erwähnt? Vielleicht so:

“Ich sehe auch bei jenen Verbitterung und Wut, aus deren Sicht die Maßnahmen nicht weit genug gegangen sind und nicht weit genug gehen. Ich weiß, unter Ihnen sind insbesondere diejenigen, die sich in Krankenhäusern und vor allem auf den Intensivstationen nahe oder jenseits der Belastbarkeitsgrenzen dafür einsetzen, dass zumindest einige schwer Erkrankten noch eine Chance haben, ins Leben zurückzukehren. Ich weiß, dass zu frühe Lockerungen, zu späte Reaktionen auf Warnzeichen wie zu Beginn der zweiten Welle unbeabsichtigt Leid und Not verursacht haben – und mit einiger Wahrscheinlichkeit die Mehrzahl derjenigen Toten, die wir heute betrauern. Das ist die bittere Wahrheit. Und wo es Fehler oder Versäumnisse gab, da müssen und werden wir das aufarbeiten, denn wir wissen: Genau in derselben Situation sind wir heute auch. Was wir jetzt entscheiden wird Konsequenzen haben. Und weil die Zeit drängt, müssen wir darüber reden. Auch heute. Auch an diesem Tag.”

Und dann wäre natürlich eine gute Gelegenheit gewesen, all jenen, deren Entscheidungen da beigetragen haben und die anwesend sind, ins Gewissen zu reden.

Stattdessen: Nichts dergleichen. Vier Absätze, die selbst den Querdenkern zeigen, dass Steinmeier sie nicht ausgegrenzt wissen will. Kein Wort zu denjenigen, die aus den erwähnten anderen, durchaus nachvollziehbaren Gründen verbittert sind.

Dieser Aspekt der Rede eint nicht, er spaltet.

Er setzt für all diejenigen, die sich Sorgen darüber machen, ob derzeit angemessen wirksame Maßnahmen getroffen werden, noch einen drauf: Nicht nur hört man nichts von entsprechend geplanten Verschärfungen, sondern, sorry, auch eure Wut und eure Verbitterung sind dem Bundespräsidenten offenbar egal. 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.