Wenn Evidenzbasiertheit bei Teilen der S3-Covid-Schulen-Leitlinie zur Farce wird

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… aber nicht einfacher
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Ich habe ehrlich gesagt noch keinen so krass inkompetenten Fall in freier Wildbahn gesehen wie das folgende hypothetische Szenario: Da veröffentlicht jemand einen Fachartikel, mit experimentellen Daten, deren Auswertung, und auf jener Grundlage wird dann dann ein bestimmter Schluss gezogen. Soweit, so gut. Nur veröffentlicht derselbe Autor ein Jahr später die zweite Version des Artikels (ja, so etwas gibt es – etwa bei Fachartikeln, die erst einmal auf Servern wie arxiv.org veröffentlicht werden, bevor sie bei einer Fachzeitschrift eingereicht werden). Die Abschnitte zu Daten, Auswertung und Auswertungsergebnissen sind dabei im wesentlichen unverändert. Aber der Schluss, der im letzten Abschnitt daraus gezogen wird, ist ein völlig anderer. Übrigens ohne, dass die neue Version eine Begründung für jene krasse Änderung liefern würde.

Der Autor jenes Artikels würde in seinem Fach ausgelacht werden. Diejenigen, die an den Unis zu Forschungskompetenz und richtigem wissenschaftlichen Verhalten lehren, würden sich freuen, endlich ein so richtig krasses Beispiel dafür zu haben, wie man es nicht machen sollte.Und doch ist etwas weitgehend Analoges gerade in mindestens einem Teil der jüngst veröffentlichten S3-Leitlinie für den Umgang mit Corona in Schulen passiert. Jener Leitlinie, auf die Politiker*innen verweisen, wenn man ihnen vorhält, sie würden zu wenig gegen den Infektionsschutz für Schüler*innen unternehmen: “Wir setzen aber doch die S3-Leitlinie um!” 

Wissenschaftliche Selbst-Ansprüche der S3-Richtlinie

Klar: Eine S3-Richtlinie ist noch einmal etwas anderes als ein wissenschaftlicher Fachartikel. Aber die Anforderungen sind sich recht ähnlich: “Unter einer Leitlinie werden systematisch entwickelte Empfehlungen verstanden, die auf dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand beruhen. Sie sollten auf einer systematischen Sichtung und Bewertung der Evidenz und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen basieren (so die Definition auf S. 5 der S3-Leitlinien-Kurzfassung selbst). Diese Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn die Ziele von Fachveröffentlichungen und Leitlinien überschneiden sich ja: in beiden Fällen geht es darum, gute, nachvollziehbare, in der üblichen Weise (z.B. Literaturverweise!) auf bestehende Forschung aufbauende Schlüsse zu dokumentieren.

(Dass die Corona-Schulen-Leitlinie in einiger, nicht unproblematischer Hinsicht etwas anderes ist als die üblichen Leitlinien hatte ich letztes Jahr hier schon näher dargelegt; um die dort behandelten Aspekte soll es hier aber nicht gehen – gerade in punkto Zusammensetzung hat sich da auch etwas gebessert – mehr Fachleute! Sehr gut!).

Schauen wir uns erst einmal positiv an, wie die Struktur der besagten S3-Leitlinie auf Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Rückführbarkeit auf die “aktuellen wissenschaftlichen Erkenntniss[e]” ausgerichtet ist. Das sieht man an der jetzt veröffentlichten Kurzfassung recht gut: Die verschiedenen Empfehlungen sind klar gegliedert. Es wird jeweils transparent gemacht, ob es sich um evidenzbasierte oder konsensbasierte Entscheidungen handelt. (Dass Konsensbasiertheit bei einem Gremium, das so bunt gemischt ist wie in jenem Falle, je nach Konsensstufe begrenzte Aussagekraft hat, sei hier nur nebenbei erwähnt.) Suchstrategie für Evidenz und Aussagen zu Interessenskonflikten sind in einem Anhang beschrieben. Ein eigener Evidenzbericht gibt eine Übersicht der verwendeten Literatur, mit Zusammenfassung, Kurzbeschreibung und Bewertung der Zuverlässigkeit. Für jeden Empfehlungsbereich werden zunächst die Einzelempfehlungen dargelegt, bei Konsensempfehlungen auch der Konsensgrad angegeben. Dann folgt – denn es soll ja, siehe oben, um Abwägungen gehen – noch einmal eine farbkodierte Zusammenfassung des Pro und Kontra: Grün der Nutzen der Maßnahme, rot der Schaden der Maßnahme, in neutralem Grau die auf jenen Vor- und Nachteilen basierende Gesamtempfehlung.

Das ist nicht nur vom Duktus, sondern eben auch vom wissenschaftlichen Anspruch her sehr klar, und beweist jeweils einen hohen Anspruch an Transparenz und Nachvollziehbarkeit ist ja auch nötig – sonst könnte man sich den ganzen Aufwand auch sparen. Und dieser hohe Anspruch ist wichtig und nötig: Leitlinien haben Gewicht. Sie stehen in der Praxis, verkürzt gesagt, für den “Stand der Wissenschaft”. Und so werden sie von denen, die für eine bestimmte Position z.B. bei den Infektionsmaßnahmen argumentieren, dann ja auch ins Feld geführt.

Masken und die infektionsepidemiologische Risikolage

Nach dieser Vorbereitung kommen wir zu den Empfehlungen zu Masken in den Schulen. Masken sind in der Öffentlichkeit längst zum Symbol geworden – sowohl für jene, die die Infektionsschutzmaßnahmen für übertrieben halten, als auch für jene, die z.B. in Bezug auf den Schulbetrieb anmahnen, dass ohne allgemeines Maskentragen der Schutz vulnerabler Schüler*innen, oder von Schüler*innen mit vulnerablen Angehörigen, deutlich verringert wäre. Masken sind sichtbarer als andere Schutzmaßnahmen. Und damit längst ein Politikum.

Die S3-Leitlinie liefert jetzt denen Munition, die in der aktuellen Situation trotz häufiger Ansteckungen im Schulbereich keine Maskenpflicht in den Schulen einführen wollen. Sie empfiehlt Maskentragen in der Schule nur “bei hoher infektionsepidemiologischer Risikolage” – und dieser Begriff ist in der S3-Leitlinie definiert als das neue Auftreten deutlich virulenterer Varianten oder aber die akute Gefahr des Kollapses des Gesundheitssystems. Das ist in der Praxis die Empfehlung zu Masken in den Schulen, die jetzt dank der Leitlinie den gewichtigen Stempel des wissenschaftlichen Konsenses bekommt.

Versionsvergleich

Aber an der Stelle wird es absurd. Leider in einigermaßen versteckter Weise, denn um die Absurdität richtig würdigen zu können, muss man zur ersten Version der S3-Leitlinie zurückgehen, veröffentlicht im November 2021. Das wiederum wird einem allerdings nicht einfach gemacht – tatsächlich konnte ich die erste Version auf der AWMF-Webseite gar nicht finden. Und das in einer Zeit elektronischer Dokumente, wo transparente Versionierung einfacher ist als je zuvor. Nun ja. Zum Glück gibt es aber das Internet Archive mit seiner Wayback Machine, wo frühere Versionen von Internetseiten abrufbar sind, so auch die frühere Version der entsprechenden Leitlinien.

Und siehe da: Die zugrundeliegende zitierte Evidenz ist in beiden Versionen dieselbe – verwiesen wird auf dieselben drei Fachartikel. Hinzugekommen sind einige konkrete Anmerkungen zur Umsetzung der Maßnahmen: Masken mit Sichtfenster in bestimmten Fällen. Die Notwendigkeit, die richtige Umsetzung zu kontrollieren. Und so weiter.

Ganz wichtig: Die Abschätzung des Verhältnisses von (potenziellem) Nutzen zu (potenziellem) Schaden der Maßnahme hat sich kaum verschoben, aber dort wo es sich verschoben hat geschah das zugunsten der Masken. Im Einzelnen: Bei den Kontra-Argumenten, rot hinterlegt zu “Schaden der Maßnahme”, sind drei Punkte (Hautirritationen, Ressourcenverbrauch, spezifische potenzielle Probleme mit FFP2-Masken) in Version 2 und Version 1 genau dieselben. Der einzige Punkt, der auf der Schadensseite hinzugekommen ist, ist im Gegenteil ein für das Maskentragen positiver: “Ein negativer Einfluss des Tragens von MNS auf kognitive Leistung im Unterricht konnte in einer randomisierten Studie nicht gezeigt werden“. Auf der grünen Seite sind inhaltlich drei Punkte dazugekommen: Zwei betreffen die hohe Akzeptanz/Adhärenz von Masken bei Schüler*innen, einmal im Grundschulalter (obwohl die Eltern das anders sehen) und einmal bei älteren Schüler*innen. Der dritte Punkt: “Ethnische Faktoren und regionale Deprivation erhöhen das Risiko für SARSCoV2 Infektionen und schwere COVID19-Erkrankung. Masken können daher bei konsistentem Gebrauch in Schulen zu Chancengleichheit (Equity) beitragen.”

Die “Gesamtbewertung der Maßnahme” ist trotzdem gleichgeblieben, bis auf Variationen in der Wortwahl, die an der Bedeutung aber soweit ich sehen kann nichts ändern (“Schulpersonal” wurde zu “weiteren in der Schule tätigen Personen” u.ä.). Er lautet in der Neufassung “Nach Einschätzung der Expert*innen überwiegt der Nutzen des Maskentragens bei Schüler*innen, Lehrkräften und weiteren in der Schule tätigen Personen. Im Bündel mit weiteren Maßnahmen verringert Maskentragen das Infektionsrisiko in Schulen. Der mögliche zusätzliche Schutz durch eine FFP2Maske bei Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID19Erkrankung überwiegt nach Einschätzung der Expert*innen mögliche Schäden.”

Und doch ist die für die Schulpraxis relevante “Evidenzbasierte Empfehlung ” mit der Nummer 2.1 in der neuen Fassung eine ganz andere als die entsprechenden Empfehlungen in der alten Fassung. In der alten Fassung soll “Sachgerechtes Tragen von Masken durch Schüler*innen, Lehrer*innen und weiteres Schulpersonal [in] Schulen umgesetzt werden” und “ab hohem Infektionsgeschehen [ein] medizinischer Mund-Nasen-Schutz zum Einsatz kommen.”

Jener Fassung nach müsste heute in allen Schulen eine Maskenpflicht für medizinische Masken gelten.

Nach der neuen Empfehlung dagegen ist es im Gegensatz dazu legitim, dass es in Schulen derzeit keine Maskenpflicht gibt.

Masken empfiehlt die Leitlinie nämlich nur noch”bei hoher infektionsepidemiologischer Risikolage“, und die ist, wie kurz erwähnt, über die besondere Gefährlichkeit definiert, hier jetzt doch im Wortlaut wiedergegeben: Entweder “das Auftreten einer SARS-CoV-2 Variante mit erhöhter Virulenz, die zu einer anerkannt deutlich höheren Krankheitsschwere und/oder Rate an Langzeitfolgen und/oder Mortalität bei Kindern und Jugendlichen bzw. Schüler*innen führt” oder alternativ “ein regionales Infektionsgeschehen, bei dem wegen einer z.B. erheblich erhöhten Übertragbarkeit, Pathogenität, Immunflucht oder abnehmendem Immunschutz in der Bevölkerung gegen einen schweren Verlauf aktuell oder in absehbarer Zukunft eine Überlastung des Gesundheitssystems und/oder der kritischen Infrastruktur (im Wesentlichen durch Personalausfälle z. B. auch in Schulen) erwartet wird.”

Und das ist die Absurdität, die jener in meinem hypothetischen Eingangsbeispiel um nicht viel nachstellt: Dieselbe Evidenz, dieselben bzw. für die Maßnahme eher noch günstigeren Pro- und Kontra-Aspekte. Dieselbe daraus folgende Maßnahmenbewertung der Expert*innen. Und doch komplett andere Empfehlungen, mit denen sich die Leitlinie dann auf die Praxis auswirkt.

Was ist da passiert?

Zunächst einmal: Damit werden natürlich all die sorgfältige Dokumentation, die auf Transparenz angelegte Struktur, der wissenschaftliche Anspruch zur Farce – ganz analog zu meinem hypothetischen, lachhaft inkompetenten Fachartikel eingangs. Denn was dort passiert ist, ist der Dokumentation nach zu schließen eben keine Entscheidung, die bei dem, worauf es ankommt, auf der “systematischen Sichtung und Bewertung der Evidenz und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen” basiert. Denn wie gesagt: jene Abwägung von Nutzen und Schaden, das ist das Pro und Kontra, ist die Gesamtbeurteilung der Maßnahme, und die ist ja gleichgeblieben.

Inwiefern also wird die Leitlinie ihren Ansprüchen gerecht? Wenn man die Formulierung zur Evidenzbasiertheit nicht bis zur Bedeutungslosigkeit aufweichen will, dann ist die Antwort: im Falle der Maskenempfehlung und der dort explizit genannten Evidenz offenbar gar nicht. Was an Evidenz genannt wird, hatte schließlich auf die Empfehlung keinen entscheidenden Einfluss. Und umgekehrt: Was immer bei der Änderung der Empfehlung zwischen erster und zweiter Version ausschlaggebend gewesen sein mag, es wird bei der Darlegung der Gründe, der Evidenz, des Pro-und-Kontra, der Gesamtbewertung der Maßnahme, umgekehrt offenbar nicht genannt.

Das ist es, was ich mit “Farce” meine, denn auch der Masken-Abschnitt hat ja nach wie vor den Duktus der wissenschaftlicher Systematik – kommt mit Einträgen im Evidenz-Dokument, verweist auf wissenschaftliche Standardliteratur, ist mit seinem ostentativ dokumentierten Pro-und-Kontra Teil derselben Systematik wie der Rest der Leitlinie. Aber das ist in diesem Falle in entscheidender Hinsicht reines Evidenz-Theater, denn für die Empfehlung war all das ja offenbar nicht ausschlaggebend. Das ist, als würde ich bei der Sicherheitskontrolle im Flughafen demonstrativ kontrollieren, ob die Fläschchen auch ja nicht mehr als 100 Millimeter Shampoo enthalten, aber den Passanten mit der Schusswaffe lächelnd durchwinken.

Für die Änderung der Empfehlung zwischen zweiter und erster Version gibt es so gut wie keinerlei Transparenz. Im Gegenteil: Man muss schon zur (für mich wie gesagt auf den AWMF-Webseiten gar nicht auffindbaren) Vorversion gehen und vergleichen, um herauszufinden, dass sich da überhaupt etwas Wichtiges geändert hat. An das gesagt: Wenn jemand bewusst hätte verheimlichen wollen, dass da eine Kehrtwende stattgefunden hat, dann hätte er oder sie im Vergleich zu dem, wie es tatsächlich gelaufen ist, gar nicht groß weitere Maßnahmen treffen müssen. Frei nach Douglas Adams: “Aber die Pläne waren doch öffentlich?” – “Ja, aber im Keller hinter der kaputten Treppe, hinter der Tür ‘Vorsicht, Leopard!’ in einem abgeschlossenen Schrank.”

Mogelpackung

Leitlinien spielen eine wichtige Rolle. Sie erleichtern dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin die Arbeit, indem sie eine zwar rechtlich nicht bindende, aber in der Praxis sehr gewichtige Anleitung dafür geben, was in einer gegebenen Situation das Verhalten “nach den Regeln der Kunst” bzw. “nach dem Stand der Wissenschaft” ist. Wer davon abweicht, tut das auf eigene Gefahr. Wer sich daran gewissenhaft hält, dürfte sich in der Praxis keine Sorgen mehr machen müssen, z.B. wegen Fehlern bei Behandlungsentscheidungen belangt zu werden, solange er oder sie sagen kann: das hier ist die Leitlinie, das ist der fachliche Konsens, dem bin ich gefolgt.

Entsprechend wird die S3-Leitlinie zu Schule und Corona auch in der öffentlichen Diskussion verwendet. Kultusminister*innen können sich darauf berufen und sagen: Eure Vorwürfe mangelnder Vorsicht und Fürsorge sind unberechtigt, denn seht: wir orientieren uns an der gültigen Leitlinie. Und selbstverständlich schwingt dabei mit: Leitlinien sind wissenschaftlich, und Wissenschaft ist nun einmal in der Praxis die weithin akzeptiert zuverlässigste Basis. Leitlinien sind Expertenempfehlungen. Wir handeln evidenzbasiert. Daraus beziehen Leitlinien, und eben auch diese hier, ihr in den meisten Fällen zu Recht großes Gewicht.

Was bei der Maskenempfehlung zumindest in der Kurzfassung, auf welcher die öffentliche Diskussion aktuell basiert, allerdings sämtlich Ansprüche sind, denen jene Empfehlung nicht gerecht wird. Denn nein, jene Entscheidung ist eben nicht fest in der dort genannten Evidenz verankert. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass jene Entscheidung in irgendeiner Form wissenschaftlicher oder evidenzbasierter zustandekam als, sagen wir, die eines einzelnen Schulleiters, oder einer zuständigen Kultusministeriums-Mitarbeiterin.

Weil die Leitlinie die Gründe für das “damals so, heute anders” nicht nennt, ist im Gegenteil komplett unklar, ob und in wieweit das überhaupt eine Entscheidung auf wissenschaftlicher Grundlage ist. Oder ob es doch eine allgemeinere Abwägung in der Art von “Hm, in den Schulen ist die Stimmung eigentlich eher gegen Maskentragen, das können wir politisch nicht durchsetzen” war, die dazu geführt hat, dass die Empfehlung umformuliert wurde, ohne dass eine geänderte Evidenzlage vorgelegen hätte. In jenem Falle wäre die Maskenempfehlung dann ebenfalls eine politische Einschätzung. Politische Einschätzungen sind in solchen Situationen auch völlig legitim – ob hier oder z.B. beim Klimawandel: die nötige gesellschaftliche Abwägung liegt nun einmal in komplexen Situationen jenseits dessen, was Wissenschaft alleine leisten kann. Problematisch wird es nur, wenn eine solche politisch-allgemeine Abschätzung als Leitlinien-Bestandteil mit dem Mäntelchen der Wissenschaft an die Öffentlichkeit tritt und sich dadurch ein Gewicht verschafft, das ihr schlicht nicht zukommt.

Aber egal ob dort Politik als Wissenschaft posiert oder ob es “nur” massive Intransparenz ist: in beiden Fällen ist es ein den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit und Transparenz nach ein absolut problematisches Vorgehen. In den wesentlichen Zügen verwandt meinem absurd unwissenschaftlichen, hypothetischen Eingangsbeispiel. Eine Mogelpackung, die sich Systematik auf die Fahnen schreibt, diese Systematik aber in entscheidender Weise selbst unterläuft. Mit einem zufällig oder eben nicht zufällig, das lässt sich anhand der Daten nicht entscheiden, politisch in weiten Kreisen genehmen Empfehlungs-Ergebnis, das jetzt in der öffentlichen Diskussion als Leitlinie, als evidenzbasiert, als Konsens der Wissenschaft herumparadiert werden kann.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

18 Kommentare

  1. Ich meine, es kommt auf die Gesamtbewertung der Situation zum „heutigen Zeitpunkt“ an.

    In Ihrem Fach (Physik) ändert sich die grundlegende Situation nicht alle Jahre.

    Bei Covid sehr wohl. Wir haben einfach gelernt, damit besser, weniger „hysterisch“, umzugehen. Vor 2 Jahren war die Situation neu, überraschend und möglicherweise sehr gefährlich.

    Die banale Maul und Klauenseuche hat angeblich früher rund 30% der Rinder „umgebracht“. Ein Fiasko, wäre es bei Covid genau so gekommen, was nicht auszuschließen war.

    Trotz die Ausbreitung von Seuchen begünstigender Umstände, z.B. Welt weite Kontakte wegen der schnellen günstigen Verkehrsverbindungen, verlief es relativ harmlos. Außerdem ist die Durchseuchung (geimpft, genesen) hoch und die Gefährlichkeit nimmt eher ab.

    Dass diese Umstände in die aktuelle Neubewertung einfließen, wundert mich nicht.

    Übrigens auch nicht, dass es Physikern die “Haare aufstellt“, wenn derart „brutal“, wie Sie es beschreiben, mit der wissenschaftlichen Methodik umgegangen wird.

    • Selbstverständlich darf das Gremium eine Gesamtbewertung zum heutigen Zeitpunkt aufstellen. Und selbstverständlich darf es neue Erkenntnisse einfließen lassen. Aber wenn das Leitlinienvorgehen kein Transparenz- bzw. Wissenschaftlichkeits-Theater sein soll, muss die Änderung so transparent und wissenschaftsbasiert dokumentiert werden wie es der eigene Anspruch der Leitlinie und auch deren Form erfordern. Wenn eine Maßnahme erst empfohlen wird, später nicht, muss sich dann ja beim Pro und beim Kontra, das bei der Gesamteinschätzung einfloss, etwas geändert haben. Das muss benannt werden. Sonst wird Nachvollziehbarkeit und Evidenzbasiertheit lediglich vorgetäuscht. Wie gesagt: Mogelpackung.

  2. @ Markus Pössel 29.10.2022, 16:01 Uhr

    Ich fürchte, der Begriff „Wissenschaftlichkeits-Theater“ beschreibt die Situation realistisch.

    Dessen sind sich die Wissenschaftler die der Politik „zuarbeiten“ müssen bewusst. Sie sind ja (außer die „Jünglinge im Beruf“) nicht mehr „naiv“, denken sehr realistisch, womöglich mit einem Schuss „Zweideutigkeit“, wie ehemals ein Orakel.

    Politiker sollen „herauslesen“ können was sie brauchen und auch wollen um nicht in „Ungnade“ beim Volk (Medien????) zu fallen. Das „Wissenschafts- Orakel“ muss heutzutage immer dabei sein.

    Die „pure Suche nach der Wahrheit“ hilft nicht wirklich weiter. Erst am Schluss, wenn alles vorbei ist, wird „abgerechnet“……

  3. Ich kann kaum glauben, was für ein (wissenschafts- ) skeptischer Wissenschafts-Realismus hier plötzlich zu lesen ist.
    Solches wurde doch noch bis in jüngste Zeit in Bausch und Bogen abgetan als wissenschaftsfeindliche Spinnerei völlig unkompetenter “Aluhut – Esoteriker”.
    (Um es mal etwas polemisch zu formulieren).

    • Den Kommentar kann ich nicht nachvollziehen. Auf welche früheren Blogbeiträge von mir beziehen Sie sich? Sowohl die erste Fassung der S3-Leitlinie als auch z.B. Aussagen des RKI zur Übertragbarkeit u.ä. habe ich hier doch auch früher auseinandergenommen.

  4. Ich bezog mich darauf, dass Sie früher auf “Wissenschaftsskepsis ” oder Kritik an “DER Wissenschaft” im Allgemeinen (besonders aber bezüglich “Physik” ) etwas empfindlich oder auch teilweise etwas “dogmatisch” reagiert haben. (-:

    • Haben Sie ein Beispiel dafür, was Sie meinen? Sie scheinen da eine seltsam pauschale Perspektive zu haben. Ich persönlich begrüße Kritik da, wo sie sachlich gerechtfertigt ist und halte dagegen, wenn sie nicht gerechtfertigt ist. Das sollte das einzige Kriterium sein. Und mein frühester Blogpost, in dem ich Probleme mit wissenschaftlichen Studien kritisiere, ist dieser hier vom März 2008 🙂

      • @ Markus Pössel am 30.10.2022, 20:12 Uhr:

        O.K. Nichts für ungut. Ihr “Wort in Gottes Ohr” (-: Wir werden sehen, wenns mal wieder um die Grundlagenprobleme der “Großen Theorien” geht.

        MfG, L.L.

  5. Markus Pössel schrieb (29. Okt 2022):
    > […] Oder ob es doch eine allgemeinere Abwägung in der Art von “Hm, in den Schulen ist die Stimmung eigentlich eher gegen Maskentragen, das können wir politisch nicht durchsetzen” war […] ?

    Äußerst naheliegend — ganz genau wie bei der (nach wie vor beklagenswerten) Abwägung zwischen einer gewissenhaften, diskutablen und womöglich lehrreichen Darstellung der Einsteinschen Relativitätstheorie(n) einerseits, und andererseits den “(aller-)meisten hier Mitlesenden” bzw. was solchen als deren vermeintliches Vorwissen unterstellt würde.

    • Da scheint Ihnen das (aus meiner Sicht: kleinliche) Bedürfnis, ein Zitat von mir auf Deubel komm raus für einen persönlichen Seitenhieb gegen mich einzuspannen (“Gotcha!”), den Blick auf die entscheidenden Unterschiede zwischen den Situationen zu verstellen, die Sie hier gleichsetzen. SciLogs ist ein Angebot für eine bestimmte Zielgruppe; auf deren Bedürfnisse einzugehen, ist legitim und im Sinne des Formats. Eine Leitlinie dagegen hat den Anspruch, evidenzbasiert und transparent bestimmte Empfehlungen auszusprechen; das zugunsten von politischen Abwägungen auszuhebeln ist illegitim und steht den Ansprüchen jenes Formats direkt entgegen.

      Ist Ihnen das nicht peinlich? Dass Sie hier schon so weit gehen, elementare Logik zu vernachlässigen, nur um mir dafür eins auszuwischen, dass ich Ihnen bei “Relativ Einfach” für die Ihnen persönlich offenbar sehr wichtigen, aber für die hier angesprochene Zielgruppe viel zu mathematischen Ausführungen, keine komplett freie Hand lasse?

      • Markus Pössel schrieb (01.11.2022, 13:02 Uhr):
        > […] SciLogs ist ein Angebot für eine bestimmte Zielgruppe;

        Das findet empfiehlt sich.
        Und es ist beglückend, bis zum eventuellen Beweis des Gegenteils dieser Gruppe anzugehören,
        ja — sie sogar anteilig zu repräsentieren.

        p.s.
        > […] die Ihnen persönlich offenbar sehr wichtigen […] Ausführungen

        Erwischt!

        Sofern sich darin auch bestimmte Bedürfnisse ausdrücken — Wen kümmert’s ?? …

        • Aus meiner Sicht – und das gilt für Spektrum allgemein bei den entsprechenden Themen – sind Sie beim Thema Relativitätstheorien nicht die Zielgruppe. Sie haben bei dem Thema zuviele Vorkenntnisse. Was “Erwischt!” angeht: Kategorienfehler. Einstein hätte nicht dort, wo Populärwissenschaftliches gefragt war, unangebrachterweise mit für sein Publikum unzugänglichen Fachbegriffen geworfen. (Obwohl er diesen “Abschreckungseffekt” offenbar bewusst genutzt hat, als sich in einer regulären Uni-Vorlesung von ihm zu viele physikalisch unbeleckte Schaulustige drängten.)

          • Markus Pössel schrieb (01.11.2022, 23:10 Uhr):
            > […] Zielgruppe […]

            Wir sind wohl noch nicht mal darüber einig, ob damit die Gruppe derjenigen gemeint sein soll, deren Interesse ein gegebenes Angebot tatsächlich trifft;
            oder eine (von ersterer womöglich abweichende) denkbare Gruppe, deren Mitglieder in der Vorstellung des Erstellers des Angebotes vorrangig als dessen Rezipienten in Betracht stünden.

            > […] zuviele Vorkenntnisse […]

            Ginge es schlicht um die Vermittlung bestimmter Kenntnisse, dann wäre jemand, der diese Kenntnisse schon erworben hat, vom bloßen Repitieren doch eher gelangweilt.
            Stattdessen geht es aber offenbar um Uneinigkeit im Ansatz, im Grundsätzlichen; und um die rare, aufregende Gelegenheit, darauf öffentlich und Barriere-frei aufmerksam zu machen.

            > […] wo Populärwissenschaftliches gefragt war […]

            Wo Populärwissenschaftliches unter Ausschluss des Wissenschaftlich-Sachkundig-Kritischen gefragt wäre, hätten wir PopSciLogs.

          • (a) Zielgruppe: Sorry, aber der Begriff ist bei Medien recht allgemein definiert. Wenn Sie hier Ihre Privat-Interpretation dagegenstellen wollen ist das wenig, ähem, zielführend.
            (b) Die zentrale Uneinigkeit im Ansatz, Form und Inhalt Ihrer Kommentare nach zu urteilen, ist, dass Sie es hier für Zielführend halten, Menschen, die ggf. ein eher populärwissenschaftliches Interesse am Thema haben, mit den Formalia der zugrundeliegenden Mathematik zuzuschütten, in zahlreichen Fällen ohne auch nur die Fachbegriffe zu erklären sondern so geschrieben, als müssten die Leser*innen sie bereits kennen. Ich halte das für einen abwegigen und im Kontext absolut unprofessionellen Vermittlungsansatz. Und würde wetten, dass die große Mehrheit der mit Wissenschaftskommunikation beschäftigten das nicht nur genau so sieht, sondern bereits die Frage danach, ob das sinnvoll sein könnte, für absurd.
            (c) “Ausschluss des Wissenschaftlich-Sachkundig-Kritischen” – das ist wieder Ihr persönlicher (und in diesem wie in anderen Fällen ja mir gegenüber durchaus abfälliger) Spin. Es ist viel einfacher, siehe oben. Und an der Stelle scheinen Sie einen kompletten blinden Fleck zu haben.

            Insofern: Sorry, ich habe jetzt insgesamt viel mehr Zeit darauf verwandt, auf Ihre Anwürfe einzugehen als geplant. Auch ich muss meine Zeit einteilen. Ich denke, an dieser Stelle muss ich als Kompromiss einen harten Schnitt machen. Insofern: Sorry, aber Sie sind an dieser Stelle für mich eine zu umfangreiche “Zeitsenke” im Vergleich zu dem moderaten Mehrwert den zumindest einige Kommentare von Ihnen hier liefern. Zumal sich Ihre Einwände ja in letzter Zeit einigermaßen direkt wiederholen, ohne dass ich den Eindruck hätte, Sie würden bei Ihrem zentralen blinden Fleck Fortschritte machen. Insofern: Auch wenn es mit etwas schlechtem Gewissen ist, und ich diese Handlung bislang aus genau dem Grunde vermieden habe, werde ich Ihre entsprechenden Kommentare hier in Zukunft nicht mehr freischalten.

    • Ich verstehe Ihre Frage nicht. An welcher Stelle argumentiere ich Ihrer Ansicht nach nicht wissenschaftlich? (Wobei ein Blogartikel auf den SciLogs ja auch kein Fachartikel ist, sondern eine Mischform?)

  6. Markus Pössel schrieb (02.11.2022, 14:33 Uhr):
    > (a) Zielgruppe: Sorry, aber der Begriff ist bei Medien recht allgemein definiert. […]

    Ganz recht — insbesondere durch Verweis auf den (schon etwas älteren) Begriff Publikum.

    > […] Form und Inhalt Ihrer Kommentare nach zu urteilen, ist, dass Sie es hier für Zielführend halten, Menschen, die ggf. ein eher populärwissenschaftliches Interesse am Thema haben, mit den Formalia der zugrundeliegenden Mathematik zuzuschütten, in zahlreichen Fällen ohne auch nur die Fachbegriffe zu erklären sondern so geschrieben, als müssten die Leser*innen sie bereits kennen.

    Derartige, erst recht wiederholte Anwürfe gegen mich sind völlig deplatziert

    – weil ich erstens die Gewohnheit habe, meine SciLogs-Kommentare jeweils an (nach bestem Gewissen sorfältige) Zitate von schon bereitgestellten Formulierungen und Begriffen anzulehnen,

    – ich zweitens etwaige weiterführende Begriffe und mathematische Darstellungen so weit wie im Rahmen der dokumentierten maximalen Anzahl von Links in SciLogs-Kommentaren möglich mit Verweisen auf Wikipedia bzw. auf Originalquellen unterlegt habe, und

    – vor allem stets versucht habe, auf jegliche sachliche Nachfragen einzugehen.

    > Ich halte das für einen abwegigen und im Kontext absolut unprofessionellen Vermittlungsansatz. […]

    Das kann und werde ich ertragen. Es ist und bleibt trotzdem der Ansatz meiner Wahl in der Gestaltung meiner SciLogs-Kommentare.

    > (b) Die zentrale Uneinigkeit […]

    … besteht darin (um das vermeintlich Offensichtliche sicherheitshalber erneut öffentlich auffindbar in Worte zu fassen):

    entweder Leser, und vor allem sich selbst, mit gar nicht, oder nur zirkulär erklärten Worten wie “Länge”, “Gleichmäßigkeit”, “freies Teilchen” usw. zuzuschütten und abzuwimmeln (wie in der SciLog-Reihe “Einstein verstehen” vorgeführt ist),

    oder stattdessen zu fragen und ggf. ausdrücklich zu zeigen, wie solche (durchaus nützliche) Begriffe der Geometrie bzw. Kinematik konkret auf Koinzidenz-Bestimmungen hinauslaufen (wie es Einstein mal gefordert hat, aber von etlichen vermeintlichen Exponenten der Relativitätstheorie unbeachtet ist).

    > […] werde ich Ihre entsprechenden Kommentare hier in Zukunft nicht mehr freischalten.

    In Erwartung der Umsetzung dieses Vorhabens habe ich diesen Kommentar auch dort eingereicht.

    • OK, keinerlei Einsicht was meine Einwände angeht, sondern eher ein trotziges weiter-so. Dann sind wir wohl bei einem endgültigen “agree to disagree” angelangt. Habe mal geschaut, wo Sie Ihren Kommentar wie angekündigt noch eingereicht haben; dass ihr letzter dort sichtbar eingereichter Kommentar in jenem Dueck-Blogbeitrag von 2020 direkt von einem Spam-Kommentar zu einem Computerspiel und von Werbung für gefälschte Führerscheine gefolgt wird, bestätigt mich jedenfalls in meinem Vorgehen, hier auf “Relativ einfach” aktiv zu versuchen, die Kommentarspalte für mein Zielpublikum durch Moderation lesenswert zu halten. Damit danke für diejenigen Stellen, an denen Ihre Kommentare hier auf “Relativ einfach” zum Thema beigetragen haben, und Tschüß!

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