Wie ein Hirnscan das Leben verändern kann
BLOG: MENSCHEN-BILDER
Was wäre, wenn Sie an einem Experiment teilnähmen und plötzlich hieße es, mit Ihrem Gehirn stimmte etwas nicht? Tatsächlich wurde in der Nature vom März 2005 ein Leserbrief mit der Überschrift „How volunteering for an MRI scan changed my life“ abgedruckt. Dort berichtet ein Wissenschaftler davon, wie er an seinem eigenen Institut an einem Experiment im Hirnscanner teilnahm – und danach vom Direktor darauf hingewiesen wurde, mit seinem Gehirn sei etwas nicht in Ordnung. Auf der Aufnahme erkannte der Forscher – selbst ein Neurowissenschaftler von Beruf – einen Tumor „von der Größe eines Golfballs“ (Anonym, 2005: 17).
Nach den Hirnscans informierte mich der Direktor, dass man bei meinen Aufnahmen etwas abnormales festgestellt hat. Mit großer Angst schaute ich mir die Bilder an und erkannte sofort einen Tumor, der in etwa die Größe eines Golfballs hatte.
Wie man sich unschwer vorstellen kann, war es ein Schock für den Mann, der auch noch kurz davor stand, Vater zu werden. Die nötige Operation würde in fünf Prozent der Fälle zu Komplikationen führen, erklärte ihm ein Neurochirurg. Zur selben Zeit wollten der Forscher und seine Frau eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen. Er gab den Tumor in den Unterlagen an – und das kostete ihn die Versicherung. Ganz zu recht beschwert er sich in dem Leserbrief darüber, man habe ihn vor dem Scan nicht auf die möglichen medizinischen und versicherungsrechtlichen Konsequenzen hingewiesen.
Ich hatte meinen ersten Zufallsfund im Frühjahr dieses Jahres. Eine junge Frau nahm an meinem MRT-Experiment teil. Auf den strukturellen Bildern, welche die Hirnanatomie abbilden, sah ich nichts Auffälliges; aber auf den funktionellen Aufnahmen, in denen die Durchblutung gemessen wird, da sah ich einen ganz deutlichen schwarzen Klecks, wo noch nie vorher bei einer Versuchsperson ein Klecks zu sehen gewesen war (Beispielsweise ist es in den Flüssigkeitsräumen im Gehirn, den Ventrikeln, ganz natürlich, dass sie schwarz sind, weil dort eben kein Blut fließt). Was tun? Am Ende meines Studiums habe ich zwar einige medizinethische Hauptseminare besucht aber auf diesen Ernstfall hat mich das Räsonieren über Prinzipien nicht vorbereitet.
Zum Glück haben wir ein eindeutiges Protokoll in unserer Gruppe, was in einem solchen Fall zu tun ist; und die Versuchspersonen werden im Voraus unmissverständlich auf das Risiko von Zufallsfunden hingewiesen und müssen darin einwilligen, dass wir sie darüber informieren dürfen. Wie vorgesehen hat sich mein Chef, ein erfahrener Neurologe und Psychiater, gleich um den Fall gekümmert. Ein Neuroradiologe aus dem Haus hat sich unsere Aufnahmen angeschaut und einen klinischen Hirnscan angeordnet – die junge Dame wurde binnen kürzester Zeit genauestens untersucht und man diagnostizierte ein Cavernom. Das ist ein Blutgefäß, das schlimmstenfalls reißen und dann andere Hirnbereiche in Mitleidenschaft ziehen kann. Das ist sehr ernst zu nehmen (siehe Abbildung; nachgestellt).
Auch wenn es viele rationale Gründe gibt, warum das Problem der Zufallsfunde tatsächlich eine Chance für die Personen sein kann – die Chance, eine Erkrankung zu erkennen, bevor es zu einem größeren Schaden kommen kann –, fühlte ich mich doch schuldig. Hatte ich nicht ein Urteil über sie vollstreckt? Natürlich, sie wurde auf das Risiko hingewiesen und nahm es bewusst in Kauf; aber bevor so etwas passiert, wer rechnet schon damit?
Inzwischen denke ich, unter objektiven Gesichtspunkten ist der Fall gut verlaufen. Dafür war aber die ärztliche Kompetenz und die Voraussicht, an das Problem zu denken, bevor es wirklich passiert, unerlässlich. Was hätte ich aber ohne die Hilfe eines Arztes tun sollen? Nicht jede Forschungsgruppe ist an einer Universitätsklinik angesiedelt; nicht alle Forscher kommen in den Luxus, gleich mehrere Ärzte vor Ort zu haben, die im Ernstfall einschreiten und die Verantwortung übernehmen können. Ich bin jedenfalls fest entschlossen, an einem Institut, an dem es für diese Situationen keine Ärzte gibt, keine bildgebende Hirnforschung zu machen.
Erstaunlich ist, dass sich bisher im deutschsprachigen Raum nur wenige Ethiker mit dem Thema beschäftigt haben. Ich erinnere mich, auf einer öffentlichen Tagung Ende 2005 das Problem der Zufallsfunde in einer Diskussionsrunde angesprochen zu haben. Ein Privatdozent der Medizin tat meinen Beitrag mit dem lapidaren Einwand ab, natürlich stehe auch ein Hirnforscher unter der ärztlichen Schweigepflicht. Damit war das Thema wieder vom Tisch. Meines Erachtens hätte das Ausmaß der relevanten Aspekte kaum mehr verkannt werden können.
Im nächsten Teil werde ich etwas detaillierter auf ethische Literatur zum Thema eingehen und diskutieren, welche Lösung sich unter den gegeben Umständen anbietet.
Anonym (2005). How volunteering for an MRI scan changed my life. Nature 434: 17.
Fortsetzung
“Im nächsten Teil werde ich etwas detaillierter auf ethische Literatur zum Thema eingehen und diskutieren, welche Lösung sich unter den gegeben Umständen anbietet.”
Auf diesen Beitrag gibt es bisher noch keine Reaktionen, aber ich bitte um eine Fortsetzung. Bei so ernsten Themen weiß man oft nicht, was man da schreiben soll. Da liest man lieber nur still mit.
Noch etwas Geduld
Lieber Herr Isegrim,
ich habe auch lange mit mir gerungen, diesen Einblick aus dem Forschungsalltag zu veröffentlichen; und vorher noch mit ein paar Kollegen Rücksprache gehalten.
Der zweite Teil wird noch ein paar Tage dauern; nun muss ich erst einmal nach Berlin; Sie wissen ja, der Dienst…
Danke übrigens für die Reisewünsche.
Viele Grüße
Stephan Schleim
Keine Eile
Keine Eile, Herr Schleim, hier gibt es ja sonst noch viele gute Sachen zu lesen. Ich wollte nur ein kurzes Feedback geben, daß dieses Thema sehr wohl auf Interesse stößt.
Generell finde ich die Mischung der verschiedenen Autoren hier auf den Seiten gelungen. Das ist alles sehr abwechslungsreich.
Das Problem mit dem Kleingedruckten
Lieber Herr Schleim,
auch ich finde es sehr gut, dass Sie dieses heikle Thema angesprochen haben.Es würde mich interessieren, ob die Versuchsteilnehmer vorher nur schriftlich über das “Risiko” eines Zufallsbefunds aufgeklärt werden (in Form einer Klausel)oder ob das im Rahmen eines ausführlichen Vorgesprächs geschieht. Generell werden im “Kleingedruckten” von “Verträgen” die wirklichen Konsequenzen im Fall des Falles ja äußerst selten präzisiert. Und der Hinweis “Sie hätten ja nachfragen können, wenn Ihnen das nicht klar war” entschuldigt das m.E. keinesfalls.Als Proband wie als Patient würde ich mir wünschen, dass ich nur von Zufallsbefunden erfahre, die A. eindeutigen Krankheitswert haben und – falls A. zutrifft – B. überhaupt eine erfolgversprechende Behandlung existiert. Vermutlich sehe ich das viel zu naiv – daher bin ich gespannt auf die Fortsetzung!
Kleingedrucktes großgedruckt
Liebe Frau Gaschler,
die Versuchspersonen werden bei uns ausdrücklich über das Risiko von Zufallsfunden informiert und müssen in unser Prozedere, das wir im Einklang mit der Ethikkommission vorsehen, einwilligen — andernfalls schließen wir sie von der Messung aus.
Ihre Optionen “A” und “B” wären sicher für eine ideale Welt von Bedeutung aber leider ist es im Forschungsalltag eben so, dass man einem Hirnscan erst einmal nicht so leicht ansieht, ob er von Krankheitswert ist, das in Zukunft sein könnte oder nur eine Normvariation — jedes Gehirn sieht anders aus. Es kostet einen Neuroradiologen Jahre der Erfahrung, ein gutes Auge dafür zu bekommen und selbst diese Experten müssen dafür oft zusätzliche Untersuchungen machen, die nicht zum Standard einer experimentellen Prozedur gehören oder auch gehören können.
Da “A” schon schwierig ist, ist “B” beinahe unmöglich zu bewerkstelligen. Dafür müsste man quasi ohne das Wissen einer Versuchsperson weitere, diagnostische Hirnscans durchführen, die speziell dafür vorgesehen, bestimmte Veränderungen sichtbar zu machen.
Tatsächlich hat sich der zweite Teil der Serie durch meine Dienstreise erheblich verzögert; damit soll nun aber schluss sein.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Stephan Schleim
Können Sie das Leben Verändern
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