Tintenfisch statt Sprotten – Gewinner des Klimawandels

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Von Korallenriffen bis zum Zirkumpolarstrom
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Das Aussterben von Arten ist den meisten kein fremdes Thema mehr. Ebenso wenig der Kampf darum, neu entdeckte Arten vor ihrem Aussterben mindestens zu benennen und zu beschreiben. Die Medien sind voll von Trauermeldungen über verschiedenste marine Arten – vor allem solcher, die wir nutzen. Zumindest dann, wenn nicht gerade Covid-19 das einzige Thema ist.

Die Verkleinerung der Bestände verschiedenster Fischarten durch Überfischung hinterlässt ihre Spuren nicht nur auf den Fischmärkten, sondern auch in marinen Nahrungsnetzen. Dafür können jetzt Arten, die früher einem massiven Beutedruck ausgesetzt waren, in größerer Zahl überleben. Denn wir haben ihre Räuber aus den Meeren heraus gefischt. Zusätzlich sorgen die höheren Wassertemperaturen in vielen Meeren für eine Ausweitung des Lebensraums wärmeliebender Arten. Daher gibt es durch die menschgemachten Veränderungen der Meere nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner, unter anderem Tintenfische, sowohl zehnarmige (z. B. Kalmare und Sepien) als auch achtarmige (z. B. Kraken).

Octopus oculifer auf Futtersuche vor Isabela, Galapagos
Octopus oculifer auf Futtersuche vor Isabela, Galapagos

Ausbreitung der Tintenfische

Die Zahl der Tintenfische hat weltweit in den vergangenen sechs Jahrzehnten zugenommen. Das belegen Zahlen sowohl aus kommerziellem Fischfang von Zielarten und Beifang, als auch aus wissenschaftlichen Fängen. Einerseits nahm die Zahl der Tintenfischen in ihren jeweils angestammten Gebieten zu. Andererseits die Ausdehnung dieser Gebiete. Letzteres trifft auf verschiedene Gruppen von Tintenfische zu: solchen, die ihr gesamtes Leben von Ei bis Tod auf oder im Meeresboden verbringen (benthische Arten). Jene, die als Eier und Adulte auf oder im Meeresboden leben, sich als Paralarven aber in der freien Wassersäule aufhalten (benthopelagische Arten). Und auch die, die ihre gesamtes Leben frei schwimmend verbringen (pelagische Arten).

Offensichtlich unterscheiden sich die Fähigkeiten dieser drei Gruppen stark, was die Wanderung und damit Ausdehnung des Lebensraums angeht. Benthische Arten haben eine sehr eingeschränkte Verbreitungsfähigkeit von nur wenigen Kilometern. Die benthopelagischen Arten bewohnen zwar so wie die benthischen Arten Schelfgewässer, können sich aber als Paralarven immerhin über Hunderte von Kilometern entlang des Schelfs verbreiten. Nur die pelagischen Arten bewohnen die offenen Meere und können sich sowohl als Paralaven als auch als  Adulte über Tausende von Kilometern verbreiten. Dieser Unterschied macht es umso erstaunlicher, dass sich die Gebiete aller drei Gruppen vergrößern.

Sepia im Roten Meer
Sepia  tarnt sich über Korallensandboden im Roten Meer

Populationsanstieg dank Wärme und Überfischung

Dass sich alle Gruppen ausdehnen legt nahe, dass die Vermehrung der Tintenfischpopulationen durch Prozesse getrieben wird, die vielen marinen Lebensräume in quasi allen Ozeanen gemeinsam ist. So wie die Erwärmung der Meere.

Außerdem müssen diese Veränderungen nicht nur in allen Ozeanen auftreten, sondern auch auf biologische Eigenschaften wirken, die allen Tintenfischgruppen gemeinsam sind. Cephalopoden – nicht nur, aber auch Tintenfische – reagieren schnell und stark auf veränderte Umweltbedingungen. Erwärmung, solange sie nicht zu stark ist und der optimale Temperaturbereich der Tiere nicht überschritten wird, beschleunigt den Lebenszyklus der Tintenfische. Natürlich muss für die schnellere Entwicklung und Geschlechtsreifung genug Nahrung vorhanden sein. In wärmerem Wasser können viele Tintenfischarten also früher Nachwuchs bekommen, wodurch die Generationen sich verkürzen.

Zusätzlich dürften sie von der Überfischung vieler Raubfische profitieren. Denn dadurch sinkt die Zahl der Fressfeinde gleichermaßen wie die der Futterkonkurrenten. Beides kann wieder die Vermehrung der Tintenfische begünstigen. Das ist nicht bewiesen, aber diese Hypothese wird durch einige lokale Studien untermauert, die eine Zunahme der Cephalopoden dort zeigten, wo sich lokale Fischpopulationen verkleinert haben oder verschwunden sind. Solange allerdings keine schlüssigen Beweise von Ursache und Wirkung vorliegen, müssen wir mit den Rückschlüssen vorsichtig sein. Denn viele Umweltfaktoren könnten potenziell einen Vorteil für Cehalopoden gegenüber länger lebenden, langsamer wachsenden Meeresbewohnern darstellen. Dazu gehören z.B. auch veränderte Strömungssysteme und Klimazyklen, häufigere Extremwetterereignisse und Überdüngung.

Umzug gen Norden

Ein konkretes Beispiel für die Ausbreitung und stärkere Vermehrung von Cephalopoden sind zehnarmige Tintenfische der Gattung Illex. Bisher kannten wir sie überwiegend aus subtropischen Gewässern, in denen sie sich vermehren. Allerdings unternehmen sie auch weite Wanderungen in gemäßigte und sogar subpolare Gewässer, wo aber keine Vermehrung stattfindet. Oder zumindest bisher nicht stattfand. So konnte Illex coindetii, der sich im warmen Ost-Atlantik vor Afrika und Spanien vermehrt, auch hin und wieder im Ärmelkanal und sogar in der Nordsee angetroffen werden, quasi auf Schlemmerreise. Aber vermehrt hat er sich dort in der Vergangenheit nicht.

Schwimmender Illex illecebrosus
Schwimmender Illex illecebrosus; Danke für das Foto an Offiziere, Crew, ROV Operatoren und wissenschaftliches Team der NOAA R/V OKEANOS EXPLORER

Illex-Arten vermehren sich oft zweimal im Jahr, im Spätsommer (3. Quartal) und im Winter oder Vorfrühling (1. Quartal). Zu diesen Jahreszeiten wurden bei wissenschaftlichen Grundschleppnetz-Untersuchungen vor 2003 keine Illex coindetii Individuen in der Nordsee gefunden. Von 2007 bis 2010 tauchten sie dann regelmäßig in kleiner Zahl auf und von da an bis heute ist die Anzahl massiv gestiegen. Im Sommer 2016 wurden dann erstmals befruchtete Weibchen in der zentralen und südlichen Nordsee beobachtet. Und zwar etliche, nicht nur ein paar. Im Winter dagegen keine. Das macht in der doch relativen kalten Nordsee auch Sinn. Zumindest, wenn die Entwicklung der I. coindetii Eier ähnlichen Rahmenbedingungen unterliegt wie die der nahe verwandten Art I. illecebrosus. Bei Temperaturen unter 12 °C entwickeln sich die Eier nicht vollständig und unter 7 °C gar nicht. Somit wäre keine Reifung bei Winter-Eiern in der Nordsee möglich. Im Sommer dagegen schon.

Tintenfisch á la Carte

Aber was für eine Rolle spielt es, ob es mehr oder weniger Tintenfische generell und Illex coindetii im Speziellen gibt? Die ökologischen und auch sozio-ökonomischen Auswirkungen, die mit der Zunahme der Tintenfischbiomasse einhergehen, dürften komplex sein. Tintenfische sind gefräßige und anpassungsfähige Zeitgenossen. Illex coindetii ist ein opportunistischer Räuber, der andere Cephalopoden, Fische und Krebstiere frisst. Je größer das Tier selbst wird, umso wichtiger werden Fisch und Cephalopoden im Speiseplan, während kleinere Tiere eher Krebse und Krabben bevorzugen. Die Beutefische des I. coindetii gehören zu vielen Arten, u.a. zu einigen, die wir auch gerne auf unseren eigenen Tellern sehen. Wie die Sprotte (Sprattus sprattus) und einige kleine Dorscharten der Gattung Trisopterus. Unter den erbeuteten Cephalopoden ist auch die Zwergsepia Sepiola atlantica, dir vor allem in Nordeuropa gegessen wird. Andererseits könnten das Mehr an Tintenfischen aber auch ein Vorteil für Raubfische sein. Denn viele Raubfische lassen sich nur allzu gerne Tintenfisch schmecken. Genauso wie wir.  

Kraken versteckt sich in Korallenhöhle
Kraken versteckt sich in Korallenhöhle im Roten Meer

Weniger ist mehr, mehr ist weniger…oder?

Was wird also eintreffen? Weniger Fisch wegen Tintenfisch, oder mehr Fisch wegen Tintenfisch? Die Dynamik von Tintenfischpopulationen ist leider extrem schwierig vorherzusagen. Ganz davon abgesehen wirken sich auch unseren heutigen und zukünftigen Aktivitäten weiter auf die Tintenfische aus und ein schädlicher Effekt auf zukünftige Tintenfischpopulationen ist nicht auszuschließen. Denn beispielsweise scheint sich die Versauerung der Meere negativ auf das Überleben von Tintenfischen auszuwirken. Außerdem nimmt der Fang von Tintenfischen immer mehr zu, zumal ja dank Überfischung die bisher ertragreichen Fischarten kaum mehr zu finden sind. Tatsächlich hat die Tintenfischfischerei in den letzten Jahren ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht und die ersten Gebiete zeigen bereits Anzeichen der übermäßigen Ausbeutung – also der Überfischung.  

 

 

Quellen:

  1. A. Doubleday et al 2016; Global proliferation of cephalopods ; Current Biology 26
  2. Oesterwind et al 2020; First evidence of a new spawning stock of Illex coindetii in the North Sea (NE-Atlantic); Fisheries Research 221

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Ich bin promovierte Biologin, Taucherin und generelle Meeresenthusiastin. Geboren an der Nordsee studierte ich Biologie im Binnenland, ursprünglich um Wissenschaftsjournalistin zu werden. Nach einem über 20jährigen Umweg - der unter anderem eine Promotion in Neurobiologie, einen Postdoc im Bereich Krebsforschung zwischen Mittel-, Rotem und Totem Meer, ein Jahr als wissenschaftliche Reiseleiterin auf den Galapagos-Inseln, 15 Jahren als Trainerin und Consultant in der Telekommunikationstechnik, Reisen nach Kiribati, Fidschi und in über 40 andere Ländern enthielt - schließt sich der Kreis: Artikel in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen sowie ein erstes Buch (Klimawandel hautnah, Springer 2018) bringen mich langsam zurück zu den Wurzeln, zum Wissenschaftsjournalismus.

3 Kommentare

  1. Hallo Gabriele (hoffe “du” ist ok),

    gibt es auch Untersuchungen zur ökologischen Entwicklung bei den Humboldt-Kalmaren? Weisst du dazu was oder hast du da Literaturstellen?

    • Hallo Bob,
      es gibt tatsächlich einige Untersuchung zu dieser Art. Zusammengefasst (und dabei wahrscheinlich auch übermäßig vereinfacht):
      – die klimawandelbedingt Veränderungen sorgen im südlichen und tropischen Ostpazifik für ein Abschwächen der Auftriebszonen, in denen es besonders viel Biomasse und damit auch Futter für die Humboldt-Kalmare gibt. Geringere Auftriebszonen = weniger Futter = Verkleinerung der angestammten Lebensräume des Kalmars, weil er dort nicht mehr genug Beute findet.
      – klimawandelbbedingte “Todeszonen” (Sauerstoffmangelgebiete) machen zwar dem Humboldt-Kalmar an sich wenig aus (er ist das unglaublich tolerant), aber seine Beute (überwiegend Laternenfische) nicht. Daher meidet er diese neuen Todeszonen, weil er auch dort nicht genug Futter findet.
      – klimawandelbedingt wird das Wasser wärmer, wo es vorher kühler war, also grob gesagt: polwärts. Wie sich I. coindetii vom Ostatlantik vor Nordafrika und Spanien bis in die Nordsee ausbreitet, breitet sich der Humboldt-Kalmar auch z.B. nach Norden aus. Zum Fressen kann er sogar bis vor Alaska ziehen, aber ob er sich nördlich von Baja California in Mexiko vermehrt, kann ich nicht sagen. Wundern würde es mich jedenfalls nicht, wenn er anfängt sich auch immer weiter nördlich zu vermehren.

      Unten sind noch Refenerenzen zu einigen Arbeiten, die sich speziell mit dem Lebensraums des Humboldt-Kalmars befassen.
      Viele Spaß beim Lesen!
      Gabriele
      Einige Paper, die zu dem Thema interessant sein könnten:
      – T. H. Frawley et al: Impacts of a shift to a warm-water regime in the Gulf ofCalifornia on jumbo squid (Dosidicus gigas); ICES Journal of Marine Science (2019), doi:10.1093/icesjms/fsz133
      – J. S. STEWART et al: Combined climate- and prey-mediated range expansion ofHumboldt squid (Dosidicus gigas), a large marinepredator in the California Current System; Global Change Biology (2014), doi: 10.1111/gcb.12502
      W. Ju et al: Combined climate- and prey-mediated range expansion ofHumboldt squid (Dosidicus gigas), a large marinepredator in the California Current System; Fisheries Research 204 (2018), doi: 10.1016/j.fishres.2018.02.016
      – J. E. Ramos et al: Characterization of the northernmost spawning habitat of Dosidicus gigas with implications for its northwards range extension; MEPS 572:179-192 (2017), DOI: 10.3354/meps12140

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