Superhirn? Tintenfische reagieren mit Mustern auf Muster
BLOG: MeerWissen
In zwölf Metern Tiefe
Vor uns liegt eine weite Sandfläche mit etlichen Korallenbruchstücke übersät, etwa 12 m unter der Meeresoberfläche im Roten Meer. Einer dieser Korallenblöcke hat Augen. Es ist nämlich gar keine tote Koralle, sondern eine Sepia, auch bekannt als zehnarmiger Tintenfisch (Sepia spec), die sich tarnt und mit Sand beworfen hat. Zunächst bleibt sie bei ihrer fleckigen Färbung. Erst als wir nicht vorbeischwimmen, sondern sie angucken, entscheidet sie sich für Flucht. Sie hebt vom Boden ab, wird weiß und schwimmt – acht ihrer zehn Arme vor sich gestreckt – von uns weg. Über dem weißen Sandboden ist sie fast unsichtbar, nur ihr Schatten auf dem Grund verrät sie. Wir folgen, sie flieht und stoppt dann ganz plötzlich. Fast kann man das Quietschen ihrer Bremsen hören. Der Grund für ihren plötzlichen Halt: Eine Seeanemone, bevölkert von orange-weißen Anemonen- und schwarz-weißen Preußenfischen.
Kleine Fische wie diese Anemonenbewohner gehören generell zur Beute der Tintenfische. Wahrscheinlich deshalb sind wir Taucher vergessen, während die Sepia nur noch Augen für die kleine Fische hat. Alle sind auf sie ausgerichtet, schauen sie an, über oder knapp vor ihrer Anemone im Wasser stehend. High Noon am Meeresgrund (wenn auch ohne die Klänge von „Spiel mir das Lied vom Tod“), mit erhobenen Mittelarmen in Drohhaltung und -färbung.
Meister der Tarnung
Tintenfische – egal ob zehn- oder achtarmige – sind Meister der Veränderung. Sie wechseln sowohl Farbe als auch Struktur ihrer Körperoberfläche je nach Situation. Über ihre Körperoberfläche „sprechen“ sie: balzen, drohen, tarnen. In letzterem Fall kopieren sie nicht ihre Umgebung, sondern generieren Muster, die dieser ähnlich sind und ihre Konturen vor dem Hintergrund auflösen.
Um die Farbe zu ändern, dehnen sie Pigmentzellen namens Chromatophore durch die Kontraktion von Muskelfasern. Dadurch entstehen gelbe, rote und braune Flecken auf ihrer Haut. Bei Erschlaffung der Muskelfasern ziehen sich die Chromatophore wieder zusammen und das Tier wird fast weiß. Gesteuert werden die Muskelfasern durch Motoneurone und damit letztendlich das Gehirn, das die gesehene Umgebung direkt in Hautfarbe und -struktur umsetzt.
Wer kontrolliert die Tarnung?
Die Regeln dieser neuronalen Kontrolle von Hautfarbe und -struktur sind bisher weitestgehend unbekannt. Wir wissen, dass jedes Chromatophor durch mehrere Motoneuron gesteuert wird und jedes Motoneuron mehrere Chromatophoren steuert. Wir wissen auch, dass der Kopffüßer einen Supercomputer statt eines Ganglienkomplexes zur Informationsverarbeitung bräuchte, wenn er jedes Chromatophore aufgrund des momentanen optischen Inputs einzeln ansteuern würde. Da er das nicht hat, muss es ein hierarchisches Kontorollsystem geben. Wie dieses jedoch aussieht, ist nicht zuletzt wegen der Herausforderung, Tausende oder gar Millionen kleiner Chromatophoren in der Haut eines weichen, sich bewegenden und reagierenden Tieres zu verfolgen, bisher unbekannt geblieben.
Um anzufangen, diese bislang hypothetische Kontrollhierarchie zu verstehen und ihre Existenz überhaupt erst zu belegen, kann die Farbvariation in Reaktion auf Reize genutzt werden. Denn aufgrund dessen, was wir über die Mechanismen des Farbwechsels bei Kopffüßern wissen, können wir die Dehnung der Chromatophoren als Proxy für die Aktivität der Motoneuron ansehen. Somit kann uns die Analyse der Variation aller Chromatophorenzustände verraten, ob es diese Kontrollhierarchie gibt.
Sechs Sepien und 1.178.146 analysierte Bildrahmen
Genau das haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Gilles Laurent vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt (Main) gemacht. Mit 20 Videokameras haben sie Sepien mit 60 Aufnahmen pro Sekunde über den Verlauf ihrer Entwicklung vor unterschiedlichsten Hintergrundbildern gefilmt. Mittels komplexer Bildanalysen haben sie herausgefunden, dass die Tiere reproduzierbare Farbmuster generieren. Das heißt, dass bei dem gleichen visuellen Reiz immer die gleichen Chromatophoren in gleicher Abfolge aktiviert wurden.
Chromatophorengruppen werden aufgrund des Reizes in vordefinierter Abfolge aktiviert. Jedes Mal wieder, wenn dieser Reiz wirkt.
Diese reproduzierbaren Muster legen nahe, dass es neurobiologische Abkürzungen vom visuellen Input der Augen zu den Motoneuron gibt. Die Muster werden abgerufen und nicht bei jedem Reiz neu berechnet. Wie diese Muster allerdings erstmal generiert, gespeichert und abgerufen werden, ist weiterhin unbekannt.
Diese Abkürzung in der Datenverarbeitung und Informationsumsetzung zu verstehen, wären nicht nur für Biologen interessant. Sie könnten auch bedeutende Impulse für den Bau künstlicher neuronaler Netze setzen.
Gelb ist jung, braun ist alt
Neben dieser Haupterkenntnis zur Kontrolle der Chromatophoren hat das Forschungsteam noch ein weitere Rätsel um Sepien lüften können. Bisher war nur bekannt, dass es gelbe, rote und braune Chromatophoren gibt. Da die Studie die Entwicklung von Jungtieren beobachtet hat, wissen wir nun, dass die Farbe eines Chromatophors von seinem Alter abhängt. Neue Chromatophoren sind hellgelb, dann werden sie langsam rot und dunkeln weiter zu braun. Wie lange diese Farbänderung dauert, hängt vom Alter der Sepia ab. In einem neu geschlüpften Tintenfisch dauert es von hellgelb bis braun nur etwa 19 Tage, in einem adulten Tier gut drei Monate.
Die Einfarbigkeit innerhalb einer motorischen Einheit – also ein Motoneuron und alle von ihm innervierten Chromatophore – hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ein neues Motoneuron ausschließlich neu gebildete Chromatophoren innerviert. Das hieße aber, dass sich die gespeicherten Reaktionsmuster ändern müssen, wenn die motorischen Einheiten von gelb zu orange und später zu braun wechseln. Das ist aber nicht der Fall, die Muster bleiben gleich.
Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass während des Farbwechsels eine Neu-Innervierung stattfindet, also neue motorische Einheiten gebildet werden. Indiz, dass es tatsächlich so ist, kommt ebenfalls aus der Studie von Laurents Team: die roten motorischen Einheiten sind kleiner in ihrer Ausdehnung und Größenvariabilität als die gelben und braunen. Das wäre zu erwarten, wenn bisherigen Synapsen gelöst und neue gebildet werden – die rote Phase also ein Art Übergangszeit darstellt.
Noch immer wissen wir nicht, wie die neuronale Kontrolle der Haut dieser Verwandlungskünstler im Detail funktioniert. Wir wissen jetzt aber, dass die Tiere keine Superhirne sind, sondern sich aus einer Musterdatenbank bedienen. Nur – wie und wann wird dise angelegt?
@Kerber
Dass als Reaktion auf einen neuen Reiz eine bestimmte Reaktion durch sofortiges RE-AKTIVIEREN vorhandenen Wissens erfolgt – ist eine Überlebensfunktion (damit ist eine schnelle Reaktion – ohne Aufwand – möglich). Dieser Mechanismus ist vergleichbar – wie wenn wir einen [LINK] im Internet anclicken: dann ist die ganze darin vernetzte Information sofort verfügbar.
RE-AKTIVIERUNG vorhandenen Wissens (Farbmuster) ist schnell und ermöglicht eine deutliche Abkürzung/Vereinfachung von Datenverarbeitung und Informationsumsetzung.
Beim Menschen arbeitet das Gehirn auf gleiche Weise:
A) als erste Reaktion auf einen Reiz erfolgt das RE-AKTIVIEREN passenden/vergleichbaren Wissens durch einen [LINK]. So ist eine schnellste Reaktion möglich
B) ist kein optimal passendes Wissen vorhanden – dann sucht das Gehirn systematisch in seinem Gedächtnis nach alternativen Handlungsmöglichkeiten. Dieser Vorgang ist etwas aufwendiger und kann länger dauern.
Prof. Kahnemann hat diese unterschiedlichen Arbeitsweisen als ´thinking fast and slow´ beschrieben.
Denken – ob beim Menschen oder beim Tintenfisch – lässt sich als Ergebnis einer Mustervergleichsaktivität mit drei einfachen Regeln beschreiben. Per Google-suche [Kinseher NDERF denken_nte] finden Sie meine PDF mit einem Erklärungsmodell für das Phänomen ´Nahtod-Erfahrung´(NTE). (Bei einer NTE wird die Arbeitsweise des Gehirns der bewussten Wahrnehmung zugänglich.) Auf Seite 4 der PDF finden Sie DENKEN / KREATIVITÄT als Ergebnis von Mustervergleich in 3 Regeln beschrieben.
Wie die Musterdatenbank der Sepia angelegt wird – kann man mit diesen Regeln nicht erklären. Aber zumindest kann man verstehen, wie damit gearbeitet wird.
“Über ihre Körperoberfläche “sprechen” sie…”
Machen das nicht viele Tiere ? Ihre “Körpersprache ” signalisiert Drohgebären, Aggressivität, Unterwürfigkeit, Flucht, Kampf etc. (Siehe beim Hund ) .Auch der Mensch teilt seinen Artgenossen über seine Körpersprache seine psychische und physische Verfassung mit. Mimik ist auch eine Körpersprache die oft mehr erzählt als alle Wörter.
Evolutionär gesehen scheint Körpersprache im Flucht-und Kampfsystem ,also der Arterhaltung, eine wichtige Funktion gehabt zu haben: Der Körper, also der Organismus, passt sich der Umwelt an, um zu überleben. Haben sich die Gehirne nicht zu diesem Zweck entwickelt ?
Ich stimme Ihnen zu, dass Körpersprache ein wichtiger Aspekt aller Kommunikation ist. Nur nutzen wir Menschen und die meisten anderen Tiere dafür nicht die Farbe und Struktur ihrer Haut, sondern in erster Linie die Stellung der einzelnen Gliedmaßen und Muskeln. Somit besteht hier schon ein riesiger Unterschied zu den Tintenfischen, die beides nutzen.
@ Gabriele Kerber
Wie heißt denn das die Chromatophoren steuernde Neuron wirklich : Motorneuron (Bewegerneuron) oder Motoneuron ? Beide Schreibweisen haben Sie verwendet.
Es heißt Motoneuron, da habe ich mich wohl vertippt. Entschuldigung!
Sie schrieben die Chromatophoren seien Zellen.
Ist es nicht eher so, dass die Chromatophoren von Cephalopoden so etwas wie kleine neuromuskuläre Organe und keine einzelnen Zellen sind?
Wobei jedes „Chromatophor-Organ“ so etwas wie ein motorisches System ist, das aus einem dehnbaren Sacculus, der das Pigment enthält, besteht, sowie aus mehreren gestreiften Muskeln, die daran ansetzen?
Jeder einzelne dieser Muskeln soll, so wie ich das verstanden habe, von einzelnen Nerven bzw. Neuronen innerviert werden, die auch noch eine eigene Matrix von assoziierten Gliazellen haben.
Bei Eingang eines EPSP an der neuromuscular junction, welches ausreichend für eine Depolarisation ist, kontrahieren die Muskeln dann und dehnen den Sacculus mit dem Pigment darin, woraus sich dann für den Beobachter der Farbeindruck ergibt.
Nicht böse sein. Vielleicht zähle ich hier auch nur Erbsen, ich bin eigentlich Immunologe, und kein Tierphysiologe, so wie Sie, finde das Thema aber sehr spannend.
@Gabriele Kerber
Neben den Chromatophoren haben Sepien doch auch noch Iridophoren und Leukophoren. Welche Rolle spielen die denn beim Farbwechsel?